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Per Rad durch Albanien

Erst als Europas Nordkorea verschrien, dann als mafiöser postkommunistischer Balkanstaat abgetan, hatte Albanien lange einen schlechten Ruf. Inzwischen aber ist das kleine Land Geheimtipp für Abenteuerlustige.

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Verschnaufen und den Ausblick genießen.
Verschnaufen und den Ausblick genießen. © Roland Motz

Von Roland Motz

Drei Monate hat es nicht geregnet am Ohridsee und jetzt das: Offene Kanaldeckel in Lin, aus denen braunes Wasser quillt. Noch liegen zwanzig Kilometer vor uns, doch der erste Platten zwingt unsere fünfzehnköpfige Radgruppe zu einer unfreiwilligen Pause unterhalb eines Gefängnisses. Es sei das „mit der besten Aussicht in ganz Albanien“, scherzt Aldo Suta. Doch heute kommen weder wir noch die Gefangenen in diesen Genuss. Eine graue Regenwand verstellt den Blick auf die nordmazedonische Küste, die den Großteil des riesigen Sees ausmacht. Völlig durchnässt erreichen wir das Hotel im schönen Urlaubsort Tushemisht, gerade einmal sechs Kilometer vom orthodoxen Sveti-Naum-Kloster in Nordmazedonien entfernt. Der geplante Abstecher über die Grenze zum Weltkulturerbe fällt buchstäblich ins Wasser.

Stattdessen erfahren wir von unserem gut Deutsch sprechenden Guide, dass Einheimische im Ohridsee Tausende gut erhaltene Baumstämme einer prähistorischen Pfahlhaussiedlung entdeckt haben. Diese seien jüngst auf 5.900 Jahre v. Chr. datiert worden. Somit liegen im ältesten See Europas offenbar auch die Überreste der ältesten Siedlung unseres Kontinents.

Durch wildes Hinterland

In Albanien gibt es keine Fahrradwege, die Straßen haben keine Seitenbegrenzung und die Autofahrer immer Vorfahrt. Nach einem quälend langen Anstieg von Tushemisht aus auf der Hauptstraße sind wir deshalb froh, ein Plateau über dem See zu erreichen, hinter dem eine wenig befahrene Landstraße abzweigt. Über Zëmblak fahren wir durch ein landwirtschaftlich genutztes, hügeliges Ackerland nach Korça, der einzigen Stadt im ostalbanischen Grenzgebiet zu Griechenland. Zwischen einer uralten Moschee im osmanischen Basarviertel, Plattenbauten aus kommunistischer Ära und neuer Kathedrale am Bulevardi Republika gibt es ein verwirrendes Potpourri an Baustilen.

Autor Roland Motz muss über diese wenig vertrauenswürdige Hängebrücke, um sein Tagesziel zu erreichen.
Autor Roland Motz muss über diese wenig vertrauenswürdige Hängebrücke, um sein Tagesziel zu erreichen. © Roland Motz

Besonders umstritten ist der von einem deutschen Architekturbüro entworfene, als „Penis von Korça“ verunglimpfte Red Tower neben dem modernen Theater. Hinter Korça führt eine mit Schlaglöchern übersäte Straße durch wunderschönes, kaum besiedeltes Bergland. Dennoch stoßen wir immer wieder auf vom Winde verwehte Plastiktüten, achtlos weggeworfene Zigarettenschachteln, kaputte Reifen im Straßengraben, auf Bauruinen und verlassene Tankstellen in einer erstaunlichen Dichte. Albanien hat ein Müllproblem.

Albanien hat aber auch eine unglaublich gastfreundliche bäuerliche Bevölkerung, die radelnde Touristen als Exoten wohlwollend willkommen heißt. Neugierige Schulkinder klatschen uns am Straßenrand ab. Auf dem Lehmboden sitzende Frauen heben die Hand zum Gruß, während sie weiter goldgelbe Maiskolben sortieren. Ein Dorf weiter lässt uns eine Bäuerin von ihren gerösteten roten Paprikaschoten kosten, und ein alter Mann hält seinen Eselskarren an, um uns gleich ein Kilo Trauben zu schenken.

Nur teilweise geteerte Straßen

Am Dorfrand verkaufen Bauern Nüsse, Kräuter, Honig, Zwiebelstränge und Knoblauchgirlanden. Das überall in Literflaschen aus Plastik angebotene Wasser entpuppt sich beim Probieren als hausgebrannter Raki. Die Begegnungen mit den Menschen verlaufen sprachlos gestikulierend.

Gastfreundschaft am Wegesrand. Die Bäuerin lässt uns gratis von ihren gegrillten Paprika kosten.
Gastfreundschaft am Wegesrand. Die Bäuerin lässt uns gratis von ihren gegrillten Paprika kosten. © Roland Motz

Weit weniger herzlich verläuft die Kommunikation mit aggressiven Hirtenhunden, die uns zweimal Probleme bereiten. Dennoch werden die Radtage am und im Germenj-Naturpark zum Höhepunkt der Reise. In zahlreichen Serpentinen windet sich eine kaum befahrene und nur teilweise geteerte Landstraße durch Kiefernwälder zum 1.259 Meter hohen Barmash-Pass. Egal wie steil oder flach die Anstiege oder Abfahrten in Albanien auch sind, auf allen Warnschildern steht zehn Prozent.

Im Dorf Borovë erinnert eine einfache Gedenkstätte aus Steinkreisen an die Ermordung von 116 Bewohnern 1943 durch deutsche Soldaten zur Vergeltung von Partisanenangriffen. Etwas unterhalb des Passes, nur fünf Kilometer von der griechischen Grenze entfernt, empfängt uns die herrlich gelegene Sotira-Farm mit frei herumlaufenden Schweinen, Gänsen, Hühnern, Kühen und Schafen. Wacklige Holzstege führen zu Wohnhütten, vor denen wir beim verdienten Bier zuschauen, wie Forellen fürs Abendessen mit Eimern aus dem Bach geschöpft werden.

Vom Fuss Vjosa zum Meer

Eine fantastische Abfahrt bringt uns Europas letztem unreguliertem Fluss näher. Man kann sich nicht mehr verfahren. Es gibt nur diese eine Straße. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes erstmals als Buckelpiste für ausländische Touristen freigegeben, ist sie heute fast durchgehend asphaltiert. Obwohl die Mehrzahl der Albaner Moslems sind und überall neue, oft von der Türkei finanzierte Moscheen entstehen, sieht man kaum verschleierte Frauen.

Die Bauern staunen über den Radtourist.
Die Bauern staunen über den Radtourist. © Roland Motz

Stattdessen erinnern bunt geschmückte Totengedenktafeln am Straßenrand, Autowracks und umgefahrene Begrenzungspfähle daran, dass offenkundig zu viel getrunken wird. „Mehr als in Russland, leider auch im Verkehr trotz Null-Promille-Grenze“, sagt Aldo beim Mittagessen und deutet dabei auf die mit Raki gefüllten Wassergläser am Nachbartisch. Am Grenzübergang Tre Urat erreichen wir den Fluss, der bis dahin unter dem Namen Aoos durch griechische Nationalparks geflossen ist. Ungezähmt mäandert die Vjosa fortan durch Albaniens wilde Bergwelt. Schmale Schotterpisten führen über marode, wenig vertrauenswürdige Hängebrücken zu entlegenen Weilern.

Über 170.000 Minibunker

Aber die frisch geteerte Straße durch das Vjosa-Tal und die Këlcyra-Schlucht mit ihren 1.000 Metern steil aufragenden, dennoch grün bewaldeten Berghängen präsentiert sich in einem hervorragenden Zustand und erleichtert die schweißtreibenden Anstiege. Im warmen Wasser der Schwefelquellen von Benjës nahe der verschlafenen Kleinstadt Përmet begegnen wir erstmals anderen ausländischen Touristen. Mit ihren Wohnmobilen campieren sie vor der grandiosen osmanischen Steinbrücke am Ausgang des spektakulären Lëngarica Canyons. Stellplätze zwischen Bäumen und eine kleine Kioskbar sorgen für rudimentäre touristische Infrastruktur.

Langsam nähern wir uns dem Meer. Stalin schickte vermeintliche Gegner gerne in die Kälte. Sein paranoider Verehrer Enver Hoxha ließ überall im Land Bunker bauen zum Schutz vor Feinden, die niemals kamen. Über 170.000 Minibunker sollen es gewesen sein: Gesprengt, geplündert, bemalt, als Müllhalde, Viehställe oder Liebesnester genutzt, stehen die grauen Pilzköpfe versteckt in der Landschaft herum – zum Beispiel an den Berghängen über der antiken Hafenstadt Butrint. Korfu liegt zum Greifen nahe vor dem weitläufigen Weltkulturerbe, in dem sowohl Griechen, Römer, Byzantiner, Venezianer als auch Osmanen ihre Spuren hinterlassen haben. Butrint ist nicht nur eine der besterhaltenen Ausgrabungsstätten des Mittelmeerraums. In der Nähe befinden sich auch einige der schönsten Strände Albaniens.

Langer Weg zur Freiheit

Im Hotel in Saranda bin ich mit Oltiona Cico zum Frühstück verabredet. In ihrer Jugend hat die Schwimmerin jede freie Minute hier am Meer verbracht. Am Vortag hat sie sich einen Kindheitstraum erfüllt. Sie ist zur griechischen Insel Korfu hin und wieder zurückgeschwommen.

