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Wenn Mutti mit im Hörsaal sitzt

Werden Studierende unselbstständiger? Dr. Sabine Stiehler, (Leiterin Psychosoziale Studienberatung) & Claudia Meißner (Studierendenrat) sehen Anhaltspunkte.

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Wie viel elterliche
Unterstützung
hilft und
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eher zum Problem
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Leute?
Wie viel elterliche Unterstützung hilft und wann wird sie eher zum Problem für junge Leute? © Bild: Thorsten Eckert

Eltern, die ihre Kinder bis ins Klassenzimmer begleiten und jede Note mit dem Lehrer auswerten wollen, erwartet man an Grundschulen heute ja schon fast. Gibt es das Problem wirklich auch an der Universität?

Dr. Sabine Stiehler: Solche Fälle gibt es, ja. Und sie nehmen zu. Allerdings muss man das Ganze entsprechend einordnen. Ich schätze, dass sich bei zehn Prozent der Studenten Eltern über ein normales Maß hinaus einbringen

Was wäre denn ein normales Maß?

Dr. Sabine Stiehler: Dass Eltern ihre Kinder auf dem Weg in die Selbstständigkeit begleiten, dass sie bei der Suche nach einem passenden Studienfach beraten und dass sie beim Umzug ins erste eigene Zuhause am Studienort noch mit Kisten schleppen. Schließlich ist das keine einfache Lebensphase. Studienbeginn, das erste Mal allein wohnen, die erste ernste Beziehung, vielleicht die erste Trennung – es ist ganz normal, dass Eltern ihren Kindern da durchhelfen möchten. Schwierig wird es, wenn Eltern jeden Tag anrufen oder angerufen werden wollen, wenn die ganze Familie in der Whatsapp-Gruppe den Studienerfolg bewertet oder wenn jede Note abgefragt und im Zweifel dann auch noch selbst eingegriffen wird, wenn die ersten Klausuren nicht wie gewünscht ausfallen.

Claudia Meißner: Dazu muss man sagen, dass Lernen an der Uni anders ist als an der Schule. Es ist gut möglich, dass jemand sein Abitur mit 1,0 gemacht hat und bei der ersten Klausur an der Uni geradeso eine Vier schafft. Dann ist es aber auch wichtig, zu wissen, dass eine Vier in manchen Fächern ein durchaus annehmbarer Start ist, weil in den ersten Klausuren kaum jemand Einsen oder Zweien schreibt. Trotzdem kann eine schlechte Note heute schon häufig für sehr viel Stress und wohl auch Angst sorgen.

Weil die eigene hohe Erwartung nicht erfüllt wird?

Dr. Sabine Stiehler: Die eigene oder die der Eltern. Das ist zum Beispiel ein Aspekt, wenn es um Helikoptereltern geht. Manchmal projizieren Eltern unbewusst eigene, nicht erreichte Lebensziele auf ihre Kinder. Die wiederum erzählen in einem Beratungsgespräch oft zuerst völlig überzeugt, dass sie natürlich ihr Wunschfach studieren. Manchmal fällt dann aber schon nach ein paar Fragen auf, dass hier wohl eher die Eltern (zumindest mit-)entschieden haben.

Welche Probleme haben Kinder, deren Eltern auch im Studium noch sehr stark Einfluss auf ihr Leben nehmen?

Claudia Meißner: Wir merken oft eine gewisse Hilflosigkeit. Zum Beispiel, wenn Erstsemester zur Beratung kommen, weil sie nicht wissen, wann man sich für Prüfungen anmelden muss. Die Frage an sich ist kein Problem, allerdings lässt sich die Antwort leicht selbst im Internet herausfinden. Außerdem ist das Thema in den Einführungsveranstaltungen. Oft hat derjenige aber noch nicht einmal selbst nachgeschaut. Solche Situationen gibt es heute öfter. Dass die Waschmaschine im Keller des Studentenwohnheims manchmal sehr grundsätzliche Fragen der Bedienung aufwirft, ist vielleicht auch ein gutes Beispiel dafür. Immerhin stehen ältere Semester da meist schnell und gern mit Hilfe zur Seite.

Dr. Sabine Stiehler: Einerseits gibt es natürlich eine gewisse angewöhnte Bequemlichkeit. Es ist ja erstmal angenehm, wenn man sich um viele Dinge nicht selbst kümmern musste, weil die Eltern das tun. Aber auch Angst und Scham spielen oft eine Rolle. Dann fällt die Abgrenzung schwer. Etwa, wenn eine Studentin, die noch zu Hause wohnt, sich nicht traut, ein „Bitte nicht stören“-Schild an ihre Zimmertür zu hängen, um zu verhindern, dass die Mutter einfach hereinkommt. Oder wenn ein Student ein schlechtes Gewissen hat, wenn er nicht täglich zu Hause anruft, weil er das Gefühl hat, sich um seine Mutter kümmern zu müssen. Manchmal kehrt sich die Eltern-Kind-Beziehung sogar um. Die Gefahr ist noch höher, wenn die Eltern getrennt sind, also die Mutter oder der Vater nach dem Auszug des Kindes vermeintlich verlassen zurückbleibt. Auch das Thema der sogenannten „Arbeiterkinder“ kann hier mit hineinspielen.

