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Aus Dresden zurück in der Ukraine: Mein trauriges, stolzes Kiew

Viktorija Martsenko lebte über zwei Jahre mit ihren Kindern im sicheren Dresden. Im Frühjahr kehrte sie in die Ukraine zurück. Jetzt führte sie SZ-Reporter Olaf Kittel an Orte, die für ihr Leben wichtig sind.

Von Olaf Kittel
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Tausende Fahnen und Fähnchen erinnern auf dem Maidan an die Kriegsopfer. Auch ein Cousin von Viktorija Martsenko ist bereits gefallen.
Tausende Fahnen und Fähnchen erinnern auf dem Maidan an die Kriegsopfer. Auch ein Cousin von Viktorija Martsenko ist bereits gefallen. © Matthias Schumann

Wir treffen Viktorija Martsenko auf dem Maidan, dem größten Platz in der ukrainischen Hauptstadt, zu dem es die Kiewer zu allen Zeiten hinzog, wo Revolutionen ihren Anfang nahmen, wo man schon immer einkaufen ging und sich zum Bummeln traf. Auch jetzt, mitten im Krieg. Die größte Aufmerksamkeit finden allerdings gerade nicht die Geschäfte, sondern ein Gedenkort, der vielen Menschen das Herz zerreißt: Er besteht aus einem Meer aus blau-gelben Fahnen und Fähnchen, Erinnerungsstücken und Fotos von meist jungen Männern, sie erinnern an die vielen Tausend Toten des russischen Überfalls auf ihr Land. Für Ukrainer sind sie die Helden des Krieges.

Viktorija Martsenko führt uns auf ganz schmalen Pfaden vorsichtig kreuz und quer durch dieses Fahnen- und Fähnchenmeer, um ja auf keines zu treten. Familien legen hier Blumen nieder, manche Kiewer knien vor dem Foto ihres Angehörigen, Tränen in den Augen. „Seit ich im Frühjahr aus Dresden fort bin, ist dieses Fahnenmeer in nur wenigen Monaten deutlich gewachsen“, sagt Viktorija Martsenko. „Es ist einfach schrecklich, wenn ein Land so viele Menschen verliert.“ Sie hat selbst Angehörige verloren.

Ein Cousin starb bei Awdijiwka durch eine Artilleriegranate, der belagerte Ort war in den Frontberichten auch in Deutschland lange ein Thema. Ein anderer Cousin wurde bei einem Raketenangriff auf ein Wärmekraftwerk in Kiew schwer verletzt, viele seiner Kollegen starben dabei. Der Mann ihrer besten Freundin fiel als Offizier an der Front, seine Kinder sind bis heute traumatisiert. Mehrere Freunde ihres Mannes leben mit amputierten Gliedmaßen. „Alle in Kiew haben nahe Angehörige verloren oder mindestens Schaden genommen. Ich kenne keine Familie mehr, die verschont geblieben ist“, sagt Martsenko.

Sie liebt die Flusslandschaft des Dnjepr, der ganz Kiew durchzieht. Baden, bummeln am Ufer, Boot fahren - jedenfalls vor dem Krieg. Jetzt kommt sie nur noch selten her.
Sie liebt die Flusslandschaft des Dnjepr, der ganz Kiew durchzieht. Baden, bummeln am Ufer, Boot fahren - jedenfalls vor dem Krieg. Jetzt kommt sie nur noch selten her. © Matthias Schumann

Vor genau 20 Jahren verband die heute 42-Jährige ganz andere Gefühle mit dem Maidan. Im Herbst 2004 wollte der verhasste Wiktor Janukowitsch durch Wahlfälschung an die Macht kommen. Hunderttausende Kiewer protestierten auf dem Platz während der „orangenen Revolution“, unter ihnen Viktorija Martsenko, damals Anfang 20 und Germanistik-Studentin.

Sie kam wochenlang aller zwei Tage her mit Eltern, Freunden, Kommilitonen – bis die Revolution gesiegt hatte: Die Wahlergebnisse wurden überprüft, die Fälschung nachgewiesen und Neuwahlen angesetzt. „Es war für uns ein großer Erfolg und ein erster Schritt in Richtung Europa“, meint Viktorija Martsenko. Während der Neuwahlen dolmetschte sie dann für Wahlbeobachter aus Österreich.

Zehn Jahre später, 2014, war der Maidan wieder monatelang voll mit Menschen, Viktorija Martsenko wieder mittendrin, diesmal zusammen mit ihrem Mann Roman, den sie kurz zuvor geheiratet hatte. Diesmal kamen Hunderttausende, um gegen die Regierung Janukowitsch zu protestieren, die 2010 doch noch an die Macht gekommen war. Die hatte sich geweigert, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen.

In diesem Gebäude studierte Viktorija Martsenko Germanistik. Uni und Park locken sie immer wieder hierher.
In diesem Gebäude studierte Viktorija Martsenko Germanistik. Uni und Park locken sie immer wieder hierher. © Matthias Schumann

Viktorija demonstrierte mit, sie kochte aber auch Borschtsch und Teigtaschen für die Demonstranten, die in Schichten rund um die Uhr den Platz besetzten. Sie fuhr Demo-Taxi zwischen Hauptbahnhof und Maidan für Leute von außerhalb. „Mein Mann hatte die gefährlichen Nachtwachen übernommen, ich war in großer Sorge um ihn.“

Um die Sorge zu verstehen, gehen wir vom Fahnenmeer nur hundert Meter weiter den Maidan entlang. Hier führt eine steile Straße hinauf, am Hotel Ukrainij vorbei. Von dort aus schossen Polizisten Anfang 2015 aus den Fenstern auf die Demonstranten. 100 kamen ums Leben. Heute sind die Porträts der getöteten Frauen und Männer, junge und alte, in einer Mauer eingelassen, die ganze Straße entlang.

„Trotz dieses Blutbades habe ich die Zeit des Euromaidan als eine positive und freundliche Zeit in Erinnerung, die Menschen halfen einander und warteten voller Hoffnung auf einen Weg nach Europa.“ Erst recht, als der ukrainische Präsident nach Russland fliehen musste. Es vergingen danach allerdings nur wenige Monate, bis die „grünen Männchen“ aus Russland die Krim besetzten, getarnte Soldaten Putins. Der Krieg war nicht mehr weit.

Dieses schlichte Denkmal erinnert an die Millionen toten Bauern des Holodomor. Ihr Urgroßvater ist unter ihnen.
Dieses schlichte Denkmal erinnert an die Millionen toten Bauern des Holodomor. Ihr Urgroßvater ist unter ihnen. © Matthias Schumann

Dann gehen wir den Chrestschatik entlang, die große Einkaufsstraße Kiews im Stalin-Stil, weiter hoch auf eine grüne Anhöhe, höchstens einen Kilometer vom Maidan entfernt. Von hier aus genießt man einen herrlichen Ausblick auf den Dnjepr, das Ausgehviertel Podil am Flussufer und weiter entfernte Hochhausgebiete. In einem Pavillon spielt eine Pianistin klassische Musik. „Ich träume manchmal davon", erzählt Viktoria Martsenko, „dass ich in einem früheren Leben am Wasser gelebt habe, es zieht mich immer wieder hin. An den Fluss und die Truchanow-Insel bin ich vor allem dann gegangen, wenn ich erschöpft war. Das Wasser tut mir gut.“

Früher, in Friedenszeiten, fuhr sie oft her, liebte die Badestrände und die Spaziergänge am Fluss entlang. Sie erwarb einen Segelschein und kaufte mit ihrem ersten Freund ein kleines Boot, um viel Zeit auch auf dem Fluss zu verbringen. „In der letzten Zeit komme ich leider selten her, der Bootsverkehr ist im Krieg verboten, und bei Luftalarm werden sofort alle Brücken in der Stadt gesperrt. Dann wird es mit den Kindern schwer heimzukommen.“ Jetzt muss ein kleiner See am Stadtrand für die Familie als Ersatz herhalten.

Von der grünen Anhöhe aus spazieren wir wieder ins Zentrum, in der Ferne glänzen die 13 goldenen Kuppeln der 1.000 Jahre alten Sophienkathedrale, die seit jeher als Symbol für Licht, Vernunft und den Sieg über finstere Mächte gilt. Davon gab es hier in der Geschichte mehr als genug. Am Eingang zum zentralen Michaelskloster, sehr gut saniert, steht ein bisschen unscheinbar ein Mahnmal für eine der schlimmsten Untaten finsterer Mächte.

© Matthias Schumann

In der Ukraine spielte sich Anfang der 30er-Jahre ein Drama ab, das als „Holodomor“ in die Geschichte einging. Der Begriff bedeutet „Tötung durch Hunger“. Diese nationale Katastrophe traf wie der Krieg heute alle ukrainischen Familien, das Denkmal erinnert daran. Nach zwei Missernten hatte Stalin den Abgabedruck landwirtschaftlicher Erzeugnisse so lange erhöhen lassen, bis die Bauern nicht mehr konnten. Sie fingen an, zu protestieren. Daraufhin räumte die Staatsmacht die Keller, Vorratsräume und Scheunen leer, nahm ihnen alle Lebensmittel weg und sperrte die Bauern in den Dörfern ein.

