Polen baut sein erstes Atomkraftwerk ausgerechnet an der Ostsee - das sorgt für Streit
Pilze haben sie hier bis vor Kurzem gesammelt, sagt das polnische Rentnerpaar Hanna und Tomasz Trybusiewicz. Sie laufen über einen sandigen Weg, eingezäunt von einem Metallzaun. Dahinter liegen hektarweise gerodeter Wald, der aufgewühlte Boden gleicht einer Mondlandschaft. An dem Zaun werben blaue Plakate für die regionalen Attraktionen: Die Ostsee-Wanderdünen. Der Leuchtturm. Und das erste Atomkraftwerk (AKW) Polens, das hier entstehen soll. Das Gesicht des 64-jährigen Tomasz wird dabei steinhart. Das Rentnerpaar aus der Nähe von Warschau hatte im Oktober 2021 ein Grundstück in Choczewo gekauft, einem verschlafenen Touristenörtchen am Meer bei Danzig, 350 Kilometer Luftlinie von der deutschen Grenze entfernt.
Drei Monate nach dem Kauf brach für Hanna und Tomasz ein Traum zusammen. Die Entscheidung für das AKW war gefallen - für einen Ort, an dem der Sand die Nasenspitze kitzelt, Kinder durch die Wellen jagen und Heidelbeeren am Straßenrand verkauft werden. Mit ein paar Ferientouristen in den selbstgebauten Hütten wollten Tomasz und Hanna hier ihre Rente aufbessern. Jetzt fürchten sie sich nicht nur vor den Strahlen des zwischengelagerten Atommülls, sondern auch davor, dass die Touristen wegen der lauten Baustelle fernbleiben.
Die Kosten für das Atomkraftwerk werden "explodieren"
Ob das Rentnerpaar aber noch die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks erleben wird, ist unklar. Geplant war mal 2033. Das mit dem Vorhaben beauftragte polnische Staatsunternehmen PEJ erklärt jedoch auf Anfrage: Der erste Block geht frühestens im Jahr 2035 an den Start. Der Bau des Reaktors beginnt bereits 2028. Mancher munkelt von einer Fertigstellung bis 2040.
Spekulationen gibt es auch bei den Kosten. Hierzu möchte sich das Unternehmen nicht äußern. „Uns ist bewusst, dass dies die erste derartige Investition in Polen ist. Das Projekt ist sehr komplex und erfordert Vereinbarungen auf mehreren Ebenen“, erklärt PEJ auf Anfrage.
"Die Kosten werden explodieren", heißt es vom polnischen Energieexperten Robert Tomaszewski. Er rechnet mit Investitionen von 35 Milliarden Euro, diese könnten auch auf die Stromrechnung jedes Einzelnen übertragen werden. Laut Tomaszewski stehe die Finanzierung noch nicht fest. Der Bau soll in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Unternehmen Westinghouse Nuclear erfolgen. Man versuche zudem, europäische Gelder zu erhalten. Bis 2043 sollen 25 Prozent des polnischen Stroms aus nuklearer Energie kommen. Auch in Zentralpolen will die Regierung ein Atomkraftwerk bauen. Zudem sind etliche kleine nukleare Reaktoren geplant.
Tomasz und Hanna sind nun am Ostseestrand angekommen. „Der schönste der Welt“, sagen sie. Das Meer hat von der nuklearen Aufregung noch nichts mitbekommen. Dabei hatte es großen Einfluss auf die Standortentscheidung. Das Meereswasser wird die drei Reaktoren kühlen, damit spart Polen enorme Mengen an Investitionskosten. Anschließend wird das Kühlwasser mit einer höheren Temperatur von 10 Grad Celsius mehr wieder in die Ostsee gepumpt. „Das hat Folgen für das Meer“, erklärt der Ozeanologe Jacek Piskozub. Er prognostiziert eine zunehmende Blaualgenblüte vor Ort, die den Badespaß gefährdet. Zudem befürchtet er weniger Futter für die Seevögel, weil die Fische durch das wärmere Wasser ausbleiben, und er sorgt sich um einen Zuwachs an sauerstofffreien Zonen, in denen kein Leben möglich ist. „Die Ostsee wird immer wärmer“, erläutert der polnische Ozeanologe mit Blick auf den Klimawandel. Er kritisiert die rechnerischen Modelle, die angewandt wurden, spielen sie doch die Umweltschäden herunter.
Tomasz, Hannah und 50 weitere Anwohner haben deshalb eine Initiative gegründet: Bałtyckie SOS. Sie organisieren Feste, blockieren Straßen, wecken am Strand mit dem Megaphon die Touristen auf, um auf den Bau des Kraftwerks hinzuweisen. Vor ihren Häusern hängen gelb-schwarze Plakate mit Totenköpfen. Die Aufschrift: Nie dla atomu – Nein zu Atom.
"Nein zu Vorurteilen und Egoismus. Ja zu Atomkraft"
Doch neben den Plakaten tauchen auch andere auf: „Nein zu Vorurteilen und Egoismus. Ja zu Atomkraft“, steht dort auf Polnisch. Denn Bałtyckie SOS gehört zur Minderheit. Laut einer Umfrage befürworten 87 Prozent der Polen Atomkraft, 2021 waren es nur 39 Prozent. Drei von vier Polen fänden es in Ordnung, wenn das Kraftwerk in ihrem Dorf errichtet wird. Dass die Zustimmung gestiegen ist, habe besonders mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu tun. Zudem sei das Verständnis in Polen gewachsen, dass Atomkraft eine saubere Energie sei, heißt es von den Studienleitern.
