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Von Greta über Selenskij bis Putin: Helden haben Hochkonjunktur

In Krisenzeiten wächst das Bedürfnis vieler Menschen nach Helden - sagt Gorch Pieken, Gründungsdirektor des Militärhistorischen Museums in Dresden.

Von Oliver Reinhard
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Durch Selenskij der Begriff „Held“ in Deutschland in einer neuen Ernsthaftigkeit diskutiert.
Durch Selenskij der Begriff „Held“ in Deutschland in einer neuen Ernsthaftigkeit diskutiert. © Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Gorch Pieken (63) hat Neukonzeption und Neubau des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr geleitet und war von 2011 bis 2017 dessen wissenschaftlicher Direktor. Seine modernen und oft mutigen Sichtweisen auf den Krieg als Kulturgeschichte haben Qualität und Popularität des Hauses massiv vergrößert. Jetzt eröffnete Pieken in der Zweigstelle Gatow des Militärhistorischen Museums Dresden die Ausstellung „PrinzipHeld*“. Wir sprachen mit dem Historiker über die Veränderungen des Begriffs „Heldentum“ und darüber, warum die Helden inzwischen wieder zurück sind.

Herr Pieken, wenn wir an die teils schrankenlose Verehrung vieler Menschen etwa für Greta Thunberg, Wolodymyr Selenskij oder auch Wladimir Putin denken: Wächst gerade in Krisenzeiten das Bedürfnis nach Helden?

Ja, Helden sind Krisensymptome. Und ja: Auch aus diesem Grund gibt es Konjunkturen des Heroischen. Sehr pointiert brachte der Romanist Victor Klemperer es zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in einem Tagebucheintrag auf den Punkt: Je mehr die NS-Propaganda von Helden spreche, umso schlechter stehe es um die Front und die Wehrmacht.

Gibt es einen Unterschied zwischen dem historischen Bild von Helden und Heldentum und dem in unserer Gegenwart?

In den Grundmerkmalen weniger. Das Heldentum war von Anfang an eine kraftstrotzende Männerdomäne. Der Held ist im Kampf geboren, auf den Schlachtfeldern. Insofern war Maskulinität eine grundlegende Kategorie des Heroischen. Sie gehört bis heute dazu. Wir haben uns für die Ausstellung Heldengeschichten und deren Konstruktionen angeschaut und konnten daraus sozusagen ein Baukastensystem entwickeln, einen Instrumentenkasten des Heroischen. Neun Bausteine braucht es für die typische Heldengeschichte. Dazu gehören etwa Erzählungen von Handlungsmacht, Einsatz oder Polarisierung – und weiterhin spielt eine bestimmte Vorstellung von Maskulinität eine wichtige Rolle, im althergebrachten Sinne des durchsetzungsfähigen Kämpfers. Auch heute und auch außerhalb von Kriegen und unabhängig von physischer Gewalt gilt: Was immer Helden tun, es gerät ihnen zum Kampf.

Auch zum Kampf ohne Waffen?

Genau. Bei Heroisierung geht es immer um eine Auseinandersetzung, eine Überwindung von Krisen und Widerständen, um die Erfüllung einer Aufgabe – und dies typischerweise verbunden mit einem robusten Durchsetzungsvermögen, wie es vom Publikum – und ohne Publikum gibt es keine Helden – noch immer oft mit Männlichkeit in Verbindung gebracht wird.

Wladimir Putin - hier mit seinem Bündnispartner, Nordkoreas Diktator Kim Jong-un - zelebriert ausgiebig die persönliche Rücksichtslosigkeit, das bedingungslose Durchsetzungsvermögen und sich selbst als Verkörperung eines angeblichen Volkswillens gegenüber
Wladimir Putin - hier mit seinem Bündnispartner, Nordkoreas Diktator Kim Jong-un - zelebriert ausgiebig die persönliche Rücksichtslosigkeit, das bedingungslose Durchsetzungsvermögen und sich selbst als Verkörperung eines angeblichen Volkswillens gegenüber © AP Pool

Nicht erst seit dem Ende des sogenannten „Jahrhunderts der Kriege“ 1989/90 hatten kriegerische Helden eigentlich ausgedient. Warum sind sie jetzt wieder da?

