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Wie die Kiewer den Kriegsalltag meistern

Fast jede Nacht wird die ukrainische Hauptstadt aus der Luft angegriffen, zuletzt meist mit russischen Drohnenschwärmen. Tagsüber erscheint das Leben normal. Aber nur auf den allerersten Blick, wie SZ-Reporter Olaf Kittel vor Ort berichtet.

Von Olaf Kittel
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Auf dem Platz vor dem Michaelskloster in Kiew wurde das riesige Denkmal der Heiligen Olga symbolisch mit einer Schutzweste versehen.
Auf dem Platz vor dem Michaelskloster in Kiew wurde das riesige Denkmal der Heiligen Olga symbolisch mit einer Schutzweste versehen. © Matthias Schumann

Wieder ist es 23.30 Uhr. Wieder heulen die Sirenen zum ersten Mal in dieser Nacht. Kurz darauf springt die Luftalarm-App „AirAlert!“ mit einem durchdringenden Signalton und der Aufforderung an, sofort Schutzräume aufzusuchen. Jede und jeder in der Ukraine soll die App auf dem Smartphone haben. Wir ziehen uns rasch wieder an und laufen im Hotel einen markierten Weg treppab bis in den Keller und erreichen den mit „Shelter“ bezeichneten Schutzraum, der tagsüber Fitnesscenter ist.

Zu unserer Überraschung sind wir die Einzigen, die hier Schutz suchen. Wir erfahren später, dass die Kiewer in der App auch herauslesen können, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass Kiew betroffen sein wird und mit welchem Waffensystem die Russen gerade angreifen. „Nur“ Drohnen oder auch Raketen?

Zwanzig Minuten danach der nächste Luftalarm, dann kommt eine erste Entwarnung. Wieder hoch in die Zimmer. Aber an ruhigen Schlaf ist nicht zu denken. Die App schlägt in dieser Nacht aller 20 bis 30 Minuten an. Um drei Uhr stelle ich sie ab. Am Morgen heißt es, dass wir in dieser Septembernacht 2024 den mit neun Stunden längsten Luftalarm in Kiew seit Kriegsbeginn erlebt haben. Zahlreiche Shahed-Drohnen „Made in Iran“ kreisten über der Stadt, viele wurden abgeschossen, auch direkt über dem Zentrum.

Das Kopfkissen im Kofferraum

Von den sechs Nächten, die wir in Kiew verbracht haben, gab es fünf mit Luftalarm, mindestens zwei- bis dreimal. Terror zur Schlafenszeit, der nach zweieinhalb Jahren vielen Kiewern die Nerven geraubt hat, vor allem Eltern mit Kindern. Dolmetscherin Natalija zeigt uns in ihrem Kofferraum Kopfkissen und Decke. Bei Luftalarm schläft sie im Auto in der Tiefgarage. Sie wohnt in der Nähe eines militärischen Objektes, jetzt denkt sie über Umzug nach.

Alle paar Minuten schrillte die Warnapp in jener Septembernacht 2024, weil es russische Angriffe auf Kiew gab.
Alle paar Minuten schrillte die Warnapp in jener Septembernacht 2024, weil es russische Angriffe auf Kiew gab. © Repro Matthias Schumann

Am Morgen werden im ukrainischen TV-Programm die Ereignisse der Nacht aufgearbeitet, Frontberichte verlesen und Expertenmeinungen abgefragt. Moderatoren präsentieren den Krieg in allen Facetten Tag für Tag und rund um die Uhr vor wehender ukrainischer Nationalflagge.

Ein paar Schritte aus dem Hotel, und der Kontrast am Morgen könnte nicht größer sein: Der Autoverkehr flutet vielspurig durch das Zentrum der Stadt, Menschen hasten zur Arbeit oder nehmen entspannt im Straßencafé das erste Frühstück ein. Um die Ecke demonstrieren Kiewer lautstark und mit vielen Transparenten gegen die Rodung eines Waldgebietes, dort soll ein Soldatenfriedhof eingerichtet werden. Die Polizei schützt die Kundgebung vor dem Straßenverkehr.

Die Leiden sind sichtbar

Die Geschäfte haben am Morgen ganz normal geöffnet, die Regale sind ordentlich gefüllt. Erst beim zweiten Blick fällt auf, dass drinnen wenig los ist. Die Preise sollen seit Kriegsbeginn erheblich gestiegen sein, viele Kiewer kaufen nur noch das Nötigste. Die große Bessarabska-Markthalle im Zentrum ist zur Hälfte mit Planen zugehängt, an den sehr bescheidenen Ständen in der anderen Hälfte gibt es kaum Kunden.

Beim Bummel über die Hauptstraße Chrestschatik ist dann plötzlich der Krieg wieder greifbar: Eine Kolonne schwarzer Autos fährt langsam die Straße entlang, aus einem Lautsprecher des Führungsfahrzeuges dröhnt ununterbrochen eine pathetische Männerstimme, die den Tod eines Helden an der Front bekanntgibt. Die Kolonne stoppt am Maidan. An dem zentralen Platz kommt der Verkehr zum Stehen.

