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Boulder-Boom in Sachsen: Warum der Sport so beliebt ist

Hallen entstehen, auch die Sportläden erkennen den Trend: Bouldern ist in Sachsen nicht zu stoppen. Warum der Sport so viele Menschen anzieht, eher wenig mit Klettern zu tun hat – und warum die meisten Boulderer gar kein so großes Interesse an echten Felsen haben.

Von Elisa Schulz
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Dean Pommer kommt mehrmals die Woche in die Mandala-Boulderhalle. Bouldern – also klettern ohne Seil – ist sein großes Hobby.
Dean Pommer kommt mehrmals die Woche in die Mandala-Boulderhalle. Bouldern – also klettern ohne Seil – ist sein großes Hobby. © kairospress

Die Matte gibt nach und knistert leicht beim Drüberlaufen. Am anderen Ende der Halle rennen ein paar Kinder über die Gummimatten. Dann der erste Griff an den Vorsprung. Das weiße Magnesia-Pulver stiebt in die Luft, Muskeln spannen sich an und Dean Pommer zieht sich nach oben. Immer abwechselnd greift er mit den Händen nach den bunten Steinen an der Wand. Dann greift er ins Leere, rutscht ab und fällt. Keine Sicherung greift. Die Matte macht einen dumpfen Ton. Er schaut zu seinem Freund, der am Mattenrand steht. Beide lachen.

„Ich habe die Strecke schon so oft gemacht und trotzdem brauche ich etwas Zeit, um sie wieder zu können.“ Dean Pommer ärgert sich. Seit vier Jahren bouldert er, seit zwei Jahren regelmäßig. 2020 zog er nach Dresden und begann in der Mandala-Boulderhalle in Dresden zu klettern. „Ein ehemaliger Kommilitone hat mich damals mitgenommen“, sagt Pommer. Er ist im Mandala zwei- bis dreimal die Woche anzutreffen.

Klettern ohne Sicherung

Bouldern wird auch Freiklettern genannt und beschreibt das Klettern ohne Sicherung an Vorsprüngen oder Felsformationen, aber oft auch an künstlichen Wänden. Das Wort „Boulder“ kommt aus dem Englischen und steht für „Felsblock“. Kaum ein Freizeitsport hat in den vergangenen Jahren einen solchen Boom hingelegt wie das Bouldern.

Beim Klettern ist der Sportler mit einem Seil gesichert und trägt einen Klettergurt, es gibt keine Höhengrenze. Beim Bouldern hingegen wird ohne Sicherung geklettert, dann auch nicht höher als drei bis vier Meter, damit eine Absprunghöhe und ein sicherer Fall gesichert werden können. Dafür kommt auch eine weiche Fallmatte zum Einsatz.

"Die Sächsische Schweiz und das Klettern gehören schon immer zusammen"

Bouldern war nicht immer eine eigene Sportart. „Ursprünglich war das Klettern ohne Sicherung dafür da, um sich vorm Klettern warm zu machen“, sagt Hannes Markert, Landesleiter der Bergwacht Sachsen. Und Klettern selbst ist eine Sportart mit langer Geschichte – die in Sachsen begann. Denn die erste sportlich motivierte Besteigung eines Felsens fand 1864 in Ostsachsen statt. Ein Schandauer Turner kletterte auf den Falkenstein. „Die Sächsische Schweiz und das Klettern gehören schon immer zusammen“, sagt Markert.

Die ersten Anfänge des Boulderns hingegen gab es dann um 1890 in Frankreich. Die vermutlich erste Boulderhalle in Deutschland eröffnete 2003 als „Bouldercity“ in der Dresdner Neustadt und existiert auch heute noch. Mittlerweile hat Bouldern nicht mehr viel mit dem Klettern zu tun. „Es hat sich in zwei verschiedene Richtungen entwickelt“, sagt Markert.Inzwischen hat Bouldern vor allem in Sachsen immer mehr Fans. Bei einer Umfrage der Sächsischen Zeitung Anfang des Jahres nach den beliebtesten Boulderhallen in Dresden stimmten rund 3.000 Menschen mit ab.

Dean Pommer merkt das: „Es gibt mehr Leute, der Andrang ist größer.“ Während Corona haben der Sport und auch die Hallen einen Sprung gemacht, es wurden mehr. „Es ist cool, wenn sich so viele für den Sport begeistern können“, sagt Pommer, „doof wird es dann, wenn man an Strecken lange anstehen muss.“ Einen Grund für die Beliebtheit sieht er darin, dass „man fürs Bouldern kaum Geräte braucht“. Gerade bindet er im Mandala seine Kletterschuhe neu, um wieder an die Wand gehen zu können. Er gibt für den Sport im Jahr gut 700 Euro aus. „Davon bezahle ich die Schuhe, den Mitgliedsbeitrag in der Halle und noch andere Kleinigkeiten wie Magnesia und Putzwerkzeuge“, sagt der 26-Jährige. Das Magnesia-Pulver nimmt Wasser auf und dient dazu, den Schweiß von den Händen und Fingern aufzusaugen.

