Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
SZ + Deutschland & Welt

Die Kiewer Schule der geflohenen Kinder

Am Stadtrand von Kiew lernen Schüler aus Mariupol, die die Zerstörung ihrer Heimatstadt erlebten und vertrieben wurden. Die Lehrer geben sich alle Mühe, damit sie sich geborgen fühlen. Hilfe aus Sachsen unterstützt dabei.

Von Olaf Kittel
 8 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Daria (vorn), Gregori, Artur und die anderen Jugendlichen aus Mariupol freuen sich über die Fahrradspende aus Dresden.
Daria (vorn), Gregori, Artur und die anderen Jugendlichen aus Mariupol freuen sich über die Fahrradspende aus Dresden. © Matthias Schumann

Makar war gerade 14 Jahre alt, als die Russen Ende Februar 2022 begannen, seine Heimatstadt Mariupol zu bombardieren. „Unser Viertel wurde dreimal mit Bomben belegt. Die Häuser nebenan wurden vollkommen zerstört, unsres war durch die anderen ein bisschen geschützt. Nur die Wohnung neben unserer gab es danach nicht mehr. Unser Auto wurde von 24 Kugeln durchsiebt, alle Fenster zerbrachen. Trotzdem flohen wir mit acht Personen in diesem Auto am 16. März, die Reifen waren zum Glück noch in Ordnung.“ Danach ging er mit seiner Mama ein Jahr in die Türkei. Jetzt wohnt er mit ihr in Kiew. Die Mama hat Arbeit gefunden, aber sie ist schwer psychisch krank.

Während der heute 16-Jährige von dieser schwersten Zeit in seinem Leben berichtet und versucht, seine Gefühle zu bändigen, ist gerade Unterrichtspause im Lyzeum Mariupol. Wir sitzen auf einer Bank im Gang, rings um uns schwatzt und kichert es, Klassen ziehen um, Mädchen und Jungs spielen Tischtennis. Ganz normale Pause in einer Schule, die ein Provisorium ist und in der die meisten Kinder und Lehrer mehr erlebt haben, als gut für sie ist.

Die ganze Welt berichtete

Andriy Golyutak leitet seit 2018 das Lyzeum Mariupol, es war einst das beste der Stadt, berichtet er stolz. Englisch, Französisch und Deutsch wurden unterrichtet, viel Wert legte er auf Berufsorientierung. Die Schule mit damals 450 Schülern lag im Zentrum Mariupols, ganz nah am Theater und an der Geburtsklinik. Beide wurden durch Bomben zerstört, die ganze Welt berichtete darüber.

Kyrill

kann jetzt wieder halbwegs normal lernen.
Kyrill kann jetzt wieder halbwegs normal lernen. © Matthias Schumann
Liza hatte Angst um ihren Papa, der in Kriegsgefangenschaft geriet.
Liza hatte Angst um ihren Papa, der in Kriegsgefangenschaft geriet. © Matthias Schumann
Wanja freut sich über jede Freizeitbeschäftigung, die vom Erlebten ablenkt.
Wanja freut sich über jede Freizeitbeschäftigung, die vom Erlebten ablenkt. © Matthias Schumann
Makar musste in einem Auto ohne Fenster und mit Einschusslöchern aus Mariupol fliehen.
Makar musste in einem Auto ohne Fenster und mit Einschusslöchern aus Mariupol fliehen. © Matthias Schumann

Die Schule hielt stand, aber es wurde zu gefährlich, hier zu unterrichten, es gab Online-Unterricht. „Alle warteten lange auf einen Transport in die freie Ukraine“, berichtet Direktor Golyutak, „aber die Busse kamen nie an.“ Im Frühjahr flohen dann die meisten Lehrer und viele Kinder mit ihren Eltern. Sie flohen in 20 Städte der Ukraine und in 28 Länder. Viele blieben auch. Alle wurden weiter online unterrichtet, so gut es ging. Sogar die Schüler im besetzten Mariupol, obwohl die Russen das verboten haben.

Unterdessen vereinbarten die Bürgermeister von Kiew und Mariupol, dass das Lyzeum ein Gebäude am Stadtrand von Kiew, nahe Butscha, zur Nutzung erhält, ein ehemaliges Rehazentrum. 35 ehemalige Lehrer hatten sich gemeldet und 60 Schüler. Sie wollten wieder zusammen lernen und eine kleine Mariupoler Gemeinde bilden fern der Heimat. Alle packten mit an, und in kurzer Zeit wurde aus dem Rehaheim eine kleine, fein vorgerichtete und liebevoll gestaltete Schule in einer waldreichen Umgebung.

