Dresden. Dresden hat ein neues Fotomotiv. Tausende Handykameras sind an diesem Samstagnachmittag auf die eingestürzte Carolabrücke gerichtet. Hunderte stehen dicht an dicht auf der Augustusbrücke und auch am Geländer der Brühlschen Terrasse drängeln sich die Dresdner um den besten Ausblick. Zwei Wörter sind immer wieder zu hören, während Smartphones gezückt werden und Finger auf die Brückenreste zeigen.
"Unfassbar" ist das eine Wort. Unfassbar, dass eine Brücke in Deutschland einfach so einstürzen kann. Und "Wunder". Ein Wunder, dass es nachts passierte und niemand verletzt wurde. Nur neun Minuten vor dem Einsturz fuhr eine Straßenbahn über die Carolabrücke.
"Das zeigt, wie das Leben plötzlich ganz anders ausgehen kann"
Sabine Griesbach bekommt beim Gedanken daran Gänsehaut. Nicht ohne Grund. "Meine Tochter saß in der vorletzten Bahn, die in dieser Nacht über die Carolabrücke gefahren ist", sagt sie. Die 19-jährige Tochter war bei einer Geburtstagsfeier, um 2.45 Uhr sei ihre Straßenbahn an der Haltestelle Synagoge gewesen. Es ist die letzte Haltestelle vor der Brücke. 2:59 Uhr brach der Teil der Carolabrücke, über den die Straßenbahnen fuhren, zusammen. "Das zeigt, wie das Leben plötzlich ganz anders ausgehen kann", sagt Mutter Sabine.
Es gibt sicher viele Sorgen, die sich Mütter machen können, wenn ihre Kinder spät in der Nacht durch die Stadt fahren. Dass eine Brücke auf dem Weg einfach so kollabiert, gehörte bisher eher nicht dazu.
Neue Worte im Dresdner Sprachgebrauch: Brückensubstanz und Investitionsstau
Dass die Dresdner nun eine generelle Angst vor Brücken entwickelt haben, lässt sich aber nicht feststellen. Immerhin stehen sie zu hunderten in kleinen Gruppen auf der Augustusbrücke und diskutieren dann dort über die Baufälligkeit von Brücken in Deutschland. Es fallen Worte, die neu sind im allgemeinen Sprachgebrauch. Worte, wie Brückensubstanz.
Matthias Leske, der mit seiner Tochter auf dem Arm auf der Augustusbrücke steht, sagt es so: "Es gibt so einen Restaurationsstau bei den Brücken in Deutschland, ich denke, jetzt werden viele Leute aufwachen." Auch in Dresden müssten viele Brücken dringend saniert werden. Die Augustusbrücke, sagt der Elektroingenieur, sei ja aber schon dran gewesen.
Die maroden Brücken beschäftigen auch Oliver Heinemann. Er steht einige Meter von Matthias Leske entfernt auf der Augustusbrücke. "Es hat ja viele Berichte über den schlechten Zustand der Brücken in Deutschland gegeben." Aber dass in Dresden einfach so eine Brücke zusammenbrechen konnte, das kann er nicht fassen.
"Stell dir mal vor, das wäre bei der Kaisermania passiert"
Mit seiner Familie und einem Freund diskutiert er, was alles hätte passieren können. "Stellt euch mal vor, die Brücke wäre während der Kaisermania eingestürzt." Bei vielen Konzerten der Filmnächte lauschten die Fans auch auf der Carolabrücke der Musik.
Viele Dresdner bereden an diesem Samstag auch, wann sie das letzte Mal auf der Carolabrücke waren. Oliver Heinemann radelte täglich auf dem Weg zur Arbeit darüber, nun hat er einen neuen Arbeitsweg. "Mit dem Fahrrad sind es über die Waldschlößchenbrücke nur zehn Minuten mehr, das ist okay", sagt er. Seine Schwiegermutter sei mit dem Auto unterwegs und brauche nun teilweise eine Stunde länger. Ein anderer Mann auf der Brücke stöhnt über das "jahrelange Verkehrschaos", das vor Dresden liege.
Auch Esra Sözmen schaut mit ihrer Mutter von der Augustusbrücke aus auf die Carolabrücke, die sie ihr noch vor wenigen Tagen bei einem Stadtrundgang zeigte. Ihre Mutter ist aus Istanbul zu Besuch, Esra schon seit fünf Jahren in Dresden. "Am Dienstag sind wir über die Brücke gelaufen, haben Fotos gemacht, die Altstadt in Dresden ist so schön", erzählt Esras Mutter auf Türkisch, die Tochter übersetzt. Als sie dann am nächsten Tag von dem Einsturz erfahren, können sie es nicht glauben.
In Istanbul seien die Brücken auch nachts noch viel befahren, was bei einem Einsturz da passiert wäre, will sich Esra lieber nicht vorstellen.
Brückeneinsturz und Hochwasser: "Da passt ja wieder alles zusammen"
Am Elbufer auf der Neustädter Seite wird mit Hochdruck daran gearbeitet, die Brückenreste zu entfernen. Sie sollen weg, bevor der steigende Pegel der Elbe sie erreicht. Dominik schaut sich das mit seinen vier Kindern aus der Nähe an. "Wir sind diese Brückentouristen", scherzt der Lausitzer. Die Familie will zwar auch Besorgungen in Dresden machen, aber ein Blick auf die Brückenreste gehört dazu. "Irgendeine Behörde muss doch da geschlafen haben", sagt Dominik, während seine Söhne die Bagger beobachten.
Das Hochwasser rückt näher, Feuerwehr und Arbeiter haben beim Wegräumen der Brückenteile Zeitdruck. "Brückeneinsturz und Hochwasser, da passt ja wieder alles zusammen", sagt Dominik. Die Brückenteile sollen vor dem Hochwasser entfernt werden, damit nichts von der Strömung mitgerissen werden kann und dabei noch die Augustusbrücke beschädigt.
Um deren Standhaftigkeit macht sich Matthias Leske keine Sorgen. Und selbst wenn: "Wir stehen hier ja auf einem Brückenpfosten, da sollten wir sicher sein", sagt er und lacht. Auch die Brückenpfosten der Carolabrücke stehen ja noch. Allerdings etwas schief.