Dass sie gerade in Deutschland ausgedient hatten, ist ja mehr als verständlich. In der Zeit des Nationalsozialismus war der Begriff „Held“ mit geradezu kultischer Bedeutung aufgeladen und diente zur Mobilisierung, um Soldaten für einen verbrecherischen und rassebiologisch begründeten Vernichtungskrieg zu motivieren. Deshalb wurden „Bundeswehr“ und „Held“ nie zusammengedacht. Wenn deutsche Soldaten verehrt, geehrt und vielleicht sogar heroisiert wurden, dann als Not- und Aufbauhelfer etwa nach Naturkatastrophen – für ein eher ziviles Heldentum also.

Und innerhalb der Bundeswehr?

Mit deren ersten Kampfeinsätzen in Afghanistan entwickelte sich unter den Soldaten dort eine Art von heroischer Gemeinschaftskultur. Orientiert an traditionellen heroischen Konzepten und Praktiken, aber auch an Heroisierungsmodellen anderer Armeen demokratischer Staaten, entwickelten Angehörige der deutschen Kampftruppen in Afghanistan eigene Rituale, Symbole und Pathosformeln – eine Kriegerkultur, die emotionale Heimat bot. So etwas passiert immer und überall dort, wo es bewaffnete Konflikte gibt, wo es um Leben und Tod geht. Dies bewirkte gewissermaßen „bottom up“, also von unten nach oben, ein Umdenken in Politik und Gesellschaft. Es gibt inzwischen eine offizielle Anerkennungs- und Gedenkkultur, die sich z.B. in der Stiftung des „Ehrenkreuzes der Bundeswehr für Tapferkeit“ im Jahr 2008 manifestierte – und sich im Nachhinein als ein wichtiger Beitrag für die erst jüngst von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius geforderte „Kriegstüchtigkeit“ erweist.

Auch mit dem Wort „kriegstüchtig“ haben viele Menschen Probleme, manche bevorzugen daher eher „verteidigungsfähig“. Schlägt sich die „Zeitenwende“ also auch darin nieder, dass der Begriff „Held“ wieder zunehmende Re-Akzeptanz erfährt in immer breiteres Teilen der Gesellschaft?

Das ist immer noch eine milde „Re-Akzeptanz“. Der „Wald der Erinnerung“ in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in Geltow bei Potsdam oder das Ehrenmal der Bundeswehr im Bendlerblock in Berlin, dem Ort des Stauffenberg-Aufstands, sind umzäunte Orte mit doch recht geringer Breitenwirkung. Dennoch: Sie sind Teil des öffentlichen Raums. Aber ich glaube nicht, dass die Gesellschaft schon bereit wäre, ein Denkmal für die gefallenen Bundeswehrsoldaten in ihrer Mitte aufzustellen. Doch der Diskurs für die Belange der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz hat sich geöffnet.

Eine (vermeintliche) Schwäche kann in einer heroischen Erzählung zur Stärke werden oder dazu genutzt werden, umso deutlicher zu machen, wie sehr dieser Held oder diese Heldin über sich selbst hinausgewachsen ist. Wie es im Falle Greta Thunberg geschieht.
Eine (vermeintliche) Schwäche kann in einer heroischen Erzählung zur Stärke werden oder dazu genutzt werden, umso deutlicher zu machen, wie sehr dieser Held oder diese Heldin über sich selbst hinausgewachsen ist. Wie es im Falle Greta Thunberg geschieht. © dpa

Was genau?

Das Leitbild der Staatsbürger in Uniform wurde durch eine Vorstellung von Heldentum ergänzt, die sich auf die Bereitschaft bezieht, zu kämpfen und das eigene Leben einzusetzen für unsere demokratischen Werte und Ideale. Das wurde als wesentlich für die Schlagkraft der Bundeswehr erkannt. Und das ist in dieser Deutlichkeit neu.

Für welche Merkmale des Heldentums stehen im Kontrast zu den Heroen der Vergangenheit die zeitgenössischen Heldenfiguren heute? Wofür steht etwa Greta Thunberg?

