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"Blamabel": Was Dresdens Gold-Trainer über die deutsche Olympia-Bilanz denkt

Am Beispiel Rudern lässt sich Erfolg und Niedergang einer Sportart in Deutschland perfekt nachvollziehen. Und kaum einer weiß darüber so viel wie der Dresdner Hans Eckstein.

Von Jochen Mayer
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Erfolgreicher Rudertrainer: Hans Eckstein im Dresdner Bootshaus Cotta.
Erfolgreicher Rudertrainer: Hans Eckstein im Dresdner Bootshaus Cotta. © Jochen Mayer

Dresden. Wassersportler gehören zur Elbe. Ein Ruderboot schippert jeden Dienstag und Sonnabend zehn Kilometer vom Dresdner Bootshaus Cotta zur Marienbrücke und zurück. Die Besatzung ist eine besondere.

Sie war erfolgreicher als alle deutschen Ruderer kürzlich bei Olympia in Paris. Sie saßen einst in Dresdner Vereinsbooten der Weltklasse. Dieter Schubert und Dieter Grahn gewannen 1968 und 1972 im legendären Vierer ohne Steuermann Olympiagold, Manfred Gelpke und Klaus Jacob ruderten in Mexiko zu Olympiasilber im Vierer mit Steuermann.

Zum Vergleich: 2024 standen deutsche Ruderer mit einmal Gold und Bronze in der olympischen Medaillenwertung. Hans Eckstein zog diesen bitteren historischen Vergleich.

Zweimal pro Woche geht es für die Olympiasieger von 1968 und 1972 noch zum Rudern auf die Elbe.
Zweimal pro Woche geht es für die Olympiasieger von 1968 und 1972 noch zum Rudern auf die Elbe. © privat

Er sitzt momentan wegen Rückenbeschwerden nur am Steuer des Rentner-Bootes. Seine Gefährten sind eingespielt, jede Bewegung sitzt. Seit gut sechs Jahrzehnten kennen sich die Männer mit der wettergegerbten Haut, sie können sich aufeinander verlassen. Alle feierten schon ihren 80. Geburtstag. Der Älteste im Boot ist der 86-jährige Eckstein, ein Meistermacher.

Im Interview mit der Sächsischen Zeitung kommt der frühere Weltklasse-Trainer gleich zur Sache: „Mich ärgert, weil andere Länder vieles so machen wie wir einst und Erfolg damit haben, an uns vorbeigezogen sind.“ Er beklagt, dass Deutsche seit Jahren oft nur zuschauen. „Das ist blamabel“, meint er. Und Eckstein kennt viele Gründe für den Niedergang – aber auch den Aufstieg zuvor.

Der dreifache DDR-Ruder-Meister, der in Halberstadt geboren wurde, wuchs in Oschersleben und Magdeburg auf. Förster wollte er werden. Doch der Vater, gerade aus dem Krieg zurückgekehrt, stellte sich quer. Ein „ordentlicher Beruf“ sollte es sein, Förster seien die Ersten, die im Krieg schießen müssten. So wurde der Sohn Modell-Tischler, arbeitete im Schwermaschinenbau-Kombinat. Das delegierte ihn zum Sportstudium nach Leipzig.

Schicksalhafte Begegnung mit 18

Handball, Speerwerfen oder Mittelstrecken-Läufe gefielen dem Burschen am meisten. In Leipzig lief der 18-Jährige Ruderern in die Arme, die Talente suchten. „Ich war nicht der Größte, ein Grenzfall für sie, hatte zuvor nie was mit Rudern zu tun gehabt“, beschreibt er die schicksalhafte Begegnung, die ihn zum Wassersport lotste.

Im Herbst 1964 endete Ecksteins Leistungssport-Karriere. Eine Trainerstelle in Leipzig war ihm sicher. Er wollte Basketballern, Volleyballern und Handballern, die keine Chance mehr hatten, eine Ruder-Perspektive öffnen. Doch Ostern 1965 kamen drei Dresdner und fragten, ob er nicht Lust hätte, sie zu trainieren. Sein Trainer-Praktikum mit ihnen hätte ihnen gefallen. Nach einer Woche Bedenkzeit und Gesprächen mit seiner Frau, fiel die Entscheidung für die ungewöhnliche Offerte.

„Den Ausschlag gab, dass die Dresdner mit ihrem Trainer haderten“, erzählt Eckstein. „Sie waren hungrig, wollten Erfolge, fühlten sich jedoch alleine gelassen. Ich erstellte ein Konzept, listete Prinzipien auf, sagte: Wenn ihr das wollt, komme ich.“ Er stieß auf offene Ohren – und wurde Trainer von zehn Männern, mit 27 Jahren nur wenig älter als seine Athleten. Noch im selben Jahr waren sie DDR-Meister.

