Getuschel unter den Kaffeegästen im Dresdner Hotel Maritim, als Claus Weselsky am vergangenen Sonntagnachmittag das Restaurant durchschreitet. „Das ist doch ...“. Den Chef der Lokführergewerkschaft GDL zieht es in eine ruhige Ecke auf der Terrasse mit Blick auf die Elbe und seine Geburtsstadt.
Der Mann mit dem markanten Schnauzer ist nicht nur in der Heimat bekannt wie ein bunter Hund – und war selbst mit Corona-Maske erkannt worden. „Das ist mal ganz nett, aber meist nervig, weil man immer beobachtet wird“, sagt Weselsky, der immer aussieht, als käme er gerade vom Friseur. Adrett, meist mit Schlips und in feinem Zwirn – auch vor der streikenden Basis auf dem Bahnsteig. An diesem doppelt heißen Wahlsonntag tut es ein weißes Hemd.
In der Gewerkschaft geht eine Ära zu Ende. Am Mittwoch hat der 65-Jährige seinen letzten Arbeitstag. Dann werden 250 Delegierte aus ganz Deutschland nebenan im Kongresszentrum seinen Stellvertreter Mario Reiß, ebenfalls ein Sachse, zu ihrem neuen Sprachrohr wählen – so ist der Plan.
CDU-Mitglied Weselsky fiel es bei der Landtagswahl nicht schwer, sein Kreuz zu machen. „Kretschmer ist nicht Merz“, sagt er und lobt die Bürgernähe des alten und wohl auch künftigen Ministerpräsidenten. Er macht auch kein Hehl aus seiner Sympathie für das BSW. Dessen Zulauf zeige, „dass es in Sachsen nicht nur Deppen gibt“. Deutschland brauche „eine Disruption“, sagt er und sieht Parallelen zum Vorstand der Deutschen Bahn (DB): Eine solche starke Veränderung dürfe „nur nicht von jenen ausgehen, die die Karre in den Dreck gefahren haben“. Weselsky findet: „Sahra Wagenknecht hat immerhin Kreuz und Charisma.“
Weselsky und die "Nieten in Nadelstreifen"
Das gilt auch für den, der das sagt: Polarisierend, in der Öffentlichkeit umstritten, mit dickem Fell, emotional – und auch mit einer Portion Selbstherrlichkeit. Als GDL-Chef müsse er sich jedes Wort überlegen, sagt Weselsky, der gern flotte Sprüche macht und die GDL „Stachel im Fleisch der DB“ nennt. Diplomatie und die Wahrung der Contenance waren für ihn Lernprozesse, die bis heute andauern.
In festgefahrenen Tarifrunden beschimpfte der Verhandlungsführer die Gegenüber schon mal als „Lügner“, „Vollpfosten“, „Gaunerbande“, „Nieten in Nadelstreifen“. Wenn er sich bei jemanden für verbale Entgleisungen hätte entschuldigen müssen, dann sei das passiert, so Weselsky.
Zu bereuen gebe es nur „manch kleine Fehlentscheidung, wo wir nicht den richtigen ersten Schritt gemacht haben“. Er bedauere, „dass der DB-Vorstand nicht längst zum Teufel gejagt wurde“ und dass Politiker kein Langzeitgedächtnis hätten und nie Fehler eingestehen würden. Sonst, meint er, hätten sie längst eingeräumt, „dass die Privatisierung der Bahn der größte Fehler war“. Diese verfehlte Politik bekomme Deutschland jetzt mit nie gekanntem Bahnchaos zu spüren. Zur Trennung von Netz und Betrieb gebe es dort keine Alternative.
Claus Weselsky bestellt einen Riesling und lehnt sich genüsslich zurück. Den nahen Abschied habe er noch nicht verinnerlicht, gesteht er. Auf der Zielgeraden und darüber hinaus warte ein Riesenpensum auf ihn – „wie in einem Jahresendrennen, wo ab Oktober alle noch versuchen, die Welt zu retten und Gelder unterzubringen“. Das MDR-Riverboat und andere Talkrunden riefen. Das mediale Interesse sei so groß, als stehe er am Anfang seiner Karriere.
Egoist oder letzter deutscher Arbeiterführer?
Die begann vor 18 Jahren als stellvertretender Bundesvorsitzender von Deutschlands ältester Gewerkschaft – 1867 gegründet, Mitglied in der DBB Beamtenbund und Tarifunion, die 41 Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und privaten Dienstleistungssektors vereint. Zwei Jahre später wurde Weselsky Nachfolger seines Ziehvaters Manfred Schell, der sich später mit ihm überwarf. Seine Popularität wuchs, auch durch TV-Auftritte, in denen er sich gegen viele Kritiker behaupten musste als Chef einer kleinen Truppe, die ein ganzes Land lahmlegt. Der Sachse blieb oft unverstanden – nicht zuerst wegen des Dialekts.
Wird Deutschlands oberster Lokführer in der Öffentlichkeit als arrogant wahrgenommen, so hat seine Basis zumeist eine andere Wahrnehmung. Weselsky sei alles andere als abgehoben, heißt es dort: in der Arbeit streng, mit klarer Linie, von der er sich schwer abbringen lasse. Er habe die Gabe, Fallstricke längst erkannt zu haben, während andere noch das Arbeitgeberangebot lesen.
Klaus-Peter Schölzke, Betriebsratsvorsitzender von DB Regio Dresden nennt Weselsky „den ehrlichsten und unbestechlichsten Gewerkschaftschef“, den er kenne. Während vor allem DGB-Gewerkschaften ihm mangelnde Solidarität und Egoismus unterstellen, feiern andere den „letzten deutschen Arbeiterführer“ als im besten Wortsinne Interessenvertreter derer, die ihn gewählt haben. Zwar gab es auch in der eigenen Organisation eine Meuterei. Doch deren Anführer stolperte letztlich über einen Compliance-Fall.
Mit fünf Jahren Traktorfahrer und später Lokführer
Weselsky weiß, was er will. Schon in der Schule in Kreischa habe „Sellys“ Wort etwas gegolten, sagte mal seine mittlerweile verstorbene Klassenlehrerin. Er sei kein Musterschüler gewesen, aber hochintelligent, ein sportlicher Typ, dem viel zuflog. Einschließlich Mädchenherzen.
Als Ende der 1950er-Jahre eine Neubauernstelle frei wurde, zog Familie Weselsky in der Aktion „Industriearbeiter aufs Land“ in die Dresdner Randgemeine und übernahm einen Vierseithof. Claus fuhr schon mit fünf Jahren Traktor, während seine Eltern Rüben in den Hänger warfen. Er und die zwei älteren Geschwister seien erzogen worden, alles auszudiskutieren, blickt Weselsky zurück. Das habe er sich bewahrt.
Die Mutter wollte, dass er Journalist wird, doch Claus hatte die Seefahrt im Blick. Später wechselten seine Träume auf die Schiene. Nach der Schule lernte er Schienenfahrzeugschlosser und Lokführer, fuhr in Pirna Diesel- und E-Loks. In der SED war er nie. „Die Scheinheiligkeit war mir zuwider“, für die Karriere habe er sie nicht gebraucht. „Ich hatte ja einen tollen Job.“ Bad Schandau–Sebnitz war seine Lieblingsstrecke, bis er Funktionär wurde. Nach der Wende trat er in die GDL ein.
Weselsky ist ein Kämpfer, nimmt es auch mit der Boulevardpresse auf, die ihn zum meistgehassten Deutschen stilisierte. Als eine Zeitung während wochenlanger Streiks mal seine Handynummer veröffentlichte, reagierte er kurzerhand mit einer Rufumleitung zum Bahnchef. Nur als ein Nachrichtenmagazin ein Foto seines Hauses samt Adresse abdruckte, machte er sich Sorgen – um seine Frau.
„Ich erwarte keine Hurra-Rufe, aber Akzeptanz, dass wir wie alle Berufsgruppen unser Streikrecht wahrnehmen“, sagt der GDL-Chef. Mit wir meint er den gesamten Fahrbetrieb – Zugbegleiter, Werkstattbeschäftigte, Fahrdienstleiter –, wo die GDL auch Mitglieder hat. Reisende, die wegen der Ausstände gestrandet oder nicht erst weggekommen sind, haben dafür nur bedingt Verständnis.
Autovermieter kürt Weselsky zum Mitarbeiter des Monats
Der Autovermieter Sixt hatte den Gewerkschaftsboss auf einem satirischen Werbeplakat 2014, 2015 und 2021 zum „Mitarbeiter des Monats“ gekürt, nachdem dort während mehrtägiger Bahnstreiks die Kasse klingelte. Das fand der sonst so humorvolle Zeitgenosse gar nicht lustig. Das vergebliche Veto vor Gericht gehört zu seinen wenigen Niederlagen.
Die Liste der Erfolge ist länger. Am Anfang stand der 2008 erstreikte eigenständige Lokführer-Tarifvertrag mit der Deutschen Bahn. „2010/11 haben wir die ersten DB-Konkurrenten aufgesammelt, um Wettbewerb über Lohndumping zu beenden“, blickt Weselsky zurück. In der Folge seien in zehn Jahren im ganzen Land einheitliche Wochenarbeitszeit, gleiche Regeln und Einkommen durchgesetzt worden. Und zuletzt für Schichtarbeiter der stufenweise Einstieg in die 35-Stunden-Woche. Der Verhandlungsführer ist stolz auf Verträge mit über 60 Eisenbahnen. Unterm Strich hat sich das Monatsgehalt berufserfahrener Lokführer in Weselskys Amtszeit fast verdoppelt auf gut 4.000 Euro.