„Meine Urgroßeltern erlebten das mit ihren Kindern in einem Dorf im Gebiet Winniza“, berichtet Viktorija Martsenko, lange Zeit wurde über dieses Thema in der Sowjetunion nicht gesprochen, nicht einmal in der Familie. „Heute weiß ich immerhin, dass meine Urgroßmutter mit den Kindern noch nach Kiew fliehen konnte, sie überlebten. Der Uropa aber verhungerte.“ So wie drei bis sieben Millionen andere Bauern, niemand kennt die genauen Zahlen. Eines dieser monströsen Verbrechen, die Ukrainer dem Kreml nicht verzeihen können.

Jetzt müssen wir ins Auto steigen, um einige Kilometer zum nächsten Ort zu fahren, der eine große Rolle spielt in Viktorija Martsenkos Leben: die Schewtschenko-Universität. Hier hat sie Germanistik studiert, sehr gut Deutsch gelernt, viel Wissen aufgenommen. Auch ihr späterer Ehemann Roman studierte hier erst ukrainische Literatur und dann Jura. Hier hat sie viele angenehme Stunden mit Kommilitonen in einem Park verbracht, um den sich die Hauptgebäude der Uni gruppieren.

Dieses Wohnhaus wurde von einer russischen Rakete getroffen, viele Menschen starben. Die Kita der Martsenko-Tochter liegt gegenüber.
Dieses Wohnhaus wurde von einer russischen Rakete getroffen, viele Menschen starben. Die Kita der Martsenko-Tochter liegt gegenüber. © Matthias Schumann

Dieser Park lädt mit schönen Wegen, Springbrunnen und Cafés zum Verweilen ein. Mittendrin im Park steht das Denkmal für Nationaldichter Schewtschenko, der der Uni seinen Namen gab. Wie die meisten Denkmäler in Kiew ist es eingehaust, um es vor Granaten zu schützen. Auf dem Dichterdenkmal sind zusätzlich Sandsäcke aufgestapelt, obenauf wurde ein Stahlhelm platziert. Besser lässt sich eine Universität im Krieg nicht illustrieren.

Dieser Schutz fürs Denkmal war bitter nötig. In diesen Park schlug 2023 eine russische Rakete ein, sie tötete mehrere Menschen, darunter eine berühmte Kinderärztin. Ganz in der Nähe befindet sich ein beliebter Spielplatz, den Frau Martsenko auch viele Jahre nach dem Studium noch gern mit ihrem Sohn besuchte.

Die Fahrt mit dem Auto geht weiter über mehrspurige Schnellstraßen raus aus der Stadt. Im Vorort Hatne im Südwesten von Kiew wohnt Familie Martsenko. Hier draußen sind die Kriegsauswirkungen keineswegs geringer als im Zentrum, eher im Gegenteil. Viktorija Martsenko will uns noch etwas zeigen, was sie erschütterte. Dafür fahren wir von der großen Schnellstraße ab, weiter geht es über schmale Schlaglochpisten durch eine ausgedehnte Hochhaussiedlung. Zu Fuß nähern wir uns einem Haus, dem schon von Weitem anzusehen ist, dass es von einer Rakete getroffen wurde. Sie schlug im oberen Teil des Hochhauses ein und zerstörte die Wohnungen in mindestens acht Etagen. Viele weitere Wohnungen trugen Schäden davon, sogar auf der Rückseite des Hauses. Noch unklar, ob es abgerissen werden muss.

„Es war am 7. Februar 2024, ich weiß es noch ganz genau. Ich saß mit meinen Kindern in Dresden am Fernsehgerät und erschrak entsetzlich. Weil fünf Menschen starben und viele verletzt wurden, weil eine Schule gleich neben dem Haus steht, und vor allem, weil dieses Haus unmittelbar gegenüber einer Kita liegt, die meine fünfjährige Tochter in Kiew besucht hatte, bevor ich nach Deutschland floh, um meine beiden Kinder zu schützen. Für die ganze Familie war das ein Schock.“

Warum die russische Armee dieses Haus angriff, niemand weiß es. Sollte ein strategisches Ziel in der Nähe zerstört werden? Oder wurde das Haus absichtlich getroffen, um die Kiewer zu entnerven? Es ist eine dieser Fragen, die Viktorija Martsenko und viele Kiewer in diesen Tagen immer wieder beschäftigen. Sollen wir lieber umziehen, wenn sich in der Nähe ein militärisches Objekt befindet? Sollen wir die Kinder doch jetzt noch ins Ausland in Sicherheit bringen? Schwierige Fragen, auf die es keine leichten Antworten gibt in dieser stolzen, traurigen, schönen Stadt.