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Warum manche Eisenbahner keinen DB-Rucksack mehr tragen

Der Chef der Bahngewerkschaft EVG tourt durch Sachsen – mit dem Fahrrad und einigem Unbehagen. Im Interview mit Sächsische.de erklärt Martin Burkert weshalb.

Von Michael Rothe
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Martin Burkert (59) ist seit 2022 Chef der EVG, Interessenvertretung von 180.000 Eisenbahnern. Der gebürtige Würzburger saß 2005–2020 für die SPD im Bundestag, ist im DB-Aufsichtsrat, Vorsitzender der Allianz pro Schiene, verheiratet und hat zwei Kinder.
Martin Burkert (59) ist seit 2022 Chef der EVG, Interessenvertretung von 180.000 Eisenbahnern. Der gebürtige Würzburger saß 2005–2020 für die SPD im Bundestag, ist im DB-Aufsichtsrat, Vorsitzender der Allianz pro Schiene, verheiratet und hat zwei Kinder. © EVG/Max Lautenschlaeger

Herr Burkert, Sie fahren mehrere Stationen Ihrer Sommertour in Sachsen mit dem Fahrrad an. Kein Vertrauen mehr in das System Bahn?

Nein, auch wenn man das nach den vielen Hiobsbotschaften meinen könnte. Der Grund: Ich besuche viele Betriebe in Dresden, Leipzig, Delitzsch. Das geht mit dem E-Bike am schnellsten und hat sich zuvor auch in Niedersachsen bewährt.

So sind Sie immerhin pünktlich da.

Zumindest habe ich es selbst in der Hand.

Bahnreisende können das nicht sagen.

Leider. Qualität und Pünktlichkeit der Deutschen Bahn sind im Keller. Die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner schütteln bei einer Pünktlichkeit im Fernverkehr von um die 60 Prozent nur den Kopf.

Dabei werden Verspätungen erst ab sechs Minuten gezählt und Komplettausfälle in dieser Statistik gar nicht.

Stimmt. Der Konzern ist sehenden Auges auf einen Prellbock zugefahren, weil Jahrzehnte zu wenig in die Schiene investiert wurde. Das rächt sich heute, und Verkehrsminister Wissing muss ausbaden, was ihm seine Vorgänger eingebrockt haben.

Sie sehen die Schuld bei der Politik und nicht bei der Konzernführung?

Das geht beides einher. Der Bund ist Eigentümer der Deutschen Bahn, und Ex-Chef Mehdorn hatte den politischen Auftrag zum Börsengang. Die damaligen Einsparungen spüren wir noch immer. Es gab unter den letzten CSU-Verkehrsministern viel zu wenig Geld für die Schiene. Aber viele hatten parteiübergreifend der Straße den Vorrang gegeben. Sie schreien jetzt nach Zerschlagung der Bahn als Allheilmittel, um von eigenen Fehlern abzulenken. Es wird nächstes Jahr eine harte Auseinandersetzung im Bundestagswahlkampf geben.

Wird man sich der Trennung von Netz und Betrieb ewig widersetzen können?

Überall, wo man es in Europa versucht hat, ist es schiefgegangen. Gute Bahnverkehre funktionieren im integrierten Konzern. Das zeigen die Schweiz und Österreich. Und Großbritannien macht sogar eine Rolle rückwärts und will verstaatlichen.

Befürworter nennen Spanien.

Im dortigen Netz fahren zwölf Bahnunternehmen, bei uns sind es über 500. Das kann man nicht vergleichen. Auch hinken Vergleiche mit der Schweiz, wo es einen Volksentscheid zu Investitionen in die Schiene gab. Deutschland müsste das Zehnfache ausgeben, um auf deren Niveau zu kommen. Ich wäre froh, wir wären auch so gut.

Also doch mildernde Umstände für Mehdorn und die anderen Bahnchefs?

Nein. Die Infrastruktur ist marode. Wir sagen seit vielen Jahren, dass der Tag kommt, an dem die Versäumnisse nicht mehr kaschierbar sind. Heute wird immer noch die Stellwerkstechnik von 1912 geschult.

Statements der Bahnführung lesen sich, als sei der Zustand über sie gekommen. Schuldeingeständnisse und Verantwortung übernehmen geht anders.

Man kann weder Vorstände noch Minister zur Verantwortung ziehen, weil sie sich zu wenig gekümmert oder die Schiene nicht ausreichend finanziert haben. Das ist vergossene Milch – auch beim verspäteten und überteuerten Projekt Stuttgart 21.

Stellt sich die Frage nach der Rolle des Aufsichtsrats, in dem Sie sitzen. Sollte er nicht solche Desaster verhindern?

Wir haben Infrastrukturvorhaben im Volumen von 45 Milliarden Euro beschlossen. Jetzt müssen wir damit leben, dass es mindestens 15 Milliarden weniger gibt. Da kann ein Aufsichtsrat gar nichts machen. Die Schuldenbremse ist ein Hemmschuh und die Lobby für Auto und Straße stark.

Es heißt, Fahrpläne würden nur noch geschätzt. Sie schlagen für mehr Pünktlichkeit vor, dass ICE nur noch 200 statt 250 Stundenkilometer fahren sollten.

Dafür habe ich von Fachleuten viel Zuspruch bekommen. Wenn der gesamte Fahrplan entschleunigt wird, können Lokführer Verspätungen von 15 Minuten aufholen. Die Chance haben sie derzeit nicht, weil der Fahrplan voll ausgereizt ist. Auch fahren meist Mischverkehre. Da bremsen Güterzüge und Nahverkehr – mit 92 Prozent Anteil Hauptkunde der Knotenbahnhöfe – den Fernverkehr aus. Wenn die Gleise belegt sind, müssen ICE warten. Die Fahrgäste brauchen einen stabilen Fahrplan, egal ob Sie 20 Minuten später da sind – Hauptsache sie können sich auf ihn verlassen.