Leben und Lernen auf engstem Raum

Die Zimmer entlang eines langen Flures wurden abwechselnd zu Klassenzimmern und zu Internatsräumen für je acht Kinder. Es geht eng zu, aber man ist beisammen. Es gibt ein Computerkabinett und Fachräume. Auch ein Kabinett für „Verteidigung der Ukraine“, wo militärisches Wissen vermittelt wird – wie funktioniert eine Drohne? – und medizinische Hilfe geübt wird.

Leben und Lernen auf engstem Raum. Und wenn es nachts wieder Luftalarm gibt, dann laufen alle in den niedrigen Keller, wo viele Doppelstockbetten ganz eng nebeneinander stehen, eine Toilette dazu und ein Waschbecken.

Das Lyzeum Mariupol wie es jetzt bei Kiew Unterricht im Computerkabinett organisiert.
Das Lyzeum Mariupol wie es jetzt bei Kiew Unterricht im Computerkabinett organisiert. © Matthias Schumann
Ein Schutzraum im Keller, der nachts bei Bombenalarm aufgesucht wird.
Ein Schutzraum im Keller, der nachts bei Bombenalarm aufgesucht wird. © Matthias Schumann
Schuldirektor Andriy Golyutak im Gespräch mit Sächsische.de-Journalist Olaf Kittel (l.). Natalja Bilous übersetzt.
Schuldirektor Andriy Golyutak im Gespräch mit Sächsische.de-Journalist Olaf Kittel (l.). Natalja Bilous übersetzt. © Matthias Schumann

Kyrill, 15, ein zurückhaltender, sehr blasser Junge, ihm gefällt es hier sehr. Er ist während der russischen Angriffe mit seinen Eltern zu seiner Oma gezogen, „weil da nur drei oder vier Fenster beschädigt waren“. Mitte März 2022 wurde es auch dort zu gefährlich, sie flohen drei Tage lang aus den besetzten Gebieten. „Ich hatte ungeheure Angst an jedem Kontrollpunkt, wo alle Männer lange durchsucht wurden. Ich sah viele zerstörte Häuser und ausgebrannte Militärtechnik. Deshalb war das Wichtigste in meinem Leben, dass ich lebend hierher gekommen bin.“

Liza, 14, hatte Angst um den Papa, der seit Kriegsbeginn bei der Armee ist. Im März 2022 rief er an und forderte die Familie auf, nach Polen zu fliehen. Dort lebten sie längere Zeit. Der Papa wurde von den Russen gefangen genommen und 2023 ausgetauscht. Jetzt lebt die Familie wieder in Kiew zusammen, Liza ist sehr froh darüber.

Wanja, 15, erzählt, wie sein Bruder und er Glück hatten in Mariupol: Sie überlebten eine Bombardierung und eine Schießerei, als sie gerade auf der Straße waren. Eine Nachbarin hatte dieses Glück nicht. Lange haben sie während der Angriffe im Keller gesessen, sein Opa wurde dabei verletzt, später ist er an den Verletzungen gestorben. Mit dem Auto des Opas sind sie dann schließlich aus der Stadt geflüchtet.

Wunschliste des Direktors

Die Kinder mit den schlimmsten Erlebnissen, bittet der Direktor um Verständnis, möchte er nicht interviewen lassen. Darunter ein Junge, dessen Mama vor seinen Augen durch eine Granate ums Leben kam.

Alle Kinder sagten uns, dass sie versuchen, nicht mehr an das Geschehen damals zu denken. Dass sie froh sind, es überstanden zu haben. Dass sie glücklich sind, hier wieder zusammen sein zu können. Alle sagten, dass sie sich hier wohlfühlen.

Lehrer und Mitarbeiter mühen sich sehr darum. Der Umgang miteinander ist liebevoll, die hauseigene Küche bereitet fünfmal am Tag eine Mahlzeit zu, es gibt einige Freizeitangebote. Aber es gab auch Defizite. Der ukrainische Staat ist nicht in der Lage, alle Wünsche der Schule zu erfüllen. Vor allem fehlte es an Sport- und Freizeitgeräten. Also stellte Direktor Golyutak eine Wunschliste ins Netz.

Fahrräder standen da ganz oben. Denn die Kinder konnten ihre auf der Flucht natürlich nicht mitnehmen und die waldreiche Umgebung der Schule lädt zu Touren geradezu ein.

Deutschlehrerin aus der Schweiz

Natalija Bock vom Ukrainischen Koordinationszentrum in Dresden las den Hilferuf und handelte sofort. Sie nutzte Spendengelder, kaufte davon zwölf Fahrräder, eine Tischtennisplatte, viele weitere Sportgeräte sowie drei große Powerbanks, die genutzt werden können, wenn in der Schule wieder der Strom ausfällt. Sie mietete ein Lieferfahrzeug und fuhr mit Bekannten im August alles hierher, vier Tage hin und zurück saß sie dafür im Auto.