Robert Leistner ist Geschäftsführer der Mandala-Boulderhalle im Dresdner Norden, bald eröffnet er eine zweite Halle.
Robert Leistner ist Geschäftsführer der Mandala-Boulderhalle im Dresdner Norden, bald eröffnet er eine zweite Halle. © Christian Juppe

Wer bouldern will, muss keinem Verein angehören, da der Sport auch allein ausgeführt werden kann. Auch sonst muss man wenig dafür mitbringen. Es gibt im Prinzip also keine Zugangsbeschränkungen für, was für Robert Leistner einer der Hauptgründe für den Boulder-Boom ist. Leistner ist einer der Besitzer der Mandala-Boulderhalle in Dresden. Er sagt: „Man braucht kaum Ausrüstung. Richtige Schuhe sind alles, und selbst die kann man sich leihen“, sagt er. „Klettern ist abenteuerorientiert und naturverbunden. Man will viel Zeit draußen verbringen, vielleicht auch mit der Familie“, erklärt Leistner den Sport. „Bouldern hingegen ist wie ein Rätsel zu lösen. Man will Erfolge erzielen. Es heißt scheitern und dann wieder neu versuchen – und das am besten gemeinsam mit anderen.“

Die Routen werden auch als „Boulderprobleme“ bezeichnet, die es zu lösen, also von Anfang bis Ende zu beklettern gilt. „Am Anfang ist es undenkbar, wie man eine der Routen lösen kann, aber mit ausprobieren und dem Rat anderer kann man es zusammen schaffen“, so der Boulderhallen-Besitzer. Das gemeinsame Rätseln und die Gemeinschaft sieht er als entscheidend für das starke Wachstum des Sports. Die kleinen, schnellen Erfolge regten dazu an, auch andere Strecken zu probieren. „Es verbindet stark, die Strecken gemeinsam auszuprobieren, sich auszutauschen und sie dann auch zu lösen“, sagt Leistner.

"Dann will ich nur an den Bouldern nach oben kommen"

Dean Pommer bouldert mittlerweile bis zur Schwierigkeitsstufe sieben von den acht, die es im Mandala gibt. „Ich fühle mich nicht unbedingt, als sei ich Profi“, sagt er. Eigentlich ist es ihm auch unangenehm, dabei beobachtet zu werden. Sobald er aber an der Wand mit den bunten Bouldern hängt, schaltet er die Umgebung ab. „Dann will ich nur an den Bouldern nach oben kommen“, sagt er. Sollte er fallen, ist es auch nicht schlimm. „Dann probiere ich es wieder und wieder.“

Gerade, als er erneut nach einem Boulder greift, kommen einige Bekannte dazu und setzen sich auf die Matte, um ihm zuzusehen. Er fällt. „Normalerweise kann ich die Strecke“, sagt er etwas beschämt. Seine Boulder-Bekannten sprechen ihm Mut zu. „Du fängst heute auch gleich echt schwer an“, sagt der eine, ein anderer fragt, ob Pommer sich auch richtig warm gemacht habe. Wieder ein anderer fügt hinzu: „Vielleicht solltest du noch mal versuchen, anders zu greifen.“ Er steht auf und geht mit Dean Pommer an die Kletterwand, um die einzelnen Schritte durchzusprechen. Dann versucht Pommer es erneut und kommt weiter als vorher.

„Wir sind eine Gruppe von sieben bis acht Menschen“, sagt Pommer. Übers Bouldern hat sich die Gruppe kennengelernt. „Man kennt immer ein bis zwei Leute in der Halle, mit denen man sich austauschen kann“, ergänzt sein Freund. Die Lösung der Strecken ist für Pommer wie ein Spiel. Er beschreibt es als Rätsel für den ganzen Körper. „Dann hat man es einmal raus. Bis die Strecken umgeschraubt werden“, sagt er. Das passiert regelmäßig.

Der Boulderdrome in Radebeul hat gerade erst für das sächsische Kids Cup Finale umgebaut. Eine der Routenbauerinnen ist Petya Petkova. Sie gehört zur Betriebsleitung im Boulderdrome, bouldert aber auch seit zehn Jahren selbst. Für sie ist der Sport ein Körperrätsel. „Es gibt immer verschiedene Lösungen und eigene Wege, um zum Ziel zu kommen“, sagt sie. Die Wand ist das Trainingsgerät, das immer wieder neu angepasst wird. „Wir machen die Routen im Boulderdrome aller sechs bis acht Wochen neu“, sagt die 39-Jährige, „sonst wird es schnell langweilig.“ Außerdem müssen die Vorsprünge regelmäßig gereinigt werden.