Ist die Sanierung und Sperrung von 40 Bahnstrecken bis 2030 alternativlos?

Wegen der Lage ja, aber es wird eine große Herausforderung. Für den Ersatzverkehr Berlin–Hamburg braucht es dreimal so viele Busse mit Personal. Ich bin gespannt.

Was ist Ihr Lösungsvorschlag?

Wir brauchen eine Verständigung zwischen den Parteien für eine überjährige Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, sonst fangen wir nach jeder Bundestagswahl wieder bei Null an, wie das Geld verteilt wird. Die jetzige Lösung mit Eigenkapitalerhöhung und steigenden Trassenpreisen erhöht den Renditedruck – und für Reisenden den Ticketpreis um 20 Prozent. Und wenn die Kosten für den Schienengüterverkehr um gut 20 Prozent klettern, läuft die Verkehrswende in die falsche Richtung: auf die Straße. Wir machen das Gegenteil von Klimaschutz.

Zur Unpünktlichkeit kommen kaputte Toiletten, Klimaanlagen, reduzierter Gastroservice und mehr. Kratzt das nicht an der Eisenbahner-Ehre?

Mir haben Beschäftigte verraten, dass sie keinen DB-Rucksack mehr tragen, um nicht erkannt zu werden. Und es gibt genug ältere Beschäftigte, die sich für das Unternehmen schämen. Qualität und Pünktlichkeit ist für sie ein hohes Gut .

Das ist nicht gerade eine Werbung für die Deutsche Bahn als Arbeitgeber.

Die Zeit, als viele Jungs Lokführer werden wollten, ist lange vorbei. Unregelmäßiger Schicht- und Wochenenddienst führt zu hoher Fluktuation – auch in anderen Bereichen. Zudem hat der heutige Berufsnachwuchs eine ganz andere Einstellung zur Arbeitswelt. Stichwort: „Work-Life-Balance“.

Mehr Freizeit scheint in Tarifverträgen die neue Währung zu sein – statt Geld.

Das stimmt angesichts des Leistungsdrucks für viele Beschäftigte. Auch die DB muss attraktiv bleiben, sonst kriegt sie keine Leute.

Das gilt damit auch für Ihre EVG. Wie steht es um deren Organisationsgrad?

Es gibt Betriebe, da sind über 90 Prozent, bei Azubis mehr als 70 Prozent Mitglied.

Im Osten ist die Lokführergewerkschaft GDL stärker.

Die DB hat 304 Betriebe, in 286 haben wir die Mehrheit. Dort gelten nach dem Tarifeinheitsgesetz unsere Tarifverträge, in den 18 übrigen die der GDL.

War das Gesetz, einst ausgelöst durch viele Streiks bei der Bahn, ein Fehler?

Ja.

Sie waren aber damals als Abgeordneter im Bundestag dafür.

Ja.

... und haben jetzt eine andere Sicht?

Aus der Erfahrung heraus. Die Gräben in der Belegschaft sind tiefer und die Anfeindungen noch größer geworden.

In der kommenden Woche geht GDL-Chef Weselsky in Rente. Haben Sie die Hoffnung, dass das Verhältnis der EVG mit seinem designierten Nachfolger Mario Reiß befriedet wird?

Menschlich schon. Wir kennen uns lange aus dem Aufsichtsrat von DB Cargo. Er hat den Druck, die Erwartungshaltung ist groß. Da muss man schauen, wie er damit umgeht. Streit hilft nur dem Arbeitgeber. Gemeinsam könnten wir viel mehr erreichen.

Auch den jüngst angesagten Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen verhindern?

Die Ankündigung der Deutschen Bahn AG hat zu großer Verunsicherung geführt. Wir konnten klarstellen: Kein Stellenabbau im operativen Bereich.

Also kein Schlachtfeld für die EVG?

Es gibt wirklich Handlungsbedarf. Der Overhead in der Verwaltung ist zu groß, Wir haben zu viele Hierarchie-Ebenen.

Echte Gewalt herrscht hingegen in immer mehr Bahnhöfen und Zügen.

Leider. Im vergangenen Jahr wurden gut 15.000 Übergriffe und 3.000 schwere Körperverletzungen gemeldet, hat jede elfte Frau sexualisierte Gewalt erlebt. Und da gibt es noch eine Dunkelziffer von bis zu 70 Prozent. Die Täter kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Laut Umfragen erleben vier von fünf Mitarbeitenden verbale Gewalt. Es gibt Kundenbetreuerinnen, die daraufhin ihren Job aufgegeben haben.

Wie lässt sich dem Problem begegnen?

Wir fordern Körperkameras für das Personal, Videoüberwachung auf Bahnhöfen und Doppelbestreifung im Schienen-Personen-Nahverkehr Messerverbote nutzen indes nur, wenn ihre Einhaltung auch kontrolliert wird.

Am Sonntag wählt Sachsen einen neuen Landtag. Dann sind sie wieder weg ...

... meine Sorge bleibt. Ich weiß, dass auch viele Gewerkschafter AfD wählen, trotz unseres Unvereinbarkeitsbeschlusses für Funktionäre. Am Sonntag schaut die Welt auf Sachsen und Thüringen. Der Rechtsruck schürt nicht nur in Deutschland Ängste. Geschichte darf sich nicht wiederholen.