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Mensch, Täve Schur wird 90

Der beliebteste DDR-Sportler ist immer noch direkt - und korrekt zu seinem runden Geburtstag. Sein Motto: „Wem das nicht passt, der kann mich links liegen lassen!“

Von Jochen Mayer
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Radsport-Legende Gustav-Adolf „Täve“ Schur nutzt immer noch gern das Rennrad, auch wenn die Touren kürzer geworden sind, weil ein Knie schmerzt. Zu seiner aktiven Zeit jubelten ihm Hunderttausende Fans an den Straßen zu.
Radsport-Legende Gustav-Adolf „Täve“ Schur nutzt immer noch gern das Rennrad, auch wenn die Touren kürzer geworden sind, weil ein Knie schmerzt. Zu seiner aktiven Zeit jubelten ihm Hunderttausende Fans an den Straßen zu. © dpa/Jens Wolf

Dresden. Die großen Feiern fallen aus. Gustav-Adolf Schur begeht an diesem Dienstag seinen 90. Geburtstag und hat wegen der Corona-Regeln schon längst angekündigt: „Ich lasse keinen rein.“

Kurz und bündig klingt die Ansage, sie entspricht der korrekten Art des einstigen Radsport-Idols. In seinem Eigenheim in Heyrothsberge bei Magdeburg ist unweit des Elternhauses ein Treff im kleinsten Familienkreis angesagt. Die geplante Jubiläumsrunde im Radladen von Sohn Gus-Erik wurde abgeblasen.

Ohne Pandemie hätte „Täve“, was im anhaltinischen als Kosename für Gustav verwendet wird, unzählige Gratulanten gehabt. Allein das Friedensfahrt-Museum hatte einen Geburtstagsempfang für 600, 700 Leute in einer Sporthalle geplant, verriet dessen Leiter Horst Schäfer der Sächsischen Zeitung.

In Kleinmühlingen, rund 30 Kilometer von Schurs Wohnort entfernt, wollten sie Lehren aus der Feier zum 85. Schur-Geburtstag ziehen. „Wir hatten ein tolles Bühnenprogramm organisiert. Doch die Künstler wurden kaum wahrgenommen, weil alle mit Täve oder miteinander über die alten Zeiten sprechen wollten“, erzählt Schäfer.

Es muss viele Gründe geben, dass Schur über Jahrzehnte hinweg so phänomenal beliebt ist bis in die heutige Zeit. Erfolge bei der damals noch jungen Friedensfahrt machten ihn zum Volkshelden in einer Zeit, als die DDR im Aufbruch war, als die Menschen nach guten Nachrichten gierten, der Radsport die Massen faszinierte und für Gemeinschaftserlebnisse sorgte.

So kamen 1955 rund 60.000 zur Zielankunft in das überfüllte Dresdner Heinz-Steyer-Stadion, Hunderttausende säumten Jahr für Jahr die Straßen. Schur belohnte sie mit seinen Auftritten bei zwölf Friedensfahrt-Teilnahmen zwischen 1952 und 1964.

Zur Legende auf dem Sachsenring

Zweimal gewann er die Gesamtwertung dieser Tour de France des Ostens, wie das Etappenrennen oft genannt wurde. Fünfmal triumphierte Schur am Ende mit der DDR-Mannschaft, bei neun Etappensiegen wurde er gefeiert. Von den Olympischen Sommerspielen in Melbourne 1956 kam er mit Bronze zurück und gewann 1960 in Rom Silber – jeweils mit der Mannschaft. Und als erster DDR-Radsportler durfte sich Gustav-Adolf Schur 1958 in Reims das Regenbogentrikot als Straßenradsport-Weltmeister überstreifen lassen. 1959 wiederholte er in Zandvoort diesen Triumph.

Gustav-Adolf Schur ist Vater von vier Kindern. Sein Sohn Jan wurde 1988 Radsport-Olympiasieger und zweimal Weltmeister mit der 100-Kilometer-Mannschaft.Endgültig zur Sportlegende wurde der für den SC DHfK Leipzig startende Rennfahrer im Jahr darauf, bei der WM 1960 auf dem Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal.

