Dresdner verliert Kletterfreund am Nanga Parbat: „Dieses Bild vergesse ich nie“
Der Nanga Parbat ist ein Berg großer und auch dramatischer Momente wie sie nach Reinhold Messner auch Markus Walter erlebte. Eine Suchaktion brachte den Dresdner in große Gefahr.
Von
Jochen Mayer
9 Min.
Teilen
Folgen
Dresden. Triumphe und Tragödien liegen in gefährlichem Terrain dicht beieinander. Diese leidvolle Erfahrung machte 2004 auch eine sächsische Nanga-Parbat-Expedition. Zu viert standen die Alpinisten auf dem Gipfel – nur drei kehrten zurück. Günter Jung stürzte beim Abstieg in den Tod. Aus nächster Nähe erlebte Markus Walter das Unglück.
Der 50-jährige Dresdner, einer von drei Geschäftsführern der Reiseagentur Diamir, spricht im Interview mit der Sächsischen Zeitung über den Todessturz, sein besonderes Verhältnis zum neunthöchsten Berg und warum Achttausender kein Thema mehr für ihn sind.
Markus Walter, warum wollten Sie ausgerechnet auf den Nanga Parbat?
Das ist für mich der Berg der Berge. Der Everest ist der Höchste, steht aber schon weit oben. Der Gipfel liegt gut 3.000 Meter über dem Basislager. Das ist nichts gegen die gewaltigen 7.000 Meter, die der Nanga Parbat über dem Indus aufragt. 1995 wollten wir zum Broad Peak, da sah ich erstmals den Giganten. Der Bus hielt, wir staunten mit offenen Mündern den sieben Kilometer hohen Koloss an.
Hatten Sie dort das Gefühl, da hoch zu müssen?
Nein, ich wusste: Das ist einer der schwersten Achttausender. Das lag jenseits meiner Reichweite. Wir waren froh, den Broad Peak gemeistert zu haben, ein vergleichsweise leichter Achttausender. 2001 hatte ich mein Schlüsselerlebnis, als ich nach der Besteigung des Gasherbrum II auf dem Rückflug ins Cockpit durfte. Der Pilot wusste, ich bin Bergsteiger und flog extra nah am Nanga Parbat vorbei.
Da funkte es?
Aber wie, ich schaute von oben auf den Gipfel und dachte: Was für ein Berg, da müsste man mal hoch. Der Flug war eine Woche vor den Terroranschlägen auf die Zwillingstürme in New York. Danach waren solche Pilotenbesuche unmöglich. Drei Jahre später wagten wir die Besteigung.
Wie fand sich die Mannschaft?
Mit meinem Bruder Christian verstehe ich mich blind beim Klettern. Mit Jens Triebel war ich in der Tatra unterwegs, er brachte Carsten Beichler mit. Mit Günter Jung kletterte ich oft, in Nepal, in den Alpen im Elbsandstein. Als Vorruheständler hatte er immer Zeit, war fit, besaß Lebenserfahrung. Und mit Jörg Stingl unternahm ich Touren in Peru und im Himalaja. Er hatte zudem Zugang zu Sponsoren. Das passte alles.
Aber nicht alle standen auf dem Gipfel.
Carsten bekam Probleme mit der Höhe. Jens ging es 200 Höhenmeter unter dem Gipfel nicht mehr gut, er kehrte um – eine ebenso starke wie richtige Entscheidung.
Wie war es auf dem Nanga Parbat?
Alle waren platt. Es hatte viel geschneit. Wir mussten extrem anstrengend spuren, wechselten uns ständig ab dabei. Wir kamen vor Mitternacht bei Top-Bedingungen oben an. Es war windstill, bei Vollmond brauchten wir fast keine Stirnlampen. Alles glänzte silbrig im Mondlicht, eine tolle Stimmung. Ich hatte damals keine Digitalkamera, musste oben den Film wechseln. Wir gönnten uns nur fünf Minuten zum Genießen der magischen Momente. Der anstrengendste Teil war geschafft, der gefährlichste stand uns aber bevor. Besonders an Achttausendern gehört der Berg, um das mal so zu sagen, dir erst, wenn du wieder unten bist. Davor gehörst du ihm.