Für Petya Petkova ist Routenbau etwas für "Körper und Köpfchen". Sie bouldert selbst, schraubt aber auch die Routen in den Hallen.
Für Petya Petkova ist Routenbau etwas für "Körper und Köpfchen". Sie bouldert selbst, schraubt aber auch die Routen in den Hallen. © SZ/Veit Hengst

Der Routenbau ist etwas für „Körper und Köpfchen“, sagt Petkova. Die sogenannten Routen-Setter überlegen sich die Strecke an der Wand und klettern sie dann gedanklich ab, bevor sie die verschiedenen Tritte und Griffe befestigen. „Es gibt verschiedene Schwierigkeitsgrade bei uns, die farblich unterteilt sind. Also muss die geplante Strecke auch den entsprechenden Schwierigkeitsgrad haben. Das ist manchmal gar nicht so leicht“, sagt die 39-Jährige, „die Setter leben sich beim Anbringen aus, danach wird es ausprobiert.“ Teilweise werden nach dem ersten Anbringen Teile noch einmal verschoben oder abgenommen. Im Boulderdrome gibt es neun Schwierigkeitsstufen. „Die Verteilung der Schwierigkeitsstufen ähnelt der Welle einer Glockenkurve“, sagt die Setterin. Die Stufen eins bis drei und sieben bis neun sind am seltensten, die meisten Strecken sind eine vier bis sechs. „Das können die meisten, deswegen gibt es davon mehr“, sagt Petkova.

Obwohl Bouldern weiterhin eine männerdominierte Sportart ist, betreiben sie inzwischen viel mehr Frauen. „Die Routen werden viel technik- und bewegungsintensiver, aber Kraft bleibt eine sehr wichtige Komponente, gerade in den höheren Schwierigkeitsgraden“, sagt Petkova. „Mittlerweile kommen auch viele Elemente aus dem Parkour.“ Sie meint den Sport, bei dem man meist im urbanen Raum wie bei einem Hindernisparcours über Gegenstände springt, läuft oder klettert.

Boulderhallen-Besitzer Robert Leistner kennt das Phänomen, dass andere Elemente ins Bouldern aufgenommen werden. Seit der Eröffnung des Mandalas 2016 habe sich die Sportart stark verändert. „Am Anfang war es sehr statisch, mittlerweile ist mehr Bewegung darin“, sagt der 42-Jährige. Seit 2020 ist Bouldern auch als olympische Sportart anerkannt und wurde für die Spiele in Tokio als Kombination aus Speedklettern (Klettern auf Schnelligkeit), Bouldern und Klettern geschaffen. Für die kommenden Spiele 2028 in Los Angeles ist Sportklettern auch wieder als Sportart dabei. Bei den kurz darauf dort stattfindenden Paralympics 2028 wird erstmalig Paraclimbing Teil der Spiele sein.

Für den Mandala-Besitzer heißt das jetzt aber auch, einen Spagat zu finden zwischen dem breiten Freizeitsport des Boulderns, den Boulderern, die nach spektakuläreren Routen suchen und denen, die es als Leistungssport betreiben möchten. „Wir versuchen, Routen zu entwickeln, die jeder nutzen kann“, sagt Leistner. Denn nicht nur der Sport an sich, sondern auch die Sportler verändern sich. „Nach der Eröffnung kamen eher Kletterer, die im Schnitt 28 oder 29 Jahre alt waren und die vorher schon geklettert haben.“ Mittlerweile sind die Sportler 17 bis 25 Jahre alt und bringen kaum Klettererfahrungen mit.

Hunderte Boulder-Gruppen auf Facebook

Es lässt sich schwer bemessen, wie viele Boulderer es in Sachsen oder Deutschland gibt. Auf Facebook existieren Hunderte Gruppen, die sich mit dem Bouldern beschäftigen, die meisten haben zwischen 2.000 und 7.000 Mitglieder. Auffällig ist aber die wachsende Anzahl an Hallen. Ende 2021 gab es in Deutschland rund 220 Hallen des Deutschen Alpenvereins und 315 privat geführte Hallen, die mehr als 100 Quadratmeter Kletterfläche haben. In Dresden und der nahen Umgebung gibt es mittlerweile sieben Boulderhallen.