Der Favorit ließ seinen Mannschaftskollegen Bernhard Eckstein davonfahren und narrte damit den starken Belgier Willy van den Berghen. Die Taktik ging auf. Eckstein gewann den Titel, Schur wurde Zweiter. Das Ergebnis galt als Triumph des Kollektivgeistes, in dem der Einzelne die Interessen zugunsten des gemeinschaftlichen Erfolges zurückstellt. Der gelungene wie spontane Strategiewechsel machte Täve noch populärer.

Bei der Straßen-WM am 13. August 1960 auf dem Sachsenring gelingt Täve Schur ein taktisches Meisterstück.
Bei der Straßen-WM am 13. August 1960 auf dem Sachsenring gelingt Täve Schur ein taktisches Meisterstück. © dpa-Zentralbild

„Dieses Rennen bedeutet mir am meisten von allen“, bestätigt Schur am vergangenen Freitagabend noch einmal als Gast im MDR-„Riverboat“. Natürlich wäre er sehr gern ein drittes Mal Weltmeister geworden. Im entscheidenden Moment rief er seinem Mannschaftskameraden jedoch hinterher: „Ecke, fahr!“

Schur wusste, dass dem kleinen Teamgefährten, der mit seinen 1,63 Metern Körpergröße kaum jemand Windschatten bot, weil er „wie ein Dreipfundbrot auf dem Rad lag“, wie Täve sagte, keiner gern hinterherfuhr. Als der Belgier merkte, was gespielt wird, war es für den Titelgewinn zu spät. Schur frohlockt heute noch, van den Berghen im Spurt auf Rang drei verwiesen zu haben. Der hatte den falschen Gang gewählt.

Schur war in einer Zeit auf dem Rennrad erfolgreich, als der Sport zwar politische Dimensionen hatte, aber immer noch viel von seiner ursprünglichen Unschuld besaß. Da war nichts vom heutigen gigantischen Kommerz zu ahnen. Da waren manche der heutigen publikumswirksamen Sportarten wie Triathlon noch gar erfunden oder wie Biathlon auf dem Weg der Selbstfindung. Es gab auch nicht diese Inflation an Weltmeisterschaften und Weltcups, keine mediale Dauerberieselung von wenigen ausgewählten Sportarten und Ereignissen.

In dieser Zeit waren sportliche Erfolge etwas ganz Besonderes und machten Täve gleich neunmal in Folge von 1953 bis 1961 zum DDR-Sportler des Jahres. Dass er zudem lange nach seinem Karriereende 1979 und 1989 gleich zweimal zum „besten und erfolgreichsten Sportler der DDR“ gewählt wurde, lässt sich allerdings nicht allein mit Siegen erklären, da gab es noch erfolgreichere.

Der Sportler Schur wurde auch als ein besonderer Mensch verehrt – auch Jahrzehnte nach seiner aktiven Zeit als Auswahlfahrer. Im Friedensfahrtmuseum erlebt Horst Schäfer, zumindest war es vor der Pandemie regelmäßig so, begeisterte Reaktionen von Besuchern.

„Wenn Täve als Überraschungsgast zur Tür reinkommt, zieht er die Leute sofort in seinen Bann. Da können einem die Tränen kommen, wie die Gäste an seinen Lippen hängen“, erzählt der Museumschef, und er stellt fest: „Täve hat aber auch eine besondere Art, auf die Leute zuzugehen. Er wendet sich ihnen ohne Berührungsängste zu, blickt allen in die Augen, mit denen er spricht. Dann bekommen sie sofort das Gefühl: Täve ist nur für mich da, der nimmt mich ernst. Diese direkte Zuwendung funktioniert auch bei jungen Menschen, die ihn nie als Sportler erlebten.“

Ein Verrückter für die Friedensfahrt

Schur spricht unverstellten Klartext, gerne volkstümlich. Das „Du“ kommt ihm leicht von den Lippen. So war das auch, als sich Diplom-Landwirt Schäfer 1991 zu Schurs Haus aufmachte, weil er als Fan nicht akzeptieren wollte, dass die Friedensfahrt sterben soll.

