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In dieser Schule kann jeder Schüler Gebärdensprache lernen

In Leipzig wird an einer freien Regelschule Gebärdensprache als Fach angeboten – als einzige in Sachsen. Alles begann mit einem Jugendlichen aus Burundi.

Von Sven Heitkamp
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Der gehörlose Schüler Fannery lernt in der „Aktiven Schule Leipzig“ und wird unterrichtet vom gehörlosen Lehrer Günter Przybylski.
Der gehörlose Schüler Fannery lernt in der „Aktiven Schule Leipzig“ und wird unterrichtet vom gehörlosen Lehrer Günter Przybylski. © Anja Jungnickel

Im ersten Stock einer kleinen, unsanierten Villa in Leipzig-Gohlis sitzen zehn Schülerinnen und Schüler im Halbkreis und lernen eine Sprache mit ihren Händen: die Deutsche Gebärdensprache. Vor ihnen steht Günter Przybylski, ihre Lehrkraft, und macht große Gesten und lustige Gesichter. Gerade erklärt er die Monate, seine Hände gleiten wie Schlittschuhe hin und her für den Januar, und sie beschreiben eine Sonne für den Juli.

Die Kinder machen eifrig mit und kichern, nur Günter Przybylski spricht nicht. Er ist von Geburt an taub. In einer Ecke im Klassenzimmer sitzt Kristin Lehmann, seine Gebärdensprachdolmetscherin, sie übersetzt alle Gesten und Gebärden sowie die gesprochene Sprache der Kinder im Unterricht simultan. Doch sie hält sich betont zurück: „Ich bin nur seine Krücke.“ Die Aktive Schule Leipzig ist eine kleine, staatlich genehmigte Schule in freier Trägerschaft – und ihr Oberschul-Zweig sachsenweit der einzige, der die Deutsche Gebärdensprache als Fach anbietet.

Die Teilnahme ist freiwillig, doch es kommen jede Woche einige Kinder zum Unterricht. Sie sind damit bundesweit ein Vorbild: Erst im Oktober vorigen Jahres hat die Kultusministerkonferenz erstmals Empfehlungen zur Einführung des Unterrichtsfaches Deutsche Gebärdensprache (DGS) ausgesprochen. Demnach kann die DGS jetzt offiziell als Fremdsprache im Wahlfach an Schulen angeboten werden. „Die Empfehlungen sind ein großer Schritt zur Gleichstellung der Gebärdensprache mit anderen Sprachen“, betonte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD).

"Sonst bin ich vom Leben ausgeschlossen"

An der Aktiven Schule gehören Gebärden schon seit drei Jahren zum Schulalltag. Und das liegt an Fannery. Der inzwischen 18-jährige Junge ist ebenfalls gehörlos, er stammt aus Burundi und wurde von Leipziger Eltern adoptiert. Er bekam auch ein Cochlea-Implantat hinter den Ohren. Es sollte ihm helfen, Sprache und Geräusche dank elektrischer Impulse zu hören. Doch es nutzt ihm kaum. An einer Gehörlosenschule, auf die er zuerst ging, konnte er sich nicht verständigen, weil dort keine Gebärdensprache genutzt wird. So wurde er ziemlich unglücklich. „Ich brauche jemanden, der gebärden kann“, sagt er. „Sonst bin ich vom Leben ausgeschlossen.“

Also suchte seine Adoptivfamilie einen Ausweg – und fand die Aktive Schule Leipzig. Das Team erklärte sich 2019 bereit, Fannery mit seinem Schulassistenten aufzunehmen. Mit ihm kam auch Günter Przybylski als Förderlehrer und Lernbegleiter für alle Kinder an die Schule.

Die Teilnahme am Fach Gebärdensprache ist freiwillig.
Die Teilnahme am Fach Gebärdensprache ist freiwillig. © Anja Jungnickel

Der Diplom-Sozialarbeiter arbeitet seit vielen Jahren in der Begleitung und Beratung von Familien mit Gehörlosen, nun bekam er eine neue Aufgabe als Förderlehrer. Er kennt Fannerys Nöte und Alltagsprobleme, er hilft ihm, sich im Schulalltag und in der sozialen Gruppe zurechtzufinden und gut zu lernen. „Wer einen Gehörlosen rufen will, kann das Licht ein- und ausschalten“, erzählt Przybylski. „Und wer mit ihm kommunizieren will, muss ihn direkt von vorne ansprechen. Solche Alltagsdinge muss man lernen.“ Doch Fannery braucht ihn im Schulalltag nicht immer, er beschäftigt sich auch gut allein oder mit anderen.

So entstand schnell die Idee, den Sozialarbeiter nicht nur für Fannery einzusetzen, sondern auch für andere Projekte – und die Gebärdensprache als Fach anzubieten. Die Schülerinnen und Schüler sind seither mit Herzblut dabei. Wer sie fragt im Unterricht, bekommt von allen ähnliche Antworten: Dass sie mit Günter und Fannery reden wollen, erzählen sie. Und dass sie gern anderen Gehörlosen helfen möchten, falls sie ihnen im Alltag begegnen. Günter Przybylski liebt diese Momente. „Es ist der schönste Arbeitsplatz, den ich je hatte.“ Nur der Austausch mit anderen Kollegen in ähnlichen Situationen fehle ihm, weil es kaum vergleichbare Konstellationen gibt.

"Wir sind wie eine kulturelle Sprachminderheit"

Tatsächlich ist das gemischte Doppel eine große Ausnahme in Sachsen. Dem Kultusministerium sind derzeit nur vier Schülerinnen und Schüler bekannt, die an einer Regelschule inklusiv unterrichtet werden und dabei auch die Deutsche Gebärdensprache nutzen. Daher werde zurzeit an keiner sächsischen Regelschule ein Kurs zum Erlernen der Gebärdensprache angeboten, sagt Ministeriumssprecher Dirk Reelfs.

In aller Regel würden hochgradig hörgeschädigte Schüler durch eine frühe Versorgung mit Hörtechnik und Cochlea-Implantaten die Lautsprache verwenden und an Regelschulen inklusiv unterrichtet. „Diese Schülerinnen und Schüler nutzen auch keinen Dolmetscher und verwenden die Deutsche Gebärdensprache weder in der Familie noch in der Schule“, sagt Reelfs.

Günter Przybylski erlebt den Alltag anders. In Deutschland, sagt er, mangele es massiv an Gebärdensprachdolmetschern. „In Finnland gibt es für sieben Gehörlose einen Dolmetscher – in Deutschland für 100.“ Doch wer keinen Dolmetscher mitbringe, sei meist aufgeschmissen. „Wir sind nicht behindert. Wir sind wie eine kulturelle Sprachminderheit.“ Daher findet Przybylski es wichtig, die Gebärdensprache an vielen Schulen anzubieten und das Interesse dafür zu wecken: „Ich würde mir wünschen, dass Sachsen die Einführung als Wahlpflichtfach breiter umsetzt.“

Fannery ist seit 2019 in der "Aktiven Schule Leipzig".
Fannery ist seit 2019 in der "Aktiven Schule Leipzig". © Anja Jungnickel

Sanja Liebermann sieht das ähnlich. Sie hat die Aktive Schule 2018 mitbegründet und leitet sie seither. Zu ihrem Selbstverständnis gehöre es, junge Menschen bei der Entfaltung ihrer Potenziale zu begleiten und dabei miteinander und voneinander zu lernen. „Fannery hat ein Recht auf eine gute Schulbildung nach seinen Möglichkeiten“, betont die Schulleiterin. „Er sollte nicht den Rest seines Lebens stupide Arbeiten in einer Werkstatt erledigen müssen – das ist unser Ziel und Anspruch.“

“Das hilft nicht nur dem Jungen. Inzwischen haben Kinder den Beruf des Gebärdendolmetschers für sich entdeckt. Unter ihnen ein Schüler, der Erzieher werden und dabei auch gebärden möchte. „Fannery und Günter“, sagt Sanja Liebermann, „sind eine echte Erweiterung und Bereicherung für unser Schulleben.“