Inwiefern?

Dr. Sabine Stiehler: Wenn das Kind das erste Familienmitglied ist, das studiert, sind oft alle Beteiligten unsicher. Das kann zu einem höheren Kontrollbedürfnis bei den Eltern und viel Druck bei den Kindern führen. Sie wollen, dass alles nach Plan läuft, was das Leben und damit auch das Studium aber nicht immer tun. Die vielen neuen Erfahrungen lassen außerdem manchmal das sichere und gewohnte Zuhause noch einmal besonders wichtig erscheinen. Das macht es schwer, wirklich im selbstverantwortlichen Leben anzukommen, zu dem ja mehr gehört als das reine Studium.

Das Studium soll ja eigentlich eine Zeit des Ausprobierens sein…

Dr. Sabine Stiehler: Ja, das ist die große Chance dieser Lebensphase. Man kann sich in etwas versuchen und im Zweifel auch entscheiden, dass ein anderer Weg besser wäre. Manchmal sagen Studierende in der Beratung, dass sie große Angst haben, Zeit zu verlieren. Ich frage dann schon mal zurück, warum das denn so schlimm wäre und ob es nicht – im Gegenteil – vielleicht gerade jetzt der passende Moment ist, einmal ein wenig Zeit zu verlieren.

Claudia Meißner: Und es ist die Zeit, um Fragen zu stellen und auch mal über den Tellerrand zu schauen. Oft haben Studierende aber auch Angst, einen Professor zu fragen, weil sie etwas nicht verstanden haben oder generell unsicher sind. Das geben sie dann erst bei uns in der Beratung zu. Die Professoren beklagen andererseits, dass ihre Sprechstunden oft gar nicht mehr genutzt werden. Die meisten von ihnen freuen sich über Feedback, weil sie ja sonst auch nicht erfahren, ob ihre Lehrveranstaltungen auch wirklich verständlich sind.

Was können Eltern tun, um ihren Kindern gerade kein Helikoptergefühl zu vermitteln?

Dr. Sabine Stiehler: Fragen, was das Kind tatsächlich möchte, bei den Antworten zuhören und diese auch aushalten. Denn natürlich kann es sein, dass Sohn oder Tochter ein ganz anderes Ziel haben als die Eltern erhofft haben. Außerdem muss man sich darüber im Klaren sein, dass der Auszug des Kindes das Familienleben neu strukturiert. Vor allem, wenn das letzte Kind das Haus verlassen hat, ändert sich eine ganze Menge. Eltern müssen sich also überlegen, wie sie ihren Alltag für sich und auch miteinander im „empty nest“ neu organisieren. Wenn das gelingt, klappt auch das Loslassen der erwachsenen Kinder besser. Zuerst aber muss die Leerstelle in der Familienstruktur akzeptiert werden.

Wie helfen studentische und professionelle Beratungsstellen, wenn die Abnabelung doch zum Problem wird?

Claudia Meißner: Wir hören zu und raten den Studierenden oft, sich etwas zu suchen, was einem neben dem Studium Spaß macht. Das kann studentisches Engagement sein oder ein Hobby, bei dem man dann auch andere Studierende kennenlernt. Dann geht es schon mal nicht mehr nur um Klausuren und Noten. Das hilft beim Ankommen. Und wir vermitteln bei größeren Problemen natürlich auch zur Psychosozialen Beratungsstelle. Auffällig ist, dass inzwischen immer mehr Erst- und Zweitsemester Hilfe suchen.

Dr. Sabine Stiehler: Früher tauchten tiefgreifendere Probleme oft erst auf, wenn eine Prüfung zum zweiten Mal nicht bestanden wurde und nun das ganze Studium auf der Kippe steht. Heute fallen manchen schon die ersten Schritte recht schwer. Wobei man hier auch sagen muss, dass wir heute mehr sehr junge Studierende haben; manche sind erst 17 Jahre alt. Das spielt natürlich auch eine Rolle. Wir tun dann das, was ich auch Eltern rate: Wir fragen, was der Studierende tatsächlich will. Und wenn dann beim Thema „Kontakt zu den Eltern“ herauskommt, dass jemand vielleicht nur einmal pro Woche zu Hause anrufen möchte, spielen wir ganz konkret durch, wie man das den Eltern vermitteln könnte.

Dr. Sabine Stiehler ist Medizinsoziologin, Erziehungswissenschaftlerin und Psychologische Beraterin. Sie leitet die Psychosoziale Beratungsstelle des Studentenwerks Dresden

Claudia Meißner studiert Verfahrenstechnik und Naturstofftechnik und ist Referentin für Soziales beim Studierendenrat der TU Dresden, der ebenfalls eine Studienberatung anbietet.

Autor: Annett Kschieschan

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