„Ich klingle also als Wildfremder bei ihm in Heyrothsberge, trage mein Anliegen vor“, erzählt Schäfer über die erste intensive Begegnung. „Da dreht sich Täve um und ruft ins Haus zu seiner Frau Renate: Komm mal her, hier ist ein Verrückter, der will die Friedensfahrt retten.“

Der Fremde wurde ins Haus gebeten. Die Rettung der Rundfahrt misslang zwar, doch es entstand eine Freundschaft. Das Friedensfahrt-Erbe wird inzwischen in einem rührend wie leidenschaftlich geführten Museum bewahrt. Mehr als 10.000 Stücke umfasst die Sammlung von Rädern und Siegertrophäen, Zeitdokumenten und Trikots, Briefmarken und Fanpost.

Dort treffen sich jedes Jahr auch einstige Friedensfahrer aus aller Welt. Im vergangenen Mai fiel der Termin wegen Corona aus, dieses Jahr hoffen sie auf eine Chance im August. Schurs Frau wird dann nicht bei den Vorbereitungen helfen können. Sie starb im Mai 2020, das Paar war 58 Jahre verheiratet.

„Täve mag es geradezu und ehrlich, das spüren die Leute“, sagt Schäfer und berichtet von Begegnungen im Museum, als das noch offen war. Da redet sich Schur in Rage, wenn er von einer Geschichte zur anderen kommt, beim Gang an den Exponaten vorbei.

„Das ist für ihn auch wie ein Lebenselixier, das Bad in der Menge. Man nimmt ihm dabei den Zwiespalt ab, in dem er lebt. Zum einen ist ihm das mitunter zu viel an Aufmerksamkeit, wenn er gefeiert wird. Aber im tiefsten Innern tut es ihm auch gut“, so Schäfer. Und er zeigt Gefühle, wie beim Besuch einer Frau, die ihren über 90-jährigen Vater mitgebracht hatte. Der steuerte mal ein Friedensfahrt-Begleitfahrzeug. Da war Schur sofort in seinem Element.

Siegerkränze hat Gustav-Adolf Schur viele gewonnen als aktiver Radsportler, aber trotz des Lorbeers ist er ein bodenständiger Typ geblieben. Bei den Menschen im Osten ist er vor allem deshalb beliebt, weil er sich auch ihnen gegenüber dankbar zeigte und d
Siegerkränze hat Gustav-Adolf Schur viele gewonnen als aktiver Radsportler, aber trotz des Lorbeers ist er ein bodenständiger Typ geblieben. Bei den Menschen im Osten ist er vor allem deshalb beliebt, weil er sich auch ihnen gegenüber dankbar zeigte und d © dpa-Zentralbild

Immer wenn sich Radsportler treffen, fühlt er sich als Teil einer großen Familie, weiß, wovon sie reden – und alle haben seinen uneingeschränkten Respekt, die sich als Pedaltreter versuchen. Deshalb begeistert ihn auch die Kleine Friedensfahrt, bei der sich die Jüngsten auf dem Rad versuchen. Und er weiß, wie bedeutsam Bewegung generell für die Gesundheit ist. Dabei kokettiert Schur mit seinen guten Blutdruckwerten und dem großen Herz. Aber ein Knie will nicht mehr so wie einst, deshalb sind die Radtouren kürzer geworden. Spaziergänge halten ihn fit.

Schur ist ein großer Sportfreund. Das liegt auch daran, dass sich die Radsportler seiner Generation in ihren besten Jahren in anderen Sportarten versuchten. „Sie haben Eishockey gespielt und waren rudern“, erzählt Schäfer von teambildenden Maßnahmen, wie dieser Ausgleichssport heute genannt würde. „Sie wussten dabei schnell, dass sie alle in einem Boot sitzen, wenn es darauf ankommt. Sogar Seilschaften in der Sächsischen Schweiz wurden beim Bergsteigen im Sommerlager gebildet.“

Beim Klettern sammelten die Auswahl-Radsportler Kondition, setzten neue Reize und stellten Mut auf die Probe. So führte am 11. Juni 1956 Radrennfahrer Lothar Meister II, der ein Leben lang begeisterter Kletterer war, eine Seilschaft mit Schur bis auf den höchsten Punkt der Barbarine. Die wohl berühmteste Felsnadel im Elbsandstein ist seit 1975 aus Naturschutzgründen für den Klettersport gesperrt.