Das Mandala eröffnet bald noch eine zweite Halle in der Nähe des Postplatzes. „Als ich 2008 auf die Idee kam, wollte ich eine Halle mit 1.000 Quadratmetern eröffnen“, erzählt Robert Leistner. „Das wurde abgelehnt – die Halle sei zu groß und das Projekt zu gewagt.“ Er öffnete seine Halle dann 2016 mit knapp 3.000 Quadratmetern und rund 300 Bouldern für Erwachsene, Familien und Kinder. Inzwischen ist die Halle zu Stoßzeiten, also vorwiegend am Abend, so gut gefüllt, dass Boulderer an den Routen anstehen müssen. Robert Leistner schätzt die Zahl der Boulderer „im Winter zur Prime Time in allen Hallen in Dresden auf circa 1.420 täglich.“ Die Hauptzeit für das Bouldern in der Halle ist von Oktober bis März. „Die meisten gehen aber nur ein bis zweimal die Woche“, sagt Leistner. Seine neue Halle ist nur für Erwachsene gedacht und bietet auf 1.700 Quadratmetern rund 150 Boulder.

Bouldern in der Halle oder Outdoor

Auch wenn Sachsen einige attraktive Klettergebiete aufweist – die meisten Boulderer bleiben in der Halle. Auch für Robert Leistner ist das Outdoor-Bouldern etwas ganz anderes. „Eigentlich sind es zwei verschiedene Unterkategorien“, sagt er. „Draußen ist das Bouldern fingerlastiger. Die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur machen viel aus. Man muss sich vorher überlegen, was man für Matten bei Stürzen braucht und wie viele. Drinnen ist die Gefahr vom Untergrund kaum da.“ Er schätzt, dass weniger als 20 Prozent der Hallen-Boulderer auch draußen klettern. Auch für Dean Pommer ist Bouldern draußen nicht so reizvoll wie in der Halle. Zu Beginn war er oft draußen bouldern, vor allem in der Nähe seiner Heimat, im Eilenburger Raum. An den Steinbrüchen ist er nicht mehr oft.

Der Eindruck, dass viele Unfälle in der Sächsischen Schweiz in den vergangenen Jahren auf den Boulder-Boom zurückzuführen sind, trügt ebenfalls. Die Bergwacht hatte im letzten Jahr 22 Einsätze wegen Kletterern. „Davon kein einziger wegen einem Boulder“, sagt Hannes Markert, Landesleiter der Bergwacht Sachsen. In dem Einsatzgebiet der 16 sächsischen Bergwachten liegen über tausend Felsen. Die meisten Einsätze geschehen wegen Wanderern und im Wintersport. „Wir hatten im letzten Jahr 125 Wanderunfälle und 181 Skiunfälle“, sagt der Landesleiter. Klettern und Bouldern sei da sicherer. „Die Leute wissen meist, was sie tun“, sagt er.

Beim Bouldern dienen Fallmatte und ein sogenannter Spotter, jemand, der vom Boden aus dem Boulderer hilft, als weitere Schutzvorkehrungen. Der sächsische Fels bietet sich übrigens für Boulderer besonders gut an: Es gibt kaum Sicherungen für Kletterer, dadurch ist der sächsische Sandstein für sie schwieriger, aber „es gibt viele kleine Felsen, die fürs Bouldern interessant sind“, sagt Markert.

Klettern "im Sächsischen" zieht immer mehr Menschen an

Im Elbsandsteingebirge gibt es allerdings auch ein paar Regeln zu beachten. „Magnesia ist zum Beispiel verboten“, sagt Markert. Das weiße Pulver greift den Stein an und kann ihn schädigen. Er empfiehlt jedem, der den Sport draußen einmal ausprobieren möchte, sich gut vorzubereiten. „Es gilt, nach den Regeln zu klettern, sonst macht man den Stein kaputt“, sagt er.

Auch wenn die meisten Hallen-Boulderer am liebsten auch in der Halle bleiben, hat das Klettern „im Sächsischen“ in den letzten Jahren immer mehr Menschen angezogen, sagt Hannes Markert. „Viele wollen draußen sein, die Natur genießen“, sagt der 44-Jährige, „das ist schon mehr Konsum als Genuss.“ Die meisten Kletterer kämen in die Sächsische Schweiz, um die Felsen zu erobern, „weniger, um wirklich den Aufstieg zu genießen. Sie klettern hoch, tragen sich ins Gipfelbuch ein oder notieren sich den Felsen und dann geht’s direkt zum nächsten“, sagt der Landesleiter der Bergwacht. Da Boulderer sich eher an kleineren Felsen ausprobieren, gibt es bei ihnen keine Gipfelbücher. „Sie wollen dann das Rätsel am Felsen lösen“, so Markert.

Dass Bouldern und Klettern mittlerweile konsumorientierte Sportarten sind, zeigen auch die Regale der Sportläden: Auf der Internetseite des großen Sportmarkts Decathlon gibt es 1.587 Artikel zum Thema Klettern.