Aber das große Hallo in der Schule entschädigte für alle Mühen. Die Kinder nahmen vor allem die Räder begeistert an, sie sorgen für neue Bewegungsfreiheit.

Der Direktor des Lyzeums Mariupol in Kiew freut sich sehr über die Hilfe aus Deutschland, die schon Tradition hat. Es gibt in Norddeutschland eine Patenschule, vor dem Krieg gab es Schüleraustausch. Das Goethe-Institut hilft, so hat das Lyzeum neuerdings wieder eine Deutschlehrerin, eine Schweizerin.

Aber es wird noch mehr Hilfe gebraucht. So hat Polen zwar einen dringend benötigten Schulbus gespendet, damit die Schüler, die daheim wohnen, von der letzten Metrostation bis hinaus an den Stadtrand gefahren werden können. 500 Euro für Diesel braucht die Schule dafür im Monat, aber das Geld gibt es nicht.

Rückkehr kommt nicht infrage

Und die zahlreichen Stromabschaltungen beeinträchtigen immer öfter die Schulküche. Deshalb wünscht sich Direktor Golyutak jetzt vor allem einen großen Generator, damit die Kinder auch im Winter noch regelmäßig warmes Essen bekommen können. Natalija Bock, gerade erst hat sie in Dresden den Kästnerpreis für ihr Ukraine-Engagement erhalten, hat den Ruf bereits vernommen. Jetzt müssen „nur“ noch Spendenmittel gesammelt und ein neuer Transport organisiert werden.

Im Herbst 2024 wird die Schule bereits wieder zu klein für alle, die hier lernen wollen. Mehr Kinder aus besetzten Gebieten, die in die freie Ukraine geflüchtet sind, würden sich gern anmelden. Kinder nicht nur aus Mariupol, sondern auch aus Bachmut, aus Awdijiwka. Orte, die aus der Frontberichterstattung bekannt und total zerstört sind, aus der so gut wie alle Bewohner flüchten mussten. Manche haben von dieser Schule gehört, der Schule der vertriebenen Kinder.

Gerade war der Bürgermeister von Mariupol hier. Er leitet zwar keine Stadt mehr, aber kümmert sich um die geflohenen Bewohner. Es gibt Hoffnung, dass die Schule ein neues Gebäude bekommt, in dem dann 200 Schüler unterrichtet werden können. Eine neue, große Herausforderung für das ganze Team.

Und, haben Sie Hoffnung auf Rückkehr nach Mariupol, Herr Direktor? Wer zurück in die Heimatstadt will, erklärt er, muss jetzt zum Beispiel über die Türkei nach Moskau zum Flughafen Scheremetjewo. Nach ein, zwei Tagen „Filtration“ kann man dort einen russischen Pass bekommen, nach Südrussland weiterreisen und von dort in die besetzten Gebiete gelangen. „Für mich kommt das nicht infrage, obwohl ich gern meine Eltern wiedersehen würde. Ich gelte in Moskau als staatsnah.“ Wer nur zu Besuch hin will, könnte über Russland und die Türkei wieder ausreisen und seinen russischen Pass verbrennen.

Auch für die meisten Kinder ist eine Rückkehr nach Mariupol keine realistische Option. Sie sind dabei, Kiewer zu werden und wünschen sich nichts mehr, als nach dem Krieg alle Möglichkeiten nutzen zu können, die die Hauptstadt ihnen bietet.

  • Spenden für das Lyzeum Mariupol werden dankend entgegengenommen:
    Stiftung Diakonie Leben, IBAN: DE98 8505 0300 0221 2443 79, BIC: OSDDE81XXX; Verwendungszweck: Ukrainisches Koordinationszentrum.

Wie Sachsen in der Ukraine hilft

Viele Ukrainer, vor allem Mütter mit ihren Kindern, sind nach Sachsen geflüchtet. Sie bekommen hier Unterstützung, viele Sachsen helfen dabei mit. Es gibt aber auch viele Vereine und Unternehmen, die Menschen in der Ukraine direkt unterstützen. Neben dem Ukrainischen Koordinationszentrum haben zum Beispiel Dresden und Stuttgart eine Solidaritätspartnerschaft gegründet, um der Stadt Chmelnyzkyi zu helfen.

Die Gigahertz Ventures GmbH in Dresden lieferte mehrere Busse, mit denen Menschen aus den besetzten Gebieten gerettet wurden. Ein Verein in Coswig hilft schon seit 2014 Flüchtlingseinrichtungen in der Westukraine mit Hilfsgütern. Die Stadt Leipzig ist besonders aktiv, sie lieferte Kiew im Rahmen der Städtepartnerschaft unter anderem sieben Feuerwehrfahrzeuge. (SZ)