Kletterrunde in der Sächsischen Schweiz im Juni 1956: Mit der Sebnitzer Seilschaft Heinz Mitzscherlich, Roland Simmchen und Lothar Meister erklimmt Täve Schur (Foto links, unten) die Barbarine. Auf dem Gipfel angekommen, gab es von den Bergfreunden auch m
Kletterrunde in der Sächsischen Schweiz im Juni 1956: Mit der Sebnitzer Seilschaft Heinz Mitzscherlich, Roland Simmchen und Lothar Meister erklimmt Täve Schur (Foto links, unten) die Barbarine. Auf dem Gipfel angekommen, gab es von den Bergfreunden auch m © Nachlass Simmchen

Zu Schurs Geradlinigkeit gehört sein enormes Beharrungsvermögen. „Er lässt sich auch politisch nicht verbiegen“, weiß Schäfer. „Schur ist und bleibt ein Linker. Ich hörte von ihm schon: Wem das nicht passt, der kann mich links liegen lassen!“ Prinzipientreue sagen manche dazu, andere halten es für stures altes Denken.

Diese Diskrepanz verbaute Schur den Einzug in die Hall of Fame des deutschen Sports, in die er wegen seiner Erfolge und Popularität gehören würde. Die Verwalter der virtuellen Ruhmeshalle verweigerten ihm gleich zweimal die Aufnahme, weil sich Schur nicht von seiner DDR-Vergangenheit distanzierten wollte.

Herbert Köfer als Vorbild

Mittlerweile sei die Sache erledigt, so Schäfer, sie würde Schur nicht mehr wehtun. Er fügt aber wissend hinzu: „Das glaube ich nicht wirklich. Es ist beschämend, wie mit Täve umgegangen wurde.“ Der 67-jährige Schäfer erklärt, warum Schur dieses Stück Geschichte nicht einfach wegtun kann, warum er großzügig gegenüber der DDR ist: „Täve hat noch die Nazizeit erlebt und die Schrecken von Bombenangriffen. Er wollte in einem Land leben, von dem nie wieder Krieg ausgehen soll. Das war ihm enorm wichtig. Und es gab die Dankbarkeit gegenüber einem Staat, der ihm die Radkarriere ermöglichte. Er hat nie vergessen, wo er herkam, wie hart da gearbeitet wurde.“

Von 1958 bis 1990 gehörte Schur als Abgeordneter der DDR-Volkskammer an. 1998 zog er dann mit PDS-Mandat für eine Wahlperiode in den Bundestag ein und war Mitglied im Sportausschuss. Ihm zur Seite stand als Referent Klaus Köste, Turn-Olympiasieger in München 1972, der 2012 starb. „Sie ergänzten sich wunderbar“, sagt Schäfer und bezeichnet Köste als den Kopf und Diplomaten, „der brenzlige Situationen bereinigen konnte. Mir tat es immer weh, wenn bei Schur die Worte auf die Goldwaage gelegt wurden, um ein Denkmal zu demontieren.“

Im MDR-Riverboat saß Schur einem Gast gegenüber, der jetzt sein Vorbild ist: der hundertjährige Herbert Köfer. Die zehn Jahre bis zum nächsten großen Jubiläum will er ebenfalls schaffen, und den nötigen Optimismus dafür strahlt er aus. „Warum nicht? Wenn man die Lebensfreude bei Köfer und Täve sieht, wie ihre Augen blitzen, dann muss einem nicht bange sein“, sagt Schäfer.

Ob die Geburtstagsfeier zum 90. nun im Spätsommer nachgeholt wird, ist allerdings offen. „Das lässt du bleiben“, knurrte Schur, als eine Nachholvariante zur Rede kam. „Was vorbei ist, ist vorbei.“ Schäfers Antwort: „Wenn der Saal voll ist, dann bist du aber auch glücklich.“