Sebastian Milewski selbst hat ein solches Pro-Atom-Plakat aufgehängt. Er betreibt eine Wäscherei nahe Choczewo. Das Atomkraftwerk bringe viel Wohlstand für die Region, sagt er. Gibt es doch keine Eisenbahnstrecke nach Danzig und kein Abwassersystem. Viele Jobs sind nur während der Sommersaison verfügbar. All das würde sich mit dem Atomkraftwerk ändern, glauben die Anwohner. Sebastian selbst hofft, dass seine Neffen dort angestellt werden. Laut der größten polnischen Tageszeitung werden 8.000 neue Jobs erwartet. Bałtyckie SOS erklärt , dass die Dorfbewohner schon jetzt beschenkt werden, hier mal ein neues Auto für die Feuerwehr, dort mal ein Dorffest. Es gebe Gerüchte um kostenlosen Strom für die Anwohner, sollte der Reaktor stehen.
Klimaschützer sind mehrheitlich Pro-Atom
Neben dem Wäschereibetreiber Sebastian sitzt Adam Blazowski. Der 47-jährige Softwareingenieur aus Warschau entwickelt erneuerbare Energien weltweit. Zudem ist er Sprecher der polnischen Klimaorganisation Fota4Climate. Adam ist Atomkraftbefürworter. Sein Argument: noch immer kommt der polnische Strom zu 60 Prozent aus Kohlekraft. Das ist der höchste Anteil in der gesamten EU. „Die Kohle vergiftet uns“, sagt der Klimaaktivist, der selbst viele Jahre neben einem polnischen Kohlekraftwerk gewohnt hat. Er sieht in der Atomkraft den einzigen Weg, damit Polen schnell und effizient grün wird. Er hat viele Argumente parat:
„Es gibt bereits andere AKWs an der Ostsee in Finnland, Schweden“, sagt er zu den Sorgen, dass das Meer aufgewärmt wird.
„Ich kann verstehen, dass sie Angst haben. Aber viele von ihnen seien erst später hergezogen. Sie wollen hier ihre kleine heile Heimat“, meint er zu Bałtyckie SOS.
„Ich würde im Meer schwimmen“, sagt er auf die Angst vor den Strahlen.
„Atommüll wird erst in einigen Jahrzehnten zum Problem. Finnland löst das Problem“, antwortet er auf die Frage des gefährlichen, nuklearen Mülls, der nach hunderttausend Jahren noch immer strahlt.
Deutsche Energiewende: "ein großer Fehler"
Und über den deutschen Atomkraftausstieg sagt er: „This is a huge horrible mistake.“ Die deutsche Energiewende sei ein großer Fehler. Weil Deutschland dadurch langfristig vom klimaschädlichen Erdgas abhängig werde. Auch der Bürgermeister der polnischen Gemeinde schießt gegen sein Nachbarland: "Das Beispiel Deutschland zeigt, dass die Abschaltung von Kernkraftwerken Investitionen in fossile Energieträger wie Gaskraftwerke erforderlich macht und das Land mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert wird. Die Energieimporte treiben die Preise in die Höhe und veranlassen einige Unternehmen dazu ins Ausland zu gehen." Die Kritik an der deutschen Energiewende geht bis an die Spitze der Wissenschaft in Polen. So sagt auch Szymon Malinowski, der renommierte Direktor des Instituts für Geophysik an der Universität Warschau, dass Deutschland mit dem Atomausstieg einen Fehler begehe.
Deutschland ist seit Jahren der größte CO₂-Emittent in der EU. Auch hier gibt es immer wieder Diskussionen über den Atomausstieg. Laut dem Sachsenkompass befürworten ein Drittel der Sachsen Kernkraft als Energiequelle. Dabei weiß man ganz klar: Atommüll strahlt Jahrmillionen, Reaktorunfälle sind nicht unwahrscheinlich, das benötigte Uran ist endlich und der Abbau gefährlich.
Für die Region waren schon zwei Atomkraftwerke geplant
Ob das Atomkraftwerk an der polnischen Ostsee am Ende wirklich entsteht, dazu gibt es im Dorf unterschiedliche Meinungen. Haben sie doch schon zweimal erlebt, wie bei Danzig ein Reaktor gebaut werden sollte und dann doch davon abgelassen wurde. Die Bauruinen stehen bis heute. Zuletzt gab es mediale Debatten darüber, ob über die Standortentscheidung innerhalb der neuen Regierung neu diskutiert wird. Derzeit arbeitet das Ministerium an einem Energieplan für Polen , denn auch die Regierung möchte auf Erneuerbare setzen. Atomkraft in Polen scheint dennoch die einfachste Lösung.
Tomasz und Hanna sehen das anders. Sie stehen noch immer am Strand und schauen auf Meer hinaus. Eine Plattform schwimmt dort in der Ferne. Sie misst Wind und Strömungen für einen Windpark, der im Wasser entstehen soll. „Alles ist besser als Atomkraft“, sagt das Paar.