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Brückenkollaps in Dresden: "Wir wollen keine Staumauer in der Elbe"

Nachdem ein Teil der Carolabrücke in die Elbe gestürzt ist, könnte nun ein Hochwasser gefährlich werden. Experte Steffen Marx erklärt im Interview, wie es zum Einsturz kommen konnte und was nun die ersten Schritte sind.

Von Luisa Zenker
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Brückenexperte Steffen Marx sitzt im Krisenstab der Stadt Dresden. Er untersucht die Ursachen des Einsturzes und entscheidet mit über die nächsten Maßnahmen.
Brückenexperte Steffen Marx sitzt im Krisenstab der Stadt Dresden. Er untersucht die Ursachen des Einsturzes und entscheidet mit über die nächsten Maßnahmen. © Jürgen Lösel/Veit Hengst

Nachdem am Mittwoch die Carolabrücke in Dresden zusammengebrochen ist, warnt Brückenexperte Steffen Marx vor dem Hochwasser. Über Tschechien werden ab Freitag starke Regenfälle vorhergesagt. Wie viel Wasser im Elbeeinzugsgebiet niedergehen wird, ist aktuell noch unsicher. Der Dresdner Professor für Massivbau sucht derweil die Ursachen für den Brückenkollaps und entscheidet als Mitglied im Krisenstab über die nächsten Maßnahmen.

Herr Marx, was ist das Besondere an der Carolabrücke?

Es ist eine der ersten und die größte Spannbetonbrücke der DDR. Sie ist gebaut worden von 1968 bis 1971. Das ist eine sehr fortschrittliche Konstruktion gewesen, im Westen wie im Osten. Die Ingenieure haben sich getraut, was auszuprobieren. Und da gab es einfach Defizite.

Welche Defizite sind das?

Das Besondere an Spannbetonbrücken ist: Der Beton wird unter Druck gesetzt. In dieser frühen Anfangszeit dachte man deshalb, sie brauchen keine Abdichtung gegen Wasser, weil sich keine Risse bilden. Das hat sich als Trugschluss erwiesen. Nach Errichtung dieser Bauwerke stