Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
SZ + Sachsen

Familie Martsenko hofft auf die Rückkehr nach Kiew

Die nach Dresden geflüchtete Familie Martsenko träumt von der Rückkehr im Sommer in die Ukraine. Aber der Frieden scheint immer noch weit entfernt.

Von Olaf Kittel
 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Nach ihrem Stimmungstief im Winter ist Viktorija Martsenko wieder optimistischer. Mit ihrem Sohn Jan und ihrer Tochter Diana (nicht im Bild) plant sie einen Besuch in Kiew.
Nach ihrem Stimmungstief im Winter ist Viktorija Martsenko wieder optimistischer. Mit ihrem Sohn Jan und ihrer Tochter Diana (nicht im Bild) plant sie einen Besuch in Kiew. © Matthias Rietschel

Jan Martsenko, 8, wehrt die meisten Angriffe ab und leitet die Vorstöße seiner Bühlauer Mannschaft ein, treibt immer wieder den Ball in Richtung gegnerischen Strafraum. Der groß gewachsene Flüchtlingsjunge überragt seine Mitspieler und ist deshalb als Verteidiger gesetzt. Am vergangenen Sonnabend war er mit seinem Team bei einem Fußballturnier im Radebeuler Lössnitzstadion dabei. Ein Sieg, zwei Unentschieden und Platz zwei für Bühlau. Man klatscht sich ab. Jan ist ohne jede Scheu mittendrin in der Jungstraube.

Am Spielfeldrand hatten die fußballbegeisterten Väter ihre Söhne angefeuert und das Spielgeschehen kommentiert. Eine Frau ist unter ihnen: Viktorija Martsenko, Jans Mutter. Der Vater wäre sicher auch gern dabei, aber er darf die Ukraine nicht verlassen, seine Frau hat seine Rolle mit zu übernehmen. „Ich habe für Fußball wenig übrig“, sagt Frau Martsenko. „Aber für Jan ist er wichtig, er muss sich austoben. Deshalb fahre ich ihn dreimal wöchentlich zum Training und zum Wettkampf.“

Viktorija Martsenkos Stimmung hat sich wieder etwas gebessert. Noch im Januar hatte sie dem SZ-Reporter gesagt, der sie seit einem Jahr regelmäßig trifft: „Ich bin so müde!“ Die schlimmen Nachrichten vom Krieg, die Trennung von ihrem Mann, die Sorgen um die Lieben daheim hatten sie im Winter zermürbt.

"Ich denke nur einen Monat im Voraus"

Jetzt aber wird sie für einige Tage nach Kiew zurückkehren, freut sich auf das Wiedersehen mit ihrem Mann und auf ihr Haus, dass die Familie erst kurz vor Kriegsbeginn bezogen hatte. Und ein bisschen hofft sie wieder auf eine endgültige Rückkehr mit ihren Kindern im Sommer, wenn ein Schulwechsel für Jan leichter möglich ist. Auch wenn sie nur zu gut weiß, dass es gerade eher nach einem langen Krieg aussieht. Wirklich planen kann sie deshalb nicht, weder die Rückkehr noch ein längeres Leben in Deutschland. „Ich denke immer nur höchstens einen Monat im Voraus“, meint sie.

Die Mutter ist froh, dass sich ihr Jan sein sonniges Gemüt erhalten hat, sich gut integriert und Härten klaglos hinnimmt, die kaum ein anderer Achtjähriger hierzulande meistern muss. Er besucht nicht nur die zweite Klasse in Dresden, sondern zusätzlich online die in Kiew, um nach einer möglichen Rückkehr die Klassenstufe nicht wiederholen zu müssen. Das sind zusammen sehr viele Unterrichtsstunden für einen Achtjährigen.

Nach so viel Stillsitzen ist Fußball ein Muss. Inzwischen hat er auch deutsche Freunde, Erwin und Elvis waren zu seinem achten Geburtstag eingeladen. Ein Vater hat Jan kürzlich mit ins Dynamo-Stadion genommen. „Er war begeistert“, erzählt die Mama. Er genießt es auch ein bisschen, wenn er in der Schule gefragt wird, ob er denn der Junge aus der Zeitung sei.

"Der Junge aus der Zeitung": Der achtjährige Jan Martsenko kickt für den Nachwuchs von Dresden-Bühlau.
"Der Junge aus der Zeitung": Der achtjährige Jan Martsenko kickt für den Nachwuchs von Dresden-Bühlau. © Matthias Rietschel

Tochter Diana, gerade vier geworden, kommt zwar jetzt in der Kita auch besser klar, seit sie eine ukrainische Freundin gefunden hat. Sie weint nicht mehr so viel, aber dem scheuen Mädchen fällt es wesentlich schwerer, in der Fremde klarzukommen als ihrem Bruder. Sie fragt jetzt fast jeden Tag nach ihrem Kinderzimmer in Kiew und den Spielsachen dort.

Mutter Viktorija Martsenko muss das alles ausbalancieren und mit ihren eigenen Gefühlen klarkommen. Auch sie hat einen extrem ausgefüllten Tag. Sie arbeitet weiter für ihre Nichtregierungsorganisation in Kiew, gibt außerdem jeden Tag Deutschunterricht für ukrainische Kinder an Jans Schule, fährt die Kinder täglich in die Kita und die Schule, holt sie ab, dazu dreimal wöchentlich Jan zum Sport und neuerdings Diana zum Tanzen.

Zwei Familien unter einem Dach

Seit ihre Eltern und die Schwiegermutter nach Kiew zurückgekehrt sind, bleiben die vielen langen Wege neben ihren beiden Jobs allein an ihr hängen. Und dann leben sie noch immer bei ihrer Schwester in einem Reihenhaus. Seit einem Jahr zwei Familien unter einem Dach – das ist für alle Bewohner anstrengend. Dazu kam der Ärger mit der angedrohten Ummeldung für ihr elf Jahre altes ukrainisches Auto.

Mindestens eintausend Euro hätte sie die Prozedur gekostet. Und noch einmal viel Geld, falls sie mit dem dann in Deutschland zugelassenen Wagen heimkehren würde. Ein bürokratischer Irrsinn. Einige Bundesländer hatten schon längst Regelungen gefunden, Sachsen lange Zeit nicht. Erst diese Woche wurde die Ausnahmeregelung bis 30. Juni verlängert.

Kontakt mit ihrem Ehemann Roman gibt es für Viktorija Martsenko nur digital.
Kontakt mit ihrem Ehemann Roman gibt es für Viktorija Martsenko nur digital. © Matthias Rietschel

Schließlich erlebt Viktorija Martsenko auch Veränderungen vieler Menschen in Sachsen. Fühlten sich die ukrainischen Flüchtlinge anfangs freundlich aufgenommen, die Solidarität war groß. Jetzt ist das Verhältnis wesentlich distanzierter, meint sie. Es ist nicht offene Ablehnung, die sie spürt, aber sie blickt oft in kalte Augen. Es tut ihr sehr weh.

Auch solche Erlebnisse sprechen für eine Rückkehr. Oma und Opa drängen sowieso schon eine zeitlang, berichten von den normalisierten Verhältnissen in der Stadt, von den ganz gut gefüllten Geschäften, auch wenn die Preise hoch sind. Wenn sie jetzt für ein paar Tage nach Kiew reist, wird sie sich das alles genau ansehen. Dann wird sie aber auch den täglichen Luftalarm erleben - und mit den inzwischen abgebrühten Kiewern rasch eine App auf ihrem Smartphone öffnen, auf der die Flugbahnen der anfliegenden Drohnen, Raketen und Flugzeuge verfolgt werden können.

Und dann wird sie sich wieder fragen, ob sie ihren Kindern Raketeneinschläge und täglichen Luftalarm zumuten will. Denn: Was macht das mit den Seelen einer Vier- und eines Achtjährigen? Und sind ihre Kinder dann wirklich so diszipliniert und bleiben zwei bis drei Stunden täglich im engen Keller? Oder laufen sie doch raus und riskieren ihr Leben? Viktorija Martsenko ahnt schon, dass die Entscheidung nach ihrer Rückkehr, vor der zu erwartenden ukrainischen Militäroffensive und den möglichen Reaktionen der Russen, nicht einfacher wird.

Kein Sinn für Ostertraditionen

Wenn die kleine Familie doch in Deutschland bleibt, wird sich einiges ändern müssen. Dann wird sich Frau Martsenko einen neuen Job in Dresden suchen. Die Marketingexpertin spricht sehr gut Deutsch und kann sicher etwas Passendes finden. Dann könnte sie auch genug Geld verdienen, um sich eine eigene Wohnung zu leisten, möglichst ohne lange Fahrtwege zu Schule und Kita. Aber dies sind vage Gedanken, keine Pläne.

Hilft ihr denn die Osterzeit, neuen Mut zu schöpfen? Es ist eher die erwachende Natur, die Zuversicht verschafft, nicht das kirchliche Fest. „Wenn es einen Gott geben würde, er hätte diesen Irrsinn in meiner Heimat nicht zugelassen.“ Und ihr geht es wie vielen Landsleuten, die jetzt keinen Sinn für die heimatlichen Ostertraditionen haben. „Das ist etwas aus einer vergangenen Welt vor dem Krieg.“

Nach solch bitteren Sätzen lächelt Viktorija Martsenko auch wieder. Denn sie weiß: Es wird eine Rückkehr geben.

Die Frage ist nur, wann.