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Eine Dresdnerin erinnert sich an die Bombennacht: Es brach die Hölle los

Helga Klipphahn erlebte als Kind die Zerstörung ihrer Heimatstadt Dresden. Ihre Erinnerungen daran hat sie aufgeschrieben - jetzt erzählt sie ihre Geschichte.

Von Sven Geisler
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Nach dem Krieg wurden in der Stadthalle am Nordplatz in der Weihnachtszeit Puppen ausgestellt, die den Bombenangriff überstanden hatten. Auch die von Helga Klipphahn war dabei.
Nach dem Krieg wurden in der Stadthalle am Nordplatz in der Weihnachtszeit Puppen ausgestellt, die den Bombenangriff überstanden hatten. Auch die von Helga Klipphahn war dabei. © Archivfoto: privat

Dresden. Der Einband des Heftchens aus Recyclingpapier lässt nicht auf den Inhalt schließen: Ein bunter Clown lässt Luftballons tanzen. Es sind die Aufzeichnungen von Helga Klipphahn, 86 Jahre, Dresdnerin. Sie hat in sorgfältigster Druckschrift aufgeschrieben, was sie niemals vergessen kann, und sie möchte, dass es nicht vergessen wird. Für ihre Söhne, 59 und 63 Jahre alt, aber auch für das gesellschaftliche Gedächtnis. Es sind, schreibt sie auf der ersten Seite, ihre „Kindheitserlebnisse im furchtbaren 2. Weltkrieg, der am 8. Mai 1945 zu Ende ging“.

Dazu gehört dieses Foto, das sie über die Jahrzehnte aufbewahrt hat. Es zeigt ein Schaufenster in der Dresdner Stadthalle, dem heutigen Militärhistorischen Museum. Zur Weihnachtsmesse, mit der bis 1954 die Tradition des Striezelmarktes fortgesetzt wurde, zeigten Kinder ihre Puppen, die mit ihnen die Bombennächte erlebt hatten. Die dritte von links gehörte Helga Klipphahn. „Bei Luftalarm habe ich meine Puppen immer mitgenommen“, erzählt sie, und ihre Erinnerungen sind klar. So war die Puppe dabei, wenn das Mädchen im Keller die Hände so stark zusammenpresste, dass die Knöchel weiß wurden. Die Mutter gab ihr Beruhigungstropfen, doch gegen solche Angst gibt es keine Medizin.

Das Nesthäkchen bekam keine Schläge

Die kleine Helga war sieben Jahre jung und in der Schule früh dran. Ihre Mutter hatte zwar versucht, den Rektor zu überzeugen, aber der pochte auf den Stichtag: Wer bis zum Jahresende sechs wird, muss bereits im August 1943 zum Unterricht erscheinen. Sie hatte kurz vor Weihnachten Geburtstag und saß mit fünf auf der Schulbank. Was einen Vorteil hatte: Während die anderen später bei Klassentreffen erzählten, wie ihnen die Lehrerinnen in den ersten beiden Klassen auf die Hände geschlagen haben, kannte sie diesen Schmerz nicht. „Ja, du warst ja auch das Nesthäkchen“, sagten die Mitschüler.

Helga Klipphahn war erst fünf Jahre alt, als sie die Zuckertüte bekam - und zur Schule musste. Der Einspruch ihrer Eltern wurde abgewiesen.
Helga Klipphahn war erst fünf Jahre alt, als sie die Zuckertüte bekam - und zur Schule musste. Der Einspruch ihrer Eltern wurde abgewiesen. © Archivfoto: privat

Wenn sie der Alarm in der Schule an der Herbertstraße, heute die Emil-Ueberall-Straße, überraschte, war es für Helga besonders schlimm. „Unter den dicken Heizungsrohren habe ich mich erst recht gefürchtet.“ Ohne die Eltern, ohne die Puppen. Am Faschingsdienstag, dem 13. Februar 1945, ein milder Wintertag, war sie in der Wohnung an der Kesselsdorfer Straße. Am frühen Abend hatte es einen ersten Alarm gegeben, aber die Entwarnung folgte schnell und ihr Vater war sich sicher: „Heute können wir uns umziehen.“

Seit der Krieg im Herbst 1944 nach Deutschland zurückgekehrt war, dessen Nazi-Regime ihn 1939 begonnen hatte, schliefen sie meist so angezogen, um schnell unten zu sein. Doch gegen 21.30 Uhr klingelte es Sturm, jemand im Haus hatte bei einem Sender die Nachricht gehört: Großangriff auf Dresden.

