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Dresdner Forscher entschlüsseln das Universum - nicht im All, sondern tief unter der Erde

Forscher der TU Dresden sind seit über 20 Jahren Teil der aufregenden Mission am Teilchenbeschleuniger des CERN in Genf.

Von Jana Mundus
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Das riesige Messgerät Atlas beobachtet am CERN die Kollisionen der Teilchen im Beschleuniger. Forscher der TU Dresden kümmern sich um den Detektor.
Das riesige Messgerät Atlas beobachtet am CERN die Kollisionen der Teilchen im Beschleuniger. Forscher der TU Dresden kümmern sich um den Detektor. © CERN

Die Suche nach dem Unbekannten passiert tief unter der Erde. In der Nähe von Genf verbirgt sich unterirdisch eine Welt, in der die allerkleinsten Dinge die größten Fragen beantworten sollen. Vor 70 Jahren begann hier die Jagd auf das, was unser Universum ausmacht – am Forschungszentrum CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung. Seit vielen Jahrzehnten werden in kilometerlangen Tunneln Teilchen beschleunigt, um sie aufeinanderprallen zu lassen. Es ist ein Ort, an dem Träume von der Entschlüsselung des Kosmos Wirklichkeit werden sollen. Wissenschaftler der TU Dresden haben sich diesem Traum seit über 20 Jahren ebenfalls verschrieben.

In der Mittagspause mal abschalten, die Arbeit kurz hinter sich lassen, den Kopf frei bekommen? Für Philip Sommer ist das derzeit kein Thema. Der Mitarbeiter am Institut für Kern- und Teilchenphysik der TU Dresden ist gerade zu einem Forschungsaufenthalt am CERN. „In der Caféteria treffen sich Wissenschaftler aus aller Welt“, beschreibt der promovierte Teilchenphysiker die besondere Atmosphäre vor Ort. An der Wand hängen riesige Monitore, die den Fortschritt der Experimente in den Teilchenbeschleunigern anzeigen. „Da diskutieren wir in der Pause lieber über physikalische Themen.“ Während seines Studiums an der Universität Freiburg war er das erste Mal am CERN und sofort fasziniert. Für seine spätere Dissertation forschte er ebenfalls dort. „Es ist ein magischer Ort.“

Neustart nach dem Krieg

Davon dürften die Baggerführer im Frühjahr 1954 noch nichts geahnt haben. In der Nähe der Gemeinde Meyrin beginnen sie am 17. Mai damit, eine Baugrube auf einer grünen Wiese auszuheben. Zwölf europäische Staaten, darunter Deutschland, hatten zuvor den Bau des Forschungszentrums beschlossen. Es war eine Initiative, um den Kontinent nach den Kämpfen und Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs wissenschaftlich wiederaufzubauen. Vor dem Krieg war Europa führend in der Forschung gewesen, nun hatten die USA die Vorreiterrolle inne. Europa will den Rückstand auf dem Gebiet der Kernphysik aufholen. Die Idee dafür: eine gemeinsame Forschungseinrichtung, die über nationale Grenzen hinausgeht und eine friedliche Nutzung der Kernenergie anstrebt.

Auf einer Wiese bei Genf begann im Jahr 1954 alles. Bagger hoben die Baugrube für CERN aus.
Auf einer Wiese bei Genf begann im Jahr 1954 alles. Bagger hoben die Baugrube für CERN aus. © CERN

Bis heute ist daraus viel mehr geworden. CERN hat sich zum riesigen Forschungszentrum entwickelt. 24 Mitgliedsstaaten sind jetzt daran beteiligt, 12.000 Mitarbeiter aus 85 Nationen forschen hier. Sie stehen für Spitzenforschung in der Teilchenphysik. Zudem betreibt CERN einige der bedeutendsten wissenschaftlichen Experimente der Welt. Der Large Hadron Collider (LHC), der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, ist das prominenteste Beispiel. Der ringförmige Teilchenbeschleuniger liegt in 100 Metern Tiefe und hat einen Umfang von 27 Kilometern. Darin werden Protonen extrem beschleunigt, um sie frontal zusammenprallen zu lassen. Damit untersuchen Wissenschaftler die Bausteine unserer Welt und des Universums. Eine der bedeutendsten Entdeckungen gelang 2012 mit dem Nachweis des Higgs-Bosons. Dieses Elementarteilchen, das bereit 1964 theoretisch vorhergesagt wurde, spielt eine Schlüsselrolle in der Teilchenphysik.

Seit gut 20 Jahren sind auch Wissenschaftler der TU Dresden regelmäßig am CERN. Mit 3.000 Forschern aus 38 Ländern kümmern sie sich um eines der größten Messgeräte der Welt. Atlas heißt es und ist so groß wie ein fünfstöckiges Haus: 25 Meter hoch, 46 Meter lang und 7.000 Tonnen schwer. „So etwas lässt einen nicht kalt“, erinnert sich Sommer an den ersten Moment, als er in der riesigen Höhle vor Atlas stand. Es ist der größte Teilchendetektor, der bisher an einem Beschleuniger gebaut wurde. Atlas beobachtet das, was sich während des Zusammenstoßes der Teilchen tut. Die Kollisionen finden in seinem Zentrum statt. Prallen die Protonen aufeinander, entstehen wiederum kleinste Teilchen. Diese Tausenden Bruchstücke müssen genau gemessen werden. Atlas kann das.

Mehr als 150 Abschlussarbeiten von Dresdner TU-Studierenden sind bisher an Atlas-Experimenten entstanden. Doktorand Tom Kreße (M.), hier im Atlas-Datennahmeraum ist einer von ihnen.
Mehr als 150 Abschlussarbeiten von Dresdner TU-Studierenden sind bisher an Atlas-Experimenten entstanden. Doktorand Tom Kreße (M.), hier im Atlas-Datennahmeraum ist einer von ihnen. © TUD/Deion Fellers

Die Hoffnung, etwas Neues zu finden, ist immer da. „Wir können Dinge messen, die wir sonst gar nicht messen könnten“, sagt Arno Straessner, Inhaber der Professur für Experimentelle Teilchenphysik an der TU Dresden. Zwölf Jahre lang hat er selbst am CERN geforscht, bevor er dem Ruf nach Sachsen folgte. Das Standardmodell der Teilchenphysik existiert seit 35 Jahren. Es ist die grundlegende Theorie zu allen Elementarteilchen und ihren Wechselwirkungen. Damit sind Erkenntnisse zur Entwicklung des Universums bis kurz nach dem Urknall möglich. Trotzdem sind noch viele Fragen offen. „Heute geht es vornehmlich darum, Dinge, die uns bereits bekannt sind, noch präziser zu messen.“

Neuer Beschleuniger geplant

Mehr als 150 Abschlussarbeiten von Dresdner TU-Studierenden sind bisher an Atlas-Experimenten entstanden. Sie analysieren Daten, bringen theoretische Berechnungen mit Simulationsprogrammen voran und entwickeln Komponenten für den Detektor sowie Elektronik zum Auslesen der Daten. „Viele unserer Studierenden gehen nach dem Studium zwar in die Wirtschaft, aber durch die Arbeit am Atlas-Projekt lernen sie internationale Zusammenarbeit kennen“, fügt der Professor hinzu. Allein bei Bosch in Dresden würden gleich mehrere Ehemalige arbeiten, die heute von dieser Erfahrung profitieren würden.

Philip Sommer, Mitarbeiter Institut für Kern- und Teilchenphysik der TU Dresden, ist aktuell zu Forschungsarbeiten am CERN zu Gast.
Philip Sommer, Mitarbeiter Institut für Kern- und Teilchenphysik der TU Dresden, ist aktuell zu Forschungsarbeiten am CERN zu Gast. © privat

Sommer bringt das Reizvolle an der Zusammenarbeit mit CERN auf den Punkt. „Wir entwickeln jeden Tag ein tieferes Verständnis für die Physik, die wir schon kennen.“ Am Forschungszentrum gehen die Ideen schon weiter. In Zukunft soll ein noch größerer Teilchenbeschleuniger gebaut werden: 91 Kilometer lang und noch leistungsstärker. Aber was, wenn auch er nicht alle offenen Fragen beantworten kann? Für Arno Straessner wäre das nicht schlimm. „Das Nichtwissen ist ja gerade das Spannende und das, was uns antreibt.“


Vortrag 70 Jahre europäische Teilchenphysik am CERN von Philip Sommer und Arno Straessner: Montag, 16. September, 18.30 Uhr, Slub (Zellescher Weg 18), Eintritt frei. Dokumentarfilm Particle Fever – Die Jagd nach dem Higgs mit Einführung von Teilchenphysiker Michael Kobel (TUD): Donnerstag, 19. September, 19 Uhr, Programmkino Ost, Eintritt frei.