Zunächst zeigt sich weniger ein Kontrast als eine Kontinuität: Figuren, die wir zu Helden erklären, sind das Resultat von Zuschreibungen. Diese Zuschreibungen sind abhängig von Werten, die sich verändern können. In unserer Ausstellung geht es deshalb auch weniger um Merkmale des Heldentums als vielmehr um die Frage, wie Heroisierung funktioniert. In unserer Ausstellung ist Greta Thunberg ein Beispiel für einen weiteren Baustein des Heroischen: „Polarisierung“. Helden und Heldinnen gehen aus polaren, konflikthaften Konstellationen hervor, und sie polarisieren auch selbst. Je intensiver die Bewunderung von der einen Seite, desto intensiver die Verachtung von der anderen.

Sind diese Helden nicht oft auch Underdogs, zumindest am Anfang ihrer Heldenlaufbahn? Gerade Greta steht ja eben nicht für Stärke und Kraft. Sondern eher für die körperliche Schwäche und Verletzlichkeit eines jungen Mädchens, das zusätzlich ein Handicap hat.

Alle heroisierten Figuren müssen eine Entwicklung durchmachen oder durchgemacht haben. Sie begründet und ermöglicht die Heroisierung überhaupt erst. Eine (vermeintliche) Schwäche kann in einer heroischen Erzählung zur Stärke werden oder dazu genutzt werden, umso deutlicher zu machen, wie sehr dieser Held oder diese Heldin über sich selbst hinausgewachsen ist. Greta Thunbergs verletzlich wirkende Mädchenhaftigkeit ließ ihre Unbeugsamkeit und Argumentationsfähigkeit – Eigenschaften, die eher als männlich gelten – nur umso überzeugender als heroisch beschreiben. Ja, eine (scheinbar) unterlegene Position gegenüber einer übermächtig erscheinenden Herausforderung oder gegnerischen Partei befördert die Heroisierung.

Ein völlig anderer Typ Heros und zumindest teilweise vom alten Kriegshelden-Schlag ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij. Wofür steht er heute?

Er mag ein anderer Typ Heros sein – aber seine Heroisierung folgt denselben Mustern wie jede Heroisierung. Sicherlich wird nicht zuletzt durch Selenskij der Begriff „Held“ in Deutschland in einer neuen Ernsthaftigkeit diskutiert, nachdem die vermeintlich postheroische Gesellschaft meinte, dass sich Heroismus vor allem in Form von Baumarkt-, Liefer- oder Obstheld:innen manifestiere.

Wobei die medialen Darstellungen Selenskijs auf viele auch wieder abschreckend wirken mit ihrem Pathos, das oft genug in Kitsch abgleitet …

Damit sind wir bei einem weiteren Baustein aus dem Heldenbaukasten: „Medialisierung“. Ohne Medialisierung gibt es kein Publikum und funktioniert keine Heroisierung. Selenskij betreibt seine Medialisierung auf ganz verschiedenen Kanälen für ganz verschiedene Zielgruppen. Er braucht und baut auf eine breite Unterstützung innerhalb der eigenen Gesellschaft und in anderen Staaten. Aber klar: Nicht die Medialisierung, das Publikum entscheidet am Ende, wer heroisiert wird. Auch in der Ukraine. Es gibt viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich der „heroischen Mobilisierung“ durch den Staat entziehen bis hin zur Desertion.

Seit dem Afghanistan-Einsatz wurde das Leitbild der Staatsbürger in Uniform durch eine Vorstellung von Heldentum ergänzt, die sich auf die Bereitschaft bezieht, zu kämpfen und das eigene Leben einzusetzen für unsere demokratischen Werte und Ideale.
Seit dem Afghanistan-Einsatz wurde das Leitbild der Staatsbürger in Uniform durch eine Vorstellung von Heldentum ergänzt, die sich auf die Bereitschaft bezieht, zu kämpfen und das eigene Leben einzusetzen für unsere demokratischen Werte und Ideale. © dpa/Maurizio Gambarini

Wladimir Putin wird ebenfalls als Held verehrt. Ist er damit tatsächlich so erfolgreich oder wirkt es nach außen nur so?

