Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
SZ + Sachsen

Mit dem Flixbus in den Ukrainekrieg

Von Dresden ist Kiew täglich in 22 Stunden direkt zu erreichen. Aber wer macht das und warum? Sächsische.de-Reporter fahren mit, erleben Trauriges und Erwartungsfrohes – und treffen auf einen wahren Glücksfall.

Von Olaf Kittel
 9 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Halt in Lwiw (Lemberg) auf dem Weg nach Kiew: Alina, Arthur und Jana, Julia, Julia, Katharina und Anastasia (v. l.) haben den SZ-Reportern erzählt, was sie gerade jetzt in der Ukraine vorhaben.
Halt in Lwiw (Lemberg) auf dem Weg nach Kiew: Alina, Arthur und Jana, Julia, Julia, Katharina und Anastasia (v. l.) haben den SZ-Reportern erzählt, was sie gerade jetzt in der Ukraine vorhaben. © Matthias Schumann

Dresden/Kiew. Um 22 Uhr, es ist längst dunkel in Dresden, die meisten Fahrgäste treten an der Fernbushaltestelle hinter dem Hauptbahnhof unruhig von einem Bein auf das andere. Sie warten schon fast zwei Stunden auf den Flixbus aus Stuttgart, der sie nach Kiew bringen soll. Staus auf deutschen Autobahnen halten ihn auf, der letzte in Sachsen auf der A4 bei Wilsdruff, wo sonst.

Als er endlich ankommt, wird das schwere Gepäck verstaut, dann suchen sich die Dresdner Zusteiger mühsam ihren Platz, denn es ist dunkel im halbvollen Bus, viele Passagiere ruhen oder schlafen schon. Viele jüngere Frauen sind darunter, ein paar Kinder, ältere Paare. Ukrainische Männer im wehrfähigen Alter dürfen ja nicht aus dem Land. Sie alle haben den einzigen Flixbus gewählt, der sie täglich von Dresden direkt in die ukrainische Hauptstadt bringt. Alle anderen Verbindungen verlangen Umstiege in Berlin, Prag oder in Polen und dauern einige Stunden länger.

Noch 16 Stunden bis Kiew

23.30 Uhr ist die deutsch-polnische Grenze bei Ludwigsdorf passiert, der Bus steuert hinter Zgorzelec einen Rastplatz an. Die Raucher sind zuerst draußen, andere zieht es zur Toilette, wieder andere besorgen sich noch Verpflegung, in Polen soll es die ganze Nacht hindurch keine weitere Möglichkeit dafür geben. Ein Baby wird wach und beginnt zu schreien.

Baby an Bord: Auch eine Mutter mit kleinem Kind hat sich auf dem Weg in die Ukraine gemacht.
Baby an Bord: Auch eine Mutter mit kleinem Kind hat sich auf dem Weg in die Ukraine gemacht. © Matthias Schumann

Nach zehn Minuten geht es weiter. Das Baby hat sich beruhigt, die Mama hat die Sessellehne zurückgeschoben und sich ihr Kind auf den Bauch gelegt, nun nuckelt es selig. Einige junge Frauen haben sich einige der wenigen freien Sitzbänke gesucht und rollen sich dort zusammen, je kleiner sie sind, umso einfacher geht das. Erfahrene Langstrecken-Busreisende haben Nackenrollen dabei.

3.30 Uhr verlässt der Flixbus die Autobahn und fährt nach Katowice hinein. In einem verlassenen Lagergebiet steigen die beiden Fahrer aus, die den Bus abwechselnd von Stuttgart bis hierher gesteuert haben, zwei frische ukrainische Buslenker übernehmen. Noch 16 Stunden bis Kiew.

Der Krieg hat viele Paare getrennt

Zwei Stunden später ist Ostpolen erreicht, die ersten kleinen Fahrgäste melden sich lautstark, immer mehr Handydisplays leuchten auf, der erste lauwarme Kaffee aus mitgebrachten Thermoskannen soll die Müdigkeit vertreiben. Alina – wir haben mit unseren Gesprächspartnern vereinbart, nur die Vornamen zu nennen – ist schon putzmunter und zu einem Schwatz bereit.

Die fröhliche junge Frau um die 30 stammt aus Kiew, war dort Zollbeamtin auf dem Flughafen. Vor zweieinhalb Jahren, als die Russen die Ukraine überfielen, bis an die Hauptstadt heranrückten und der Airport geschlossen wurde, floh sie nach Deutschland. Sie lebt seither in Stuttgart, verbesserte dort ihr Schuldeutsch und fand eine Arbeit, um rasch eigenes Geld zu verdienen. Jetzt möchte sie auf dem Stuttgarter Flughafen wieder in ihrem Beruf als Zollbeamtin arbeiten und dauerhaft in Deutschland leben. Ihre Ehe in Kiew ist geschieden, ihr geht es wie so vielen ukrainischen Paaren, die der Krieg getrennt hat.

22 Stunden dauert die Flixbusfahrt von Dresden über Lwiw (Lemberg) nach Kiew.
22 Stunden dauert die Flixbusfahrt von Dresden über Lwiw (Lemberg) nach Kiew. © Matthias Schumann

8.20 Uhr ist die polnisch-ukrainische Grenze erreicht, das große Warten beginnt. Nastja, Anfang 20, eine Sitzreihe vor Alina, erzählt, dass sie auch schon mehr als zwei Jahre in Thüringen lebt. Sie spricht sehr gut Deutsch und wird im Herbst ein Studium an der Bauhaus-Akademie in Ettersberg bei Weimar beginnen. Zuvor möchte sie aber ihre Familie wiedersehen, sie fährt zum dritten Mal auf dieser Strecke. Wird sie nach dem Studium in ihre Heimat zurückkehren? Schulterzucken.

Inzwischen ist eine gut bewaffnete, ziemlich unfreundliche polnische Grenzbeamtin im Bus aufgetaucht. Sie sammelt die Pässe ein, vor allem blaue ukrainische und einige wenige rote deutsche. Sie verschwindet damit in einer Baracke.

In der Reihe neben Nastja sitzt Julia, eine junge, zurückhaltende Frau mit hochgestecktem dunklen Haar. Auch sie lebt in Stuttgart, spricht kaum Deutsch, aber gutes Englisch. Sie studiert Jura und möchte „Advocat“ werden, Anwältin.

Hoffnung, dass der Krieg bald endet

Nach einer halben Stunde bekommen wir die Pässe zurück, der Bus rollt bis zur ukrainischen Grenzstation, die mit einem freundlichen „Ukraina witas was“ grüßt. Alina, die fröhliche Kiewerin aus Stuttgart, hat Herzklopfen, sagt sie. Sie reist zum ersten Mal seit Kriegsbeginn in die Ukraine. „Es ist schön, wieder in die Heimat zu kommen.“ Sie hofft, dass dieser Krieg in den nächsten Monaten endet. „Viele denken das.“ Oder hoffen es zumindest.

Warten auf die ukrainischen Grenzbeamten. Die Pässe werden erneut eingesammelt, wieder warten. Nach zwei Stunden ist die Prozedur geschafft. Auf der Rückfahrt, bei der Einreise in den Schengenraum, wird es vier Stunden dauern. Dann müssen alle mit dem gesamten Gepäck aussteigen und es durchleuchten lassen, ein Drogenhund wird die Fahrgäste beschnüffeln, der leere Bus geröntgt. In der Gegenrichtung wird dann zur gleichen Zeit eine lange Reihe von Tiefladern mit abgedeckten Panzerfahrzeugen die Grenze von Polen in die Ukraine passieren.

Fahrer Sergej lenkt den Flixbus auf der Fahrt nach Kiew.
Fahrer Sergej lenkt den Flixbus auf der Fahrt nach Kiew. © Matthias Schumann

Kurz nach der Grenze, auf dem Weg nach Lwiw (Lemberg), wird endlich eine Raststätte angefahren. Frischer Kaffee, Frühstück und mal nicht die Bordtoilette. Der Bus wird mit 352 Litern preiswertem ukrainischen Treibstoff betankt.

Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass zwei deutsche Reporter im Bus mitreisen. Marko aus Frankfurt am Main stellt sich vor, einer der wenigen Deutschen im Bus. Er fährt tatsächlich als Tourist nach Lemberg, dort, im Westen der Ukraine, sei es ja relativ sicher, meint er. Einige Tage später wird die Altstadt von einem russischen Raketenschlag getroffen, mehrere Zivilisten sterben. Marko hofft auf baldigen Frieden, weil er so bald wie möglich die gesamte Ukraine bereisen will.

"Ich hasse Putin!"

Marko hat einen Tipp für die Sächsische.de-Reporter: Sprecht doch mal mit der Frau in der letzten Busreihe. Er meint Katerina, eine Frau Ende 40, auch sie ist sofort bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Sie lebt bei München, auch sie ein Kriegsflüchtling. Sie ist sehr kurzfristig zu dieser Busfahrt in ihre Heimatstadt Sumy an der russischen Grenze aufgebrochen. Zwei Tage vor unserem Zusammentreffen ist ihre Mutter ums Leben gekommen. Eine russische Rakete hatte sie auf dem Weg zum Supermarkt getroffen. Jetzt muss sie sich beeilen, um die Beerdigung nicht zu verpassen.

Katerina steht in der Heimat ein zweiter schwerer Gang bevor. Ihr Bruder war eineinhalb Jahre an der Front. Er hat Nahkämpfe erlebt, er erschrak vor schrecklichen Wunden, er sah Menschen sterben. „Er ist völlig fertig. Er säuft den ganzen Tag. Er trinkt sich ins Grab“, sagt Katerina. Sie wird versuchen, ihrem Bruder vorübergehend eine Stütze zu sein.

„Ich hasse Putin!“, sagt sie noch.

Von rechts: Alina aus Stuttgart fährt zum ersten Mal seit zwei Jahren zurück in ihre Heimatstadt Kiew, Jana aus Kiew will Arthur (russlanddeutscher Augenarzt) heiraten, Jurastudentin Julia (Mitte), Anastasia aus Weimar besucht ihren Vater in Kiew, Katerin
Von rechts: Alina aus Stuttgart fährt zum ersten Mal seit zwei Jahren zurück in ihre Heimatstadt Kiew, Jana aus Kiew will Arthur (russlanddeutscher Augenarzt) heiraten, Jurastudentin Julia (Mitte), Anastasia aus Weimar besucht ihren Vater in Kiew, Katerin © Matthias Schumann

Eine Stunde später erreicht der Bus Lemberg und fährt einmal quer durch die alte Stadt mit ihrer habsburgischen Architektur, wie man sie auch in Brünn, Zagreb und vielen anderen Städten Ost- und Mitteleuropas findet. Weitgehend erhalten, aber stark bröckelnd, im Zustand wie nordböhmische Städte in den 90er-Jahren.

In den Außenbezirken aber boomt es: In die vermeintlich sichere Stadt weitab von der Front sind nicht nur viele Ukrainer geflohen, auch viele Unternehmer zieht es her, die ihr Business neu aufbauen. Wohnhäuser werden hochgezogen, Fabrikhallen und Logistikzentren entstehen auf der grünen Wiese, riesige Photovoltaikanlagen sollen den Strom sichern.