Die Tür eines nachfolgenden Kleinbusses öffnet sich, drei Frauen in Trauerkleidern werden auf die Straße begleitet. Eine von ihnen, dem Alter nach die Mutter des Toten, bricht schreiend zusammen. Mehrere Passanten knien spontan mitten auf der mehrspurigen Trasse nieder, den Kopf gesenkt. Dann werden die Frauen in den Wagen zurückgebracht, bevor die Kolonne ihren Weg fortsetzt.

Ein Mann kniet aus Respekt vor einem Trauerzug. In dem Transporter ist der Sarg eines Gefallenen. Familienangehörige trauern.
Ein Mann kniet aus Respekt vor einem Trauerzug. In dem Transporter ist der Sarg eines Gefallenen. Familienangehörige trauern. © Matthias Schumann
Ein Wohnblock im Stadtteil Hatne, der von einer russischen Zyklonrakete getroffen wurde.
Ein Wohnblock im Stadtteil Hatne, der von einer russischen Zyklonrakete getroffen wurde. © Matthias Schumann
Auf dem Maidan
demonstrieren Frauen, um an die Kriegsverschollenen 
zu erinnern.
Auf dem Maidan demonstrieren Frauen, um an die Kriegsverschollenen zu erinnern. © Matthias Schumann
Familie Prisch konnte aus dem Gebiet Cherson nach Kiew fliehen. Mutter Nadija mit den Kindern Artiom und Anastasia vor dem Aufnahmezentrum.
Familie Prisch konnte aus dem Gebiet Cherson nach Kiew fliehen. Mutter Nadija mit den Kindern Artiom und Anastasia vor dem Aufnahmezentrum. © Matthias Schumann
Auf einem großen Plakat an einem Verwaltungsgebäude wird die Freilassung der Soldaten gefordert, die in Mariupol gefangen genommen wurden.
Auf einem großen Plakat an einem Verwaltungsgebäude wird die Freilassung der Soldaten gefordert, die in Mariupol gefangen genommen wurden. © Matthias Schumann
Hier wird jetzt schon darum geworben, nach dem Ende des Krieges Kiew zu besuchen und zu unterstützen.
Hier wird jetzt schon darum geworben, nach dem Ende des Krieges Kiew zu besuchen und zu unterstützen. © Matthias Schumann
Blick auf Kiew über das Höhlenkloster Lavra, den Fluss Dnipro und die Statue Mutter Heimat. Der untere Teil des Höhlenklosters ist zur Zeit nicht zugänglich. Es gehört zum Moskauer Patriachat, das wegen der Unterstützung Moskaus zur Zeit nicht praktizieren darf.
Blick auf Kiew über das Höhlenkloster Lavra, den Fluss Dnipro und die Statue Mutter Heimat. Der untere Teil des Höhlenklosters ist zur Zeit nicht zugänglich. Es gehört zum Moskauer Patriachat, das wegen der Unterstützung Moskaus zur Zeit nicht praktizieren darf. © Matthias Schumann

Nur wenige Meter entfernt steht Tag für Tag ein Mann mit einem Bein aus Metall, der ein Schild hochhält, auf dem sinngemäß steht: Leg deine Hand aufs Herz und lächle.

Kinderkrankenhaus bombardiert

Das Lächeln ist uns vergangen beim Besuch des im Sommer bombardierten Kinderkrankenhauses Ochmatdyt. Eine russische Rakete vom Typ Kh-101 hatte am 8. Juli den OP-Trakt getroffen, in dem gerade schwerkranke Kinder operiert wurden. Der Angriff hatte weltweit Entsetzen ausgelöst. Zwei Menschen starben, 32 wurden verletzt, darunter viele Kinder.

Vor Ort ist zu erkennen, dass die Rakete nicht nur den OP-Trakt zerstörte, davon gibt es viele Bilder, sondern weitere Gebäude und die Fassade des gewaltigen Betten-Hochhauses in eine Trümmerwüste verwandelte. Noch immer wird gerätselt, ob die Russen eigentlich ein strategisches Objekt in der Nähe treffen wollten oder ob sie es tatsächlich fertig brachten, ein Krankenhaus für krebskranke Kinder zu beschießen.

Ein Mann mit Beinprothese hält in der Kiewer Innenstadt ein Plakat mit der Aufschrift: "Lege deine Hand aufs Herz und lächle!"
Ein Mann mit Beinprothese hält in der Kiewer Innenstadt ein Plakat mit der Aufschrift: "Lege deine Hand aufs Herz und lächle!" © Matthias Schumann
Beim Anblick des zerstörten Kinderkrankenhaus es Ochmadyt kann niemand mehr lächeln.
Beim Anblick des zerstörten Kinderkrankenhaus es Ochmadyt kann niemand mehr lächeln. © Matthias Schumann

Ein kleiner Trost bei all dem Elend, so berichten Krankenhaus-Mitarbeiter: Es ist eine enorme weltweite Unterstützungsaktion für Wiederaufbau und Ausrüstung in Gang gekommen. Deutsche Krankenhäuser haben krebskranke Kinder zur Behandlung übernommen.