Wir waren unterschiedlich schnell. Ich ging vor Günter und Jörg. Plötzlich kam Günter an mir vorbeigerauscht. Er war auf hartem Firn, kein Blankeis, ausgerutscht. Das passiert, wenn Steigeisen nicht greifen. Zwei Wochen zuvor gab es einen ähnlichen Zwischenfall. Da schlug der Gestürzte noch den Eispickel ein, stoppte den Fall. Günter rutschte ein paar Meter entfernt an mir vorbei, ich hätte nicht zugreifen können.
Angeseilt waren Sie nicht?
Nein, dann wären in diesem Gelände alle weg gewesen. Einer hätte alle mitgerissen.
Hätte er eine Chance gehabt?
Das spielte sich in Sekundenbruchteilen ab. Er schoss seitlich liegend an mir vorbei. Dieses Bild vergesse ich nie. Er hätte sich nur auf den Bauch drehen und den Pickel einschlagen müssen, extrem steil war die Stelle nicht. Dann wäre sicher alles gut gewesen. Ich schrie: „Günter, bremsen, bremsen.“ Er rief, es klang wie „Nein.“ Ich weiß nicht, ob oder was er verstanden hat. Dann war er weg.
Was haben Sie gemacht?
Ich gab Jörg die Kamera, er war zum Helfen zu platt, sollte ins nächste Lager absteigen, Christian und Jens informieren. Ich wollte Günter suchen, hoffte, dass er auf einem flachen Absatz liegt. Die Rutschspur war zu sehen, der stieg ich nach, immer noch ein Stück weiter, auch als es steiler wurde. Dann rutschte ich plötzlich selbst ab, flog über eine Kante, ein paar Meter tief.
Mit welchen Konsequenzen?
Rücken und Hand schmerzten. Später hieß es: Wirbel angebrochen, Mittelhandknochen gebrochen. Dann lag ich im Schnee, war völlig fertig, schlief ein. Als ich aufwachte, schien mir die Sonne ins Gesicht. Aus dem Basecamp sahen sie mich durch ein Fernglas. Kontakt war aber unmöglich, ich hatte das Funkgerät beim Sturz verloren. Dann begann meine Odyssee zurück.
Absteigen oder quer gehen schien unmöglich, obwohl unser Lager auf gleicher Höhe lag. Ich musste wieder gut 300 Höhenmeter hoch, dann seitlich absteigen. Das war enorm anstrengend. Aber ich hatte Günters Spur gesehen, die in den Abgrund führte. Heute frage ich mich manchmal, was passiert wäre, wenn ich damals alles hingenommen hätte und nicht gesucht hätte.
Was wäre dann gewesen?
Dann wäre ich sicher unverletzt geblieben. Mir erfroren bei der Suche auch die Ohren. Ich hätte den Wirbelbruch nicht gehabt, der eine komplizierte Operation erforderte und mich heute noch beim Klettern einschränkt. Ich wäre körperlich gesünder – psychisch nicht. Ein Leben lang hätte ich mir wohl vorgeworfen, nicht zu wissen, ob er vielleicht 20 Meter tiefer gesessen und gewartet hätte. So habe ich alles Menschenmögliche getan, vielleicht sogar mehr, als vernünftig war, um ihn möglicherweise doch noch zu retten.
Haben Sie die Bilder noch vor sich?
Früher jeden Tag. Du stehst vor dem Spiegel, siehst die abgefrorenen Ohren und hast wieder alles vor dir. Das ist aber lange her. Ich denke jetzt nur noch sehr selten daran. Man fand Günter nie. Dort gibt es überall wilde Spalten. Wer da reinfällt, bleibt für immer verschwunden. Günter war damals 64 und topfit. Ich hätte vielleicht noch 20 Jahre mit ihm klettern können. Andererseits erzählte er mir, dass ein Freund an einem Sonntag mit Ende 50 bei blauem Himmel auf dem Rennsteig in der Loipe mit Herzinfarkt tot umgefallen sei. Er meinte, dass es so sein solle, wenn es ihn mal erwischt. Er wollte nie dahinsiechen, sich quälen, an Apparaten hängen. Am Ende bekam er es so, wenn auch viel zu zeitig, mit der Erfüllung seines Lebenstraumes.
Das war für ihn der Nanga Parbat?
Ja. Da schloss sich ein Kreis. Seine Leidenschaft für das Bergsteigen begann mit dem Nanga Parbat. 1954 erlebte er in Ilmenau als Jugendlicher den Vortrag von Erstbesteiger Hermann Buhl. Das muss einiges in ihm ausgelöst haben, denn danach wurde er selbst ein Kletterer. Es war sein Anfangspunkt und wurde zum Endpunkt.
Es gab damals Spekulationen über einen möglichen Selbstmord?
Blanker Unfug. Sein letzter Ruf „Nein“, den ich weitergereicht habe, wurde von Boulevardmedien falsch interpretiert. Günter war total lebensbejahend. Sein größter Erfolg wäre gewesen, diesen Erfolg nach Schmalkalden, nach Hause zu bringen. Er war in Thüringen eine Kletterlegende, schaffte viele Erstbegehungen, schrieb Bücher über den Rennsteig oder einen Dresdner Radtourenführer, toll recherchiert.
Die Nanga-Parbat-Besteigung 2004 war die letzte große Sachsen-Expedition zu Achttausendern. Warum?
Ja, für mich sowieso. Das Bergsteigen an Achttausendern veränderte sich danach komplett. Für mich ist da nichts Erstrebenswertes mehr. Natürlich sind die Berge immer noch toll und die höchsten. Der Einsatz von Zeit, Aufwand, Geld ist jetzt so hoch, dass es in keinem Verhältnis zum möglichen Bergerlebnis steht. Ich war fünfmal an Achttausendern, stand fünfmal auf dem Gipfel. Ich muss mir nichts mehr beweisen.
Was hat sich verändert?
Wir waren 1999 am Manaslu. Im gesamten Basecamp hielten sich gut 20 Leute auf, das fühlte sich wie eine große Familie an. Voriges Jahr befanden sich im gleichen Basecamp rund 400 Bergsteiger plus etwa 250 Sherpas, Köche, Träger, Guides. Das familiäre ist weg, dafür herrscht starkes Konkurrenzdenken. Dazu kommt: Auf einem Achttausender ist man platt. Auf Sechstausendern kann ich den Gipfel ganz anders genießen. Ich fotografiere leidenschaftlich, seit ein paar Jahren mit Drohne. Das ist auf niedrigeren Gipfeln viel besser möglich.
Spielt auch Geld eine Rolle?
Unbedingt. Ich ging früher aller zwei Jahre Achttausender an. Dazwischen sparte ich jeweils auf die nächste Tour. Vergangenen Herbst stand ich auf neun Sechstausendern und einem Dutzend Fünftausendern. Dafür investierte ich viel weniger, war drei Wochen in Bolivien und vier in Nepal unterwegs. Ich brauchte weniger Zeit, einen Bruchteil des Geldes wie an Achttausendern, hatte dafür viel mehr Erlebnisse. Es ist auch weniger gefährlich. Ich habe Verantwortung als Familienvater und für meine Firma, muss mich auf keine Extreme mehr einlassen. Ich bin nun bekennender Genuss-Bergsteiger.
Sie erhielten mit Ihrem Bruder Christian das Bundesverdienstkreuz. Wofür?
Nach Erdbeben und Flutkatastrophen in Pakistan stellten wir Hilfsaktionen auf die Beine. 2005 riefen wir zur Spendenaktion auf. Nach einer Woche hatten wir 50.000, nach einem Monat 150.000, am Ende über eine Viertel-Million Euro gesammelt. Das war eine Riesenverantwortung, dass das Geld korrekt ankommt. Zwei, drei Jahre steckte ich meine komplette Freizeit in ehrenamtliche Projekte. Wir bauten drei Schulen erdbebensicher auf, setzten Wasserkraftwerke instand. Das Geld kam zu 100 Prozent an. Nach einer Flutkatastrophe füllte sich unser Spendenkonto erneut – ohne Aufruf. Auch dieses Geld landete in Projekten.
Ende Juli geht es für drei Wochen in den Tienschan, an den 7.000 Meter hohen Khan Tengri. Dort war ich vor 32 Jahren mit meinem Bruder schon mal, damals mit völlig ungeeigneter Ausrüstung und zu wenig Erfahrung nicht auf dem Gipfel. Diesmal klappt es hoffentlich!