Heroisierung funktioniert nach immer denselben Prinzipien, sie braucht Medialisierung und ein Publikum, sie erzählt von Handlungsmacht, Einsatz, Kampf und Grenzüberschreitung, sie braucht Polarisierung und polarisiert auch selbst. Das gilt für Putins Heroisierung wie für jede andere Heroisierung auch. Je mehr Menschen einer Heroisierung Glauben schenken, desto einflussreicher die heroisierte Person. Was für jede Heroisierung gilt, gilt auch hier: Ihre Prinzipien zu begreifen, kann dabei helfen, sie zu verstehen oder zu durchschauen. Putin fällt in die Kategorie der sogenannten politischen „Strongmen“, der „starken Männer“, deren Führungsstil gekennzeichnet ist durch Personalisierung und Polarisierung. Starke Männer polarisieren die Welt in Anhänger und Gegner, in Gut und Böse und stellen sich selbst mit großer Geste als führungsstark und unfehlbar dar. Der „starke Mann“ muss polarisieren, um – vielleicht nicht nur politisch – zu überleben.

Warum aber wird Putin auch in Deutschland als Held verehrt, gerade hier im Osten?

Einerseits ist das Bild selbstloser Bescheidenheit heute ein wichtiger Heldenmarker. Zugleich gibt es weiterhin das Gegenteil. Wie Donald Trump zelebriert auch Putin ausgiebig die persönliche Rücksichtslosigkeit, das bedingungslose Durchsetzungsvermögen, sich selbst als Verkörperung eines angeblichen Volkswillens gegenüber mächtigen Feinden – und wird dafür heroisiert. Das liegt an der großen Sehnsucht vieler Menschen nach starken Männern mit einfachen Lösungsversprechen, die für Ordnung sorgen, die Orientierung bieten. Mit demonstrativem Machtwillen und Durchsetzungsvermögen brechen sie politische Tabus und gesellschaftliche Konventionen. Bei der Heroisierung durch ein westliches Publikum geht es dann vielleicht weniger um politische Argumente, sondern um einen Protest gegenüber dem eigenen Politikbetrieb.

Unser Gesprächspartner Dr. Gorch Pieken ist Militärhistoriker. Er war Gründungsdirektor des Militärhistorischen Museums Dresden und arbeitet am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Seit April 2018 ist Pieken le
Unser Gesprächspartner Dr. Gorch Pieken ist Militärhistoriker. Er war Gründungsdirektor des Militärhistorischen Museums Dresden und arbeitet am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Seit April 2018 ist Pieken le © dpa-Zentralbild

Was ist aus den friedlichen Heldinnen und Helden geworden wie Mahatma Ghandi, Martin Luther King, Mutter Teresa und Nelson Mandela? Haben diese Helden ausgedient?

Das denke ich nicht. Aber die Halbwertszeit von Heldinnen und Helden ist relativ gering, weil sie sehr eng mit ihrer Zeit verbunden sind und anhaltende Heroisierung auf starke Emotionen baut, die nicht verflachen. Alexander der Große hat es geschafft auch nach 2.500 Jahren immer noch bekannt zu sein. Aber er wird heute nicht mehr auf den großen Schlachtenlenker und Welteneroberer reduziert, sondern wird geachtet als Entdecker und Förderer der Wissenschaften und des Wissenstransfers. Auch seine Homosexualität wird heute nicht mehr ausgeblendet. Was ihn außerdem modern macht, ist gerade, dass seine Heroisierung schon 2.500 Jahre anhält und sich jedes Zeitalter seinen eigenen Alexander zurechtlegte.

Obwohl er ein schwieriger und widersprüchlicher Charakter war?

Was im antiken Griechenland kein Hinderungsgrund für Heroisierung war. Schwächen und begangene Fehler und Fehltritte gehörten zum Helden dazu. Heute hingegen gibt es eine Tendenz, alte Helden nur dann nicht zu stürzen, wenn sie ein durchgehend tadelloses Leben gelebt haben, und zwar nach den moralischen Kriterien unserer Gegenwart.

Immerhin können heute auch Frauen wie Greta Thunberg Heldinnen-Status erlangen.

Richtig. Frauen waren jahrhundertelang quasi ausgeschlossen von den „Bewährungsfeldern des Heroischen“, die für Männer reserviert waren. Und wenn Frauen dann doch in diese vordrangen, dann wurden sie für die Überwindung der „Geschlechtergrenze“ heroisiert, als „erste Frau“. Wenn eine Person „als Erste“ einer marginalisierten Gruppe für etwas heroisiert wird, das jemand anders schon vorher erreicht hat, zeigt dies vor allem eines: Eine gesellschaftlich anerkannte Gleichheit oder gar Gleichwertigkeit ist noch nicht erreicht.