Sie hatte mit ihren Eltern gerade den Keller erreicht, als die Tür aufsprang von dem Luftdruck, den die Bomben verursachten. „Es brach die Hölle los“, schreibt sie in das Notizheft mit dem Clown. Das Ehepaar Feldmann, das im Haus ein Fleischereigeschäft betrieb, kam etwas später im Schlafzeug und wurde von der Welle die Treppe hinunter gerissen. „Wir saßen im Keller geduckt und beteten zu Gott. Durch das Kellerfenster sahen wir die Feuersbrunst“, hält Helga Klipphahn fest.

Sie trug ein Messingschild mit Namen, Geburtstag und der Adresse der Großeltern in Radeberg um den Hals. Das hatte ihr Vater angefertigt. Nach einer Verwundung wurde er Kriegsinvalide, arbeitete im Göhle-Werk, einem Rüstungsbetrieb an der Riesaer Straße zunächst als Aufseher der Zwangsarbeiter. Er habe, sagt die Tochter, so viele Augen zugedrückt, dass er „abgegangen wäre“, wenn das die falschen Leute erfahren hätten. „Man muss sich das vorstellen: Die Frauen, die dort arbeiten mussten, stellten die Munition her, die ihre Männer töten sollte.“

Bei Helga Klipphahn, geboren im Dezember 1937, sitzen nach wie vor Puppen auf der Couch. Die sie im Krieg bei Bombenalarm mit in den Keller genommen hat, sind allerdings im Laufe der Jahre verlorengegangen.
Bei Helga Klipphahn, geboren im Dezember 1937, sitzen nach wie vor Puppen auf der Couch. Die sie im Krieg bei Bombenalarm mit in den Keller genommen hat, sind allerdings im Laufe der Jahre verlorengegangen. © Foto: SZ/Sven Geisler

Als Kraftfahrer habe er später den polnischen Beifahrer mit Schnitten versorgt, die Mutter geschmiert hatte. Zu einem Holländer, der ihm zur Seite gestellt worden war, hatte er ein so kameradschaftliches Verhältnis aufgebaut, dass der ihn viele Jahre nach dem Krieg in Dresden besuchte und sogar im Pflegeheim ausfindig machte. „Leider hatte mein Vater einen Schlaganfall erlitten und die Ärzte fürchteten, dass ihn diese Begegnung zu stark aufwühlen könnte. Deshalb hat meine Mutter mit dem Gast gesprochen“, erzählt Helga Klipphahn. „Es war eine schöne Geste.“

In ihren Erinnerungen notiert sie schließlich: „Was wir für ein Glück hatten in dieser furchtbaren Nacht, wurde uns erst später bewusst.“ Der Schaden am Haus war gering – gemessen an der Zerstörung der Stadt. In der Küche fiel der Putz von der Decke, die Fensterscheiben zerbrachen. „Wir hatten Doppelfenster, aber meine Mutter meinte, als es die ersten Angriffe gab: Die lassen wir diesen Winter auf dem Dachboden. Dort waren sie tatsächlich heil geblieben, und wir konnten sie nun einsetzen.“ Auch ihre nahen Verwandten überlebten bis auf das Baby ihrer Tante, der Junge starb an einer Rauchvergiftung.

Einige Tage nach der Bombennacht fuhren sie mit Fahrrädern durch die Stadt, um zu den Großeltern nach Radeberg zu kommen. Die Bilder von der buchstäblich in Schutt und Asche gelegten Stadt und den verkohlten Leichen, die aus den Trümmern gezogen wurden, wird Helga Klipphahn ein Leben lang nicht los. Der beißende Geruch von verbrannten Fleisch lässt sie heute noch erschaudern. Als Oma und Opa sie sahen, „weinten sie bitterlich vor Freude, weil wir noch am Leben waren“, schreibt Helga Klipphahn. Sie hatten knapp 20 Kilometer entfernt den Feuerschein gesehen und geglaubt, niemand könne dieses Inferno in Dresden überlebt haben.

Bauarbeiter oder Mechaniker? Ihr blieb keine Wahl

In der Schule mussten sie nun nicht mehr stramm stehen und „Heil Hitler!“ brüllen. Die beiden Fräulein Lehrerin wurden durch eine junge Frau ausgetauscht, die gerade mal acht Jahre älter war als sie. Die Schule hatte Helga Klipphahn mit 13 hinter sich, auf dem Arbeitsamt hieß es: Du kannst auf dem Bau arbeiten oder wirst Metallfacharbeiter. Die Entscheidung nahm ihr der Vater ab: „Auf den Bau gehst du nicht!“ Und als sie ihm die ersten Blasen vom Feilen zeigte, meinte er nur: „Was denkst du, wie deine Hände aussehen würden, wenn du mit der Schaufel arbeiten müsstest?“ Da hatte er wohl recht.

Auch wenn das ihr Gesicht auf diesem Bild aus dem privaten Fotoalbum nicht verrät: Über das vom Vater selbst gebaute Puppenhaus als Weihnachtsgeschenk hat sich die kleine Helga sehr gefreut.
Auch wenn das ihr Gesicht auf diesem Bild aus dem privaten Fotoalbum nicht verrät: Über das vom Vater selbst gebaute Puppenhaus als Weihnachtsgeschenk hat sich die kleine Helga sehr gefreut. © Archivfoto: privat

Nach der Lehre im Schreibmaschinenwerk und an der Berufsschule auf der Gerokstraße arbeitete sie als Mechaniker – und sie hängst selbst kein „in“ an – bei Zeiss Icon. Im Verschlussbau war nun Filigranarbeit unter der Lupe und mit Pinzette angesagt, bis sie ins Büro wechselte und abends an der Volkshochschule Stenografie und Schreibmaschine lernte. Dadurch konnte sie nach einer Berufspause für die Söhne zunächst von zu Hause aus und später fest im Kundendienst für die Dresdner Niederlassung des VEB Geräte- und Reglerwerkes Teltow arbeiten.

Bis der Betrieb mit dem Ende der DDR 1990 abgewickelt wurde. „Mein Chef sagte: Ich muss Sie bald entlassen, das tut mir leid.“ Diesmal lag der Stichtag für sie nämlich ungünstig: Wer bis zum 30. Juni 1937 geboren wurde, konnte in den Vorruhestand gehen. Als Dezember-Kind kam das für sie also nicht infrage. Beide waren erleichtert, als sie im Radio die Nachricht hörten, die Regelung sei für den ganzen Jahrgang erweitert worden. „Mein Chef empfing mich an dem Morgen und sagte: Gott sei Dank!“, erzählt Helga Klipphahn. Natürlich hat sie sich gefreut über den „Rettungsring“, wie sie sagt, aber: „Ich hätte auch gerne weitergearbeitet. Wissen Sie, wie komisch das war?!“

"Aber sie rasseln schon wieder mit den Säbeln"

Gemeinsam mit ihrem Mann Rolf erkundete sie nun die Welt, auf dem Sterbebett konnte er sagen: „Wir haben so viel Schönes gesehen, so viel erlebt.“ Nun ist sie auch allein unterwegs, was ihr nichts ausmache, wie sie erklärt: Auf die Zugspitze begleitete sie aber eine Nachbarin. Dort war sie mit ihrem Vater vor dem Schulanfang 1943 gewesen und wollte unbedingt noch mal hin. Genau 80 Jahre später hat sie das geschafft. Ihr Vater hatte die Fotoalben von seinen Reisen vor dem Krieg, auch als Kraftfahrer für ein Feinkostgeschäft, bei Alarm mit in den Keller genommen wie sie ihre Puppen. Nun konnte sie vergleichen. „Das Münchner Haus und die Wetterwarte stehen noch wie damals, alles andere ist neu“, berichtet sie.

Wie in ihrer Heimatstadt, die im wahrsten Sinne auferstanden ist aus Ruinen. Als es Diskussionen um das Denkmal für die Trümmerfrauen vor dem Dresdner Rathaus gab, konnte Helga Klipphahn nur mit dem Kopf schütteln. „Ich kenne das von meiner Mutter. Die Frauen haben Ziegel geputzt und das Land wieder aufgebaut mit ihrer Hände Arbeit.“ Wenn die Älteren von Krieg und Zerstörung reden, wissen die jungen Leute nicht wirklich, wie das gewesen ist, meint sie. Auch deshalb hat sie ihre Erlebnisse zusammengefasst in dem Heftchen mit dem lustigen Clown und den bunten Luftballons. „Damit diese furchtbare Zeit nicht in Vergessenheit kommt, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind, möchte ich ein paar Notizen niederschreiben“, beginnt sie ihre Aufzeichnungen, datiert im Februar 2002.

„Aber sie rasseln schon wieder mit den Säbeln, das ist das Schlimme“, sagt eine besorgte Frau, die den Zweiten Weltkrieg erlebt und überlebt hat. Ihre Puppen sind allerdings irgendwann verloren gegangen.

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