In seiner Gefolgschaft ist er mit dem Spruch „Claus hat fertig“ bekannt. Der Ruf wird auf Tagungen skandiert, wenn mal wieder ein besserer Abschluss erzielt wurde als durch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft. Jene gut viermal so große EVG – hervorgegangen aus Transnet und GDBA – ist seit 2003 Erzfeind der GDL. Damals fühlten sich die Lokführer nach einer Tarifrunde betrogen und gingen eigene Wege.
Dank ihrer Errungenschaften ist die GDL stetig gewachsen, was nicht jede Gewerkschaft behaupten kann. 2013 seien es knapp 30.000 Mitglieder gewesen, jetzt über 40.000. Das sei umso bemerkenswerter, als in dieser Zeit 20.000 Leute durch Tod ausgeschieden seien. So betrachtet, habe die Gewerkschaft ihre Mitgliederzahl sogar verdoppelt, schlussfolgert ihr Anführer.
Einzig unvollendet: das Tarifeinheitsgesetz
Weselskys Rechnung auf der Hotelterrasse wird durch ein kräftiges Hallo unterbrochen. „Die Nordrhein-Westfalen rücken an“, ruft der Chef und erhebt sich. Im halben Dutzend schlagen erste Delegierte auf. „Na, mein Bundesvorsitzender“, begrüßt ihn einer. „Nicht mehr lange“, ruft ein anderer und hat die Lacher auf seiner Seite.
Weselsky hat seinen Frieden gemacht. Nur ein Projekt bleibe unvollendet, sagt er: „Ich hätte gern noch das TEG weggeputzt.“ Das Kürzel meint das Tarifeinheitsgesetz, wonach in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gilt: jener, der dort mitgliederstärksten Gewerkschaft. Diese Mehrheit billigt die Deutsche Bahn der GDL nur in 18 ihrer gut 300 Betriebe zu – auf Basis von Schätzungen nach Betriebsratswahlen.
Die Gewerkschaft spricht von Willkür und hat geklagt. Doch das Urteil zur Zählweise steckt in der 2. Instanz fest. CDU-Mitglied Weselsky bedauert, dass der Erlass von der eigenen Partei initiiert wurde, „denn er ist Gift im Brunnen von Gewerkschaften“. Das Gesetz sollte beruhigen, sozialen Frieden schaffen, die Streithähne zusammenführen. Das Gegenteil ist der Fall, wie mittlerweile selbst die EVG einräumt.
Zur Abwehr hatte die GDL 2023 Fairtrain gegründet, eine Genossenschaft, die Eisenbahner zu verbesserten Konditionen an Bahnfirmen verleiht. Allerdings ist es ruhig geworden um das umstrittene Modell. „Gut Ding will Weile haben“, begegnet Weselsky Zweiflern: „Die Genossenschaft funktioniert, wir haben mehr als 500 Anteile zu je 500 Euro verkauft, und es gibt erste Verleihen.“ Nur im Zeitplan hinke man etwa ein Dreivierteljahr hinterher.
Der Bahnschreck hinterlässt seinem Nachfolger „eine gut aufgestellte Organisation, einen befriedeten Markt ohne Lohndumping und eine gute Sozialpartnerschaft mit allen Bahnunternehmen – mit einer Ausnahme ...“. Die Beerdigung des „unseligen Tarifeinheitsgesetzes“ müsse Mario Reiß zu Ende bringen. Auf den wartet mit dem harten Sanierungskurs der DB-Gütersparte eine weitere Großbaustelle.
In der Rente Abtauchen? Nur in der Andamanensee!
Ja, er könne loslassen, sagt der scheidende Chef, „und wenn ich mit der Wand rede“. Er werde Reiß „nicht reingrätschen“. Der Genannte taucht tatsächlich auch noch auf der Hotelterrasse auf. Er erinnert an die gleich beginnende Hauptvorstandssitzung und dass es Zeit sei zu gehen.
„Eigentlich wollte ich den Posten schon vor zwei Jahren abgeben, doch da gab es Corona, Stress ums TEG, und es fehlte ein Nachfolger“, gesteht der künftige Ehrenvorsitzende, der auch weiter Vize im Beamtenbund ist. Unmoralische Angebote wie 2007, als ihn die DB in den Vorstand abwerben wollte, habe es nicht mehr gegeben.
Weselsky, verheiratet, Vater eines erwachsenen Sohnes und zweifacher Opa, ist wild entschlossen, einen Schnitt zu machen. Endlich Zeit für die Patchworkfamilie in Pesterwitz und Freital, so sein Plan. Er nutze weiter seine Bahncard 100, vertraue trotz aller Widrigkeiten der Schiene und will für eine reformierte Bahn werben.
Also nichts mit Abtauchen – es sei denn, in der südostasiatischen Andamanensee. Dieses Hobby gebe ihm „den Adrenalinschub, den andere beim Joggen und Radfahren spüren“, sagt Weselsky. Er genieße die Schönheit der Unterwasserwelt, Schwerelosigkeit und Freiheit. Und die totale Ruhe.