Das Selbstbewusstsein wuchs, der Trainer stachelte es an. Sein Motto lautete: „Wenn ihr es ernst meint, Weltmeister zu werden, sagt das auch.“ Zu dieser Zeit hatte die DDR noch keine Ruder-Weltmeister.

Eine Gaststätte gegen alle Widerstände

Die Ansage hatte Substanz. Ein Vierer und ein Zweier jeweils ohne Steuermann hatten sich gefunden. Der Trainer sah, wie intensiv sie arbeiteten und spürte, wie gierig sie den Erfolg suchten. „Ich sagte ihnen: Nicht jammern. Weltmeister werden in Hütten gemacht, nicht in Palästen. Die erkämpfen wir uns. Wir waren uns einig, dass sich nur Schritt für Schritt Bedingungen verbessern ließen.“

Gegen alle Widerstände wurde zum Beispiel eine Sportlergaststätte im Bootshaus eingerichtet, damit die Ruderer nicht mehr ewig mit der Straßenbahn durch Dresden zum Essen fahren mussten. Bald wohnten die Sportler im Bootshaus, Verpflegung gab es im Objekt, ein Physiotherapeut wurde gewonnen, und ein Arzt bekam sein Zimmer. So wurden echte Leistungssport-Bedingungen geschaffen.

Das große Vorhaben gelang 1966. Peter Kremtz und Roland Göhler wurden im Zweier ohne Steuermann die ersten Ruder-Weltmeister des SC Einheit Dresden und mit zwei weiteren Booten der DDR. Bei dieser Meisterschaft betreute der Trainer natürlich auch seine Vierer-Crew: „Ich sehe noch heute Dieter Schubert vor mir, wie er zusammengesunken in einer Ecke hockte. Er hielt es für unmöglich, dass zwei Boote aus einem Klub WM-Gold gewinnen. Da bin ich laut geworden: ,Warum nicht? Haben wir das Ziel oder nicht!‘ Sie fuhren raus und gewannen.“

Dieser Dresdner Vierer war ein besonderes Boot, meint Eckstein. Sie kannten sich aus Jugendzeiten. Und von Beginn an achtete er darauf, dass grundverschiedene Mentalitäten zusammentrafen. Frank Forberger besaß als Schlagmann die größte Übersicht, war der Stratege. Frank Rühle dahinter fand in entscheidenden Situationen den richtigen Ton, gab Impulse. Dieter Grahn war der physisch Stärkste, immer unruhig, hielt die Truppe auf Trab. Dieter Schubert wirkte ausgleichend, brachte Ruhe rein. „Sie passten wunderbar zusammen“, schwärmt Eckstein noch heute.

Intensive Zeitplan-Abstimmung

Mit dem Olympiasieg in Mexiko – eine Stunde davor hatte der Vierer mit Steuermann Silber gewonnen – standen sie auf dem Gipfel. Da überraschte der Trainer sein drei Jahre ungeschlagenes Team mit dem Wunsch auf zeitweise Trennung. Die sollte andere Reize und neues Feuer für die nächsten Jahre bringen.

So wurden Forberger/Grahn EM-Zweite im Zweier ohne Steuermann, Schubert gewann EM-Gold im Rostocker Achter, Rühle kurierte eine Verletzung aus. Danach kamen sie wieder zusammen, setzten den Siegeszug fort, wurden erneut Welt- und Europameister, noch mal Olympiasieger. Eine Ära endete, doch die Dresdner Tradition setzte sich fort, viele Weltmeister und Olympiasieger folgten. Im Bootshaus hängt eine Wand voller Fotos mit Erfolgsruderern und -ruderinnen.

Stolz erzählt Eckstein vom weiteren Werdegang seiner Athleten: „Alle brachten Ausbildung oder Studium zu Ende. Von acht Sportlern meiner Trainingsgruppe promovierten drei. Fünf haben Diplom-Abschlüsse. Dieter Grahn übernahm die Truppe als Trainer. Ich habe dafür aber auch teils mit mehr als zehn Bildungs-Institutionen Zeitpläne abgestimmt, damit Training und Ausbildung passten.“ Sein Arbeitstag begann früh um sieben, endete spät. Dabei hatte er drei Kinder und Familie. Ohne die Unterstützung seiner Frau wäre das alles nicht möglich gewesen, sagt er.

1987 wurde Eckstein schließlich Verbandstrainer. Im November 1990, da gab es die DDR gar nicht mehr, durfte er bei der WM in Tasmanien noch mal Titel feiern mit einer DDR-Mannschaft – und den Sieg in der Medaillenwertung. Dann saß er in Komitees zur Wiedervereinigung beider Verbände und schrieb Konzepte, wie es weitergehen sollte. Und zum Schluss fragte er: Was wird aus Eckstein? Es gab keine Antwort. Bei einer Regatta sprach er den westdeutschen Verbandschef Henrik Lotz an – und bekam als lapidare Antwort: „Sie gehen am besten ins Ausland.“

Der Trainer und seine Athleten: Hans Eckstein, Dieter Schubert, Klaus Jacob, Manfred Gelpke und Dieter Grahn (v.l.n.r.).
Der Trainer und seine Athleten: Hans Eckstein, Dieter Schubert, Klaus Jacob, Manfred Gelpke und Dieter Grahn (v.l.n.r.). © privat

Da wusste der Dresdner, er muss sich kümmern. Ein Angebot gab es aus Boston: Ruderlehrer an der Uni, eine Stelle auf Lebenszeit. Er kannte die Bedingungen, hatte sie im Frühjahr 1989 bei einer Ergometer-WM gesehen und war beeindruckt vom Strömungskanal. Davon träumten sie in der DDR.

Ein weiteres Angebot kam aus Frankreich, da gab es ein Sprachproblem. Eckstein bekam zudem eine überraschende Offerte aus Österreich, als Sportkoordinator zu arbeiten und Trainer aus fünf Nationen unter einen Hut zu bringen. Das reizte ihn, er unterschrieb. Olympiasilber und vier WM-Titel gelangen in seiner Zeit bis 2001.

Das Gefühl, nach der Wende abserviert worden zu sein, ist geblieben. Nie wieder hat er mit Verbandschef Lotz gesprochen. „Sie übernahmen das gesamte Material, die Sportler, die Bootshäuser. Bei der Methodik klang es süffisant. Der Rest fiel hinten runter. Die heutige Misere im deutschen Rudersport begann vor 35 Jahren. Es war ja keine Vereinigung. Im Westen blieb alles beim Alten, sie lebten noch eine Zeit von den neuen Aktiven. Dagegen wurden die meisten Trainer und Wissenschaftler zum Teufel geschickt“, bilanziert Eckstein.

Die Ruderer hatten in Berlin-Grünau ein wissenschaftliches Trainingszentrum. Da wurden Wissenschaftszweige zusammengefügt wie Biomechanik, Physiologie, Psychologie, Pädagogik, Sportwissenschaft. Aller vier bis sechs Wochen saßen die Trainer aus den acht Leistungszentren der DDR zusammen und mussten Rechenschaft ablegen. „Das war ein fantastischer Erfahrungsaustausch“, erklärt Eckstein, und er sagt: „Da gab es keinen Futterneid. Davon sind sie heute ganz weit weg.“

„Auf dem Niveau von vor 35 Jahren“

Westdeutsche Ruderer hatten auch Traditionen. Davon blieb nicht viel. „Sie stehen jetzt auf dem Niveau von vor 35 Jahren“, sagt Insider Eckstein. „Wir hatten vor Mexiko versuchsweise Höhentraining probiert mit Gasanalysen, dabei auch Fehler gemacht, aber daraus gelernt und Schlussfolgerungen gezogen“, erzählt Eckstein, der zu dem Thema auch promovierte. Die Arbeit, meint er, habe außer die derzeitige Bundestrainerin Brigitte Bielig aus Dresden niemanden interessiert.

Und dann redet sich Eckstein in Rage: „Als die Sportler gebraucht wurden, spielte Doping und Stasi keine Rolle. Sie lebten ganz gut vom Erbe. Inzwischen ist das aufgebraucht.“

Einzelne kämen heute mit ihrem auf sie zugeschnittenen Umfeld durch wie Einer-Olympiasieger Oliver Zeidler. „Nach dem Olympia-Debakel von Tokio 2021 hieß es, generell müsste sich was ändern. Aber nichts Grundsätzliches passierte. Zwei bis drei deutsche Ruder-Zentren funktionieren nicht für die Breite, wenn die Besten aus den Vereinen abgezogen werden“, so Eckstein.

Wie Eckstein seinen Frieden gefunden hat

Ein Manager wäre nötig, es müsste finanziell mehr Möglichkeiten geben. Und auch das Trainer-Problem sei nicht gelöst. „Wie will ich mit Zwei- bis Vier-Jahres-Verträgen etwas entwickeln? Und dann wird auch noch den Bundesjugendspielen der Wettkampfcharakter genommen. Andererseits träumen sie von Olympischen Spielen in Deutschland. Das beißt sich alles“, findet Eckstein.

Die deutschen Ruderer reisten zuletzt mit einem Miniteam zu Olympia, nur in sieben von 14 Klassen hatten sich Boote qualifiziert. „So müssen wir uns nicht wundern, wenn Briten, Franzosen, Holländer, Italiener oder Australier uns davonfahren, wo überall auch DDR-Trainer ihr Wissen weitergegeben haben“, klagt ein frustrierter einstiger Meistermacher.

Eckstein selbst hat seinen Frieden gefunden, wenn er sich jetzt auf das Fahrradergometer, in den Ruderkasten oder ans Steuer des Senioren-Bootes setzt. Die Dresdner haben gezeigt, wie Erfolge möglich sind.