Oltionas Familiengeschichte passt zu dem wilden Land. Ihr griechischer Großvater war Schuhfabrikant auf Korfu und hielt sich geschäftlich in seiner albanischen Filiale in Tirana auf, als die Grenzen plötzlich für alle geschlossen wurden. Nunmehr Angestellter in seinem eigenen, jetzt verstaatlichten Betrieb, musste Nico Tsîsou ein völlig neues Leben beginnen. Griechisch zu sprechen war verboten, sein Name wurde in Cico umgeändert. Notgedrungen gründete er eine neue Familie.

Oltionas Vater Dhimitër brachte es zu einem bekannten, auf den Bau von Stauseen spezialisierten Ingenieur. Gegen den massiven Widerstand ihrer Eltern ging ihre Mutter, eine Architektin, die Ehe mit „dem Griechen“ ein. „In der staatlichen Architekturbehörde musste meine Mutter ausgerechnet mit Pranvera Hoxha, der Tochter des Diktators, zusammenarbeiten. Der Bau von Enver Hoxhas pyramidenförmigem Mausoleum war ihr letztes gemeinsames Projekt, Ironie der Geschichte“, sagt Oltiona. „Mittlerweile ist die begehbare Pyramide im Zentrum von Tirana renoviert.“

Sehnsucht nach Korfu

Nur drei Kilometer trennen Korfu vom albanischen Festland bei Butrint. Die Freiheit schien damals für viele zum Greifen nah, erinnert sich Oltiona, aber von denen, die die Flucht trotz strenger Küstenkontrolle versucht haben, seien die meisten ertrunken. Sie selbst habe sich nie unfrei gefühlt. Ihr ging es gut. „Ich dachte, ich sei im Paradies, im einzigen Land der Erde, wo der Kommunismus schon verwirklicht war. Deshalb hatten wir ja so viele neidische Feinde und brauchten so viele Bunker“, erzählt Oltiona lachend.

Natürlich sei ihr aufgefallen, dass der melancholische Großvater im Urlaub oft traurig Richtung Korfu geblickt und sonntags beim gemeinsamen Mittagessen griechisch geflüstert habe. Aber erst mit dem Zusammenbruch des Systems wurde in der Familie offen über die Vergangenheit gesprochen.

Nach fast einem halben Jahrhundert konnte ihr Großvater seine griechische Familie wiedertreffen. Anfang der 90er-Jahre, als Albanien im Bürgerkriegschaos zu versinken drohte, bekam ihr mittlerweile verstorbener Vater das Angebot, mit der Familie nach Frankreich auszuwandern. Aber ihre strenge, heute 68-jährige Mutter sagte lapidar, sie ginge nirgendwo hin.

Gemischte Aussichten

Zwischen Jalë und Gjipe sowie auf der zu Fuß schwer zugänglichen Halbinsel Karaburun gibt es nach wie vor Traumstrände zu entdecken. Doch vor dem kurvenreichen Aufstieg nach Dhermi, wo Ferienhäuser zwischen Steineichen und Olivenbäumen hoch über dem verlockenden Meer wie Bienenwaben am Fels kleben und die Serpentinen zum Llogara-Pass führen, kommen wir an Großbaustellen vorbei. Röhren ragen aus dem Berg. Dieses Jahr soll der weitgehend fertiggestellte Tunnel eröffnet werden, der die zeitraubende Fahrt über den 1.027 Meter hohen Pass obsolet und den Weg von der Hauptstadt zu den verwunschenen Buchten im Süden kürzer macht.

Auch in den schattigen Wäldern unterhalb der meist wolkenverhangenen Passhöhe bieten die obligatorischen, offenbar unkaputtbaren Bunker weiterhin Schutz vor imaginären Feinden. Eine letzte großartige Abfahrt bringt uns zurück an die Küste. Vor der touristischen Hafenstadt Vlora, die in zwei Jahren einen von Umweltschützern vehement kritisierten internationalen Flughafen bekommen soll, endet unsere zehntägige Radtour.

Abends schauen wir von der Terrasse des Hotels der Fähre nach Brindisi hinterher. „Wer noch ein wenig vom ursprünglichen Albanien sehen will, sollte sich beeilen“, gibt uns Aldo zum Abschied mit auf den Weg. Mag sein, dass der Reiseführer mit seinem Rat für die albanische Küste recht hat. Im wilden Landesinneren jedoch werden die Uhren noch lange anders laufen.

Gute Kondition

©  SZ-Grafik/Gernot Grunwald
  • Anreise: Ab 30. September 2024 Flüge von Leipzig/Halle nach Tirana. Mit dem Auto rund 1.620 Kilometer (rund 19,5 Stunden Fahrzeit).
  • Der Reiseveranstalter Wikinger bietet die zehntägige geführte Radreise ab 1.698 Euro pro Person zu mehreren Terminen 2024 an. Man muss sich vorab für ein E-Bike oder ein (gutes!) 20-Gang-Trekkingrad entscheiden. Gute Kondition vorausgesetzt.
  • Die Reise wurde unterstützt von Wikinger Reisen.