Hoffnung auf Friedensgespräche

So kann und darf dieser Krieg nicht weitergehen. Das weiß auch Denis Trubetskoy, in Deutschland wohl der bekannteste ukrainische Journalist mit 47.000 Followern auf X, ehemals Twitter. Er hofft mit vielen seiner Landsleute auf einen baldigen Waffenstillstand. Aber es muss schon ein bedingungsloser sein, erklärt er im Gespräch, und dazu sei Putin noch längst nicht bereit. Wie auch das offizielle Kiew fordert Trubetskoy, dass der Westen jetzt schnell weitreichende Waffen freigeben sollte, um Stützpunkte der Russen weit hinter der Grenze angreifen zu können, um ihnen maximal zu schaden.

Dies soll die Verhandlungsposition der Ukraine stärken als Voraussetzung für einen Waffenstillstand und anschließende Friedensgespräche. Damit liegt Trubetskoy auf der Linie von Präsident Selenskij, der nächste Woche in den USA Joe Biden, Kamala Harris und Donald Trump seinen „Siegesplan“ vorstellen will, der wohl ein Friedensplan werden soll. Von diesen Gesprächen wird für die Ukraine eine Menge abhängen.

Der Journalist Denis Trubetzkoy am Kontraktova Platz in Podil. Auch er wünscht sich einen Waffenstillstand - aber keinen bedingungslosen.
Der Journalist Denis Trubetzkoy am Kontraktova Platz in Podil. Auch er wünscht sich einen Waffenstillstand - aber keinen bedingungslosen. © Matthias Schumann

Am frühen Abend dann dröhnt es auf dem Chrestschatik ohrenbetäubend und aus allen Richtungen. Es gibt wieder keinen Strom, und die Geschäfte und Restaurants haben ihre Generatoren angeworfen. Große Generatoren und kleine Generatoren, alle angekettet, sie sind gerade ein rares Gut in der Ukraine. Die Kiewer scheint es nicht mehr zu stören, sie schlendern vorbei und essen Eis, sie sitzen auch direkt neben lärmenden Generatoren an Restauranttischen und plaudern, nun eben lauter.

Angst vor dem nächsten kalten Winter

Die Inhaber der Geschäfte und Lokale haben kaum eine Wahl, wenn sie weiter Umsatz machen und nicht schließen wollen. Denn Stromabschaltungen gibt es täglich viele Stunden lang. Nur wenige Gastronomen holen dann einfach Kerzen raus und stellen auf kalte Küche um.

Denis Trubetskoy hat es analysiert: Die Russen bombardierten im vergangenen Jahr vorwiegend Umspannwerke in der Ukraine, um möglichst schnell möglichst großen Schaden am Energienetz anzurichten. Jetzt, im Juli 2024, haben sie die Kraftwerke direkt angegriffen und erneut schwere Schäden verursacht überall im Land. Trubetskoy hofft, dass die schon mal genannten 85 Prozent zerstörter Infrastruktur übertrieben sind, damit Putin die Kraftwerke nicht noch einmal angreifen lässt. Zuletzt gingen Beobachter von 60 Prozent zerstörter Energieinfrastruktur aus. Schlimm genug. In der Ukraine geht längst die Angst um vor dem nächsten Winter.

Iryna Hubarets, sie arbeitet in Kiew im Energiesektor, informiert über die aktuelle Lage: Drei- bis viermal täglich gibt es jetzt stundenlange Stromunterbrechungen, besonders am frühen Morgen und gegen Abend, wenn in normalen Zeiten der Verbrauch hoch ist, der Strom in Privathaushalten besonders benötigt wird. Nur wer einen Generator hat und Geld für den Treibstoff, kann diese Stunden überbrücken. Unternehmen können das, Hotels auch, wir haben keine Stromausfälle erlebt.

Frau Hubarets erklärt, was das für diejenigen bedeutet, die sich nicht behelfen können: Die Wohnungen sind dunkel, viele können nicht kochen, Kühlschränke tauen ab, in den Hochhäusern kann kein Wasser mehr in die oberen Stockwerke gepumpt werden, das W-Lan fällt aus. Damit sind die überlebenswichtigen Informationskanäle eingeschränkt. Und weil auch die Heizkraftwerke getroffen wurden, dürfte es in vielen Wohnungen sehr kalt werden im nächsten Winter bei Außentemperaturen von bis zu minus 20 Grad. Generatoren und Sonnenkollektoren sind in Kiew kaum noch zu bekommen.

22 Uhr ist schlagartig Schluss mit dem Lärm. Die Generatoren werden abgeschaltet, die letzten Restaurants müssen schließen, so ist es angeordnet. Nachtleben ist untersagt im Krieg. Um diese Zeit gibt es kaum noch Straßenbeleuchtung. Der Verkehr rollt noch bis Mitternacht weiter, wenn die Sirenen oft genug bereits den ersten Luftalarm der Nacht angekündigt haben. Bis fünf Uhr gilt dann die Ausgangssperre, der Verkehr ruht. Aber viele Kiewer werden wieder sehr schlecht schlafen.