Gut 60 Euro für gut 1.300 Kilometer

Der Bus hält in Lemberg zweimal, neue Fahrgäste steigen zu für die immer noch achtstündige Fahrt bis Kiew. Wir kommen mit Julia ins Gespräch, einer jungen Frau aus Charkiw, die eine besonders lange Busreise auf sich nimmt. Sie ist Tänzerin und war bei einem Festival in Innsbruck. Nun ist sie auf der Rückfahrt über München und Stuttgart und Kiew bis in ihre Heimatstadt, nicht weit weg von der russischen Grenze. Zwei Tage und zwei Nächte sitzt sie dafür im Bus. „Ist billiger als die Eisenbahn“, ist die kurze wie einleuchtende Begründung. Für die gut 1.300 Kilometer von Dresden nach Kiew haben wir nicht viel mehr als 60 Euro bezahlt.

Und Julia will wirklich wieder zurück nach Charkiw? Die zweitgrößte ukrainische Stadt wird ständig bombardiert, und ihre Bewohner leben mit der Bedrohung, von russischen Truppen zerstört und besetzt zu werden. „Aber es ist meine Heimat. Die Stadt lebt, die Kultur lebt. Wir geben die Hoffnung nicht auf“, erklärt sie.

Fotograf Matthias Schumann und Sächsische.de-Autor Olaf Kittel (v. l.) sind mit dem Flixbus von Dresden nach Kiew mitgefahren. Im Gepäck: Fußbälle für ukrainische Schulkinder.
Fotograf Matthias Schumann und Sächsische.de-Autor Olaf Kittel (v. l.) sind mit dem Flixbus von Dresden nach Kiew mitgefahren. Im Gepäck: Fußbälle für ukrainische Schulkinder. © Matthias Schumann

Nach Lemberg wird die Landschaft immer flacher, werden die Felder immer größer: Weizen und Mais sind geerntet, die Sonnenblumen stehen noch. Obstbäume, Kürbisfelder, Fischteiche. Dörfer mit schlichten Häusern und „Produkty“-Läden. Kleine orthodoxe Kirchen mit goldenen Kuppeln. Auf den Friedhöfen stets mehrere frische Soldatengräber mit aufgepflanzten blau-gelben ukrainischen Fahnen.

Ludmilla ist mit ihrem zwei Monate alten Töchterchen nach Kiew unterwegs. Auch sie fand Zuflucht im sicheren Deutschland. Aber sie bekommt gerade nicht die nötige medizinische Behandlung für sich und ihr Kind. Flüchtlinge erhalten in Deutschland nur die notwendigsten Behandlungen genehmigt. Deshalb die lange Busfahrt.

Zum Heiraten nach Kiew

Letzter Halt in Schytomir, einem Verkehrsknoten und Industriezentrum mit vielen Plattenbauten.

Hier muss noch eine besondere Geschichte von zwei jungen Menschen erzählt werden. Es ist die Geschichte von Arthur und Jana. Arthur stammt aus einer deutsch-russischen Aussiedlerfamilie, er lebt bei Bautzen und ist Augenarzt. Jana lebt in Kiew. Sie besuchte vor einiger Zeit eine gute Freundin, die vor dem Krieg in die Nähe von Bautzen geflohen war. Arthur und Jana lernten sich zufällig bei dieser Freundin kennen und verliebten sich. Sie blieben zusammen, sie sind glücklich. Auf dieser Busfahrt kann niemand dieses Glück übersehen haben.

Und jetzt fahren die beiden mit ihrer russischen und ihrer ukrainischen Vergangenheit mitten im Krieg zusammen nach Kiew, um zu heiraten. Freilich nur im kleinen Kreis der Familie und der engsten Freunde. Aber diese Hochzeit muss jetzt sein, erklären sie. Dieses Glück kann nicht warten.

Zurück in der Heimat

Nach 22 Stunden Fahrt ist Kiew erreicht. Alle Fahrgäste sind jetzt putzmunter, auch die junge Frau mit den aufgespritzten Lippen, der ältere Mann im Tarnfleck, die Rentner Jan und Tatjana, die ihre Kinder und Enkel in Deutschland besucht haben. Einige Frauen schwatzen aufgeregt über die Sitzreihen hinweg.

Die Heimat ist da.