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Branche mit Schmerzen: Physiotherapeuten beklagen Bürokratie

Von der DDR blieb im vereinten Deutschland wenig übrig. Ein Relikt betrifft die Berufsbezeichnung Physiotherapeut. Nachdem nunmehr gleiche Bezahlung in Ost und West gilt, wächst Frust über Bürokratie.

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Krankengymnastik für den Schulterbereich wird in einer Physiotherapie durchgeführt.
Krankengymnastik für den Schulterbereich wird in einer Physiotherapie durchgeführt. © Robert Michael/dpa

Dresden. Physiotherapeuten brauchen heutzutage nicht nur kräftige Hände, sondern auch Adleraugen. Denn wer einen winzigen Fehler auf einer ärztlichen Verordnung übersieht, kann das später nicht bei der Kasse geltend machen und bleibt auf dem Trockenen sitzen. "Wir müssen extrem aufpassen, dass die Rezepte stimmen. Als Leistungserbringer haben wir eine Prüfpflicht. Das ist ein hoher Aufwand", heißt es im VDB-Physiotherapieverband, Landesverband Ost. Die Kolleginnen und Kollegen würden sich meist nach Feierabend oder am Wochenende mit der Abrechnung hinsetzen, damit ihnen Fehler im Tagesgeschäft nicht unterlaufen.

Das kann verheerend sein. Der Verband berichtet von Fällen, in denen die sogenannten Absetzungen der Krankenkassen - Abzüge von der ursprünglichen Rechnung - bei 100 Prozent liegen. Manche Kollegen würden schon von vornherein davon ausgehen, dass sie nicht alles zurückbekommen und die Absetzungen einpreisen, heißt es. Bei der Krankengymnastik für Neurologie-Patienten könne man bei 20 Behandlungen mit Hausbesuch schon mal auf eine Rezept-Summe von mehr als 1.000 Euro kommen. "Wenn da ein Arzt auf dem Rezept einen Fehler gemacht hat und wir übersehen das, laufen wir Gefahr, leer auszugehen", sagt ein Verbandsmitglied, das nicht namentlich genannt werden möchte.

Das Grundproblem: Physiotherapeuten gehen mit ihren Leistungen in Vorkasse. Die Kassen wiederum sitzen damit am längeren Hebel und können nach möglichen "Schlupflöchern" in der Abrechnung suchen, um am Ende nicht alles erstatten zu müssen. "Die Absetzungen kommen regelmäßig vor, sind Alltag", sagt Janine Gasch, Leiterin der VDB-Geschäftsstelle in Chemnitz. Um alles haarklein zu sichten, müssten Praxen Personal einstellen. "Das entlastet zwar den Therapeuten, muss aber erst einmal erwirtschaftet werden." Die meisten Kollegen könnten sich solch einen Aufwand gar nicht leisten. Manche würden wegen des Risikos manche Leistungen gar nicht mehr anbieten, etwa Hausbesuche.

Die Zwickmühle mit den Kassen und überbordende Bürokratie sind laut VDB nicht die einzigen Probleme der Branche. Als Wirtschaftsverband der Selbstständigen ist der Physiotherapieverband Landesverband Ost für etwa 330 Mitglieder in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zuständig. Für den Berufsstand gibt es mehrere Verbände in Deutschland, in manchen Fragen sind sie aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen uneins. Der VDB hält es etwa für richtig, Behandlungsmethoden wie manuelle Therapie und Lymphdrainage gleich in die dreijährige Ausbildung zu integrieren. Bisher müssen sie per Zertifikat im Anschluss erworben werden. Das kostet Zeit und Geld.

Doch Zertifikate und die damit verbundene Weiterbildung gehören zum Geschäftsmodell einzelner Verbände. VDB-Chef Bert Krüger schätzt zudem ein, dass der Bereich Pflege in Deutschland eine viel bessere Lobby hat. Medizinische Dienstleister wie Ergotherapeuten, Logopäden und Physiotherapeuten seien immer das fünfte Rad am Wagen. Es könne nicht sein, dass ein Physiotherapeut nach der langen Ausbildung bestimmte Behandlungen erst nach einer Zusatzqualifikation machen darf. Das sei nur in bestimmten Feldern etwa der Neurologie sicherheitshalber notwendig, nicht aber bei manueller Therapie, Lymphdrainage oder Krankengymnastik am Gerät.

Krüger schlägt vor, die Ausbildung nicht mehr auf einzelne Fächer wie Orthopädie, Chirurgie und Neurologie auszurichten, sondern mehr von der "Lernfeldern" her zu denken - etwa welche Behandlungsmethoden es für die jeweiligen Gelenke wie Knie, Hüfte oder Schulter gibt. "Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ist etwa 30 Jahre alt. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Die Ausbildung muss sich nicht verlängern, wir brauchen aber ein klügeres System."

Die Physiotherapeuten im Osten sind zumindest froh, dass sie nach gut 30 Jahren endlich die gleiche Vergütung bekommen wie die Kollegen im Westen. Zwar gab es auch zwischen Hamburg und München Unterschiede, aber die ostdeutschen Berufskollegen hinkten im Schnitt mit 20 Prozent weniger Entlohnung hinterher - bei gleichen Leistungen und gleichen Fortbildungskosten. Erst der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe Gleichstand hergestellt, ist man noch heute beim VDB-Verband dankbar.

Dennoch wünscht man sich hierzulande eine angemessene Anerkennung und nicht immer wieder harte Verhandlungsrunden inklusive Schiedsverfahren mit den Krankenkassen. Die Kassen würden zwar immer wieder betonen, wie wichtig Physiotherapeuten seien, weil sie beispielsweise auch den Rückenschmerz akut behandeln, sagt Krüger: "In der Corona-Pandemie gehörten wir zur kritischen Infrastruktur. Tatsächlich entlasten wir die Krankenkassen, weil wir Vorsorge und Nachsorge betreiben. Die Kassen sind dankbar, dass es uns gibt. Aber das zahlt sich für uns nicht in barer Münze aus."

Auch in einem anderen Punkt besteht der VDB auf seiner Position: Eine Pflicht zum Studium für Physiotherapeuten soll es nicht geben. "Jeder Physiotherapeut, der das möchte, soll studieren. Ein vollakademisierter Beruf darf es aber nicht werden. Denn dann würden wir die Absolventen der 10. Klasse abschrecken." Mit einem Bachelor oder Master in der Tasche werde vermutlich kein Physiotherapeut mehr die klassische Arbeit an der Behandlungsliege machen wollen", sagt Krüger. Außerdem würde man so auch vielen blinden Menschen eine solche Berufslaufbahn verwehren oder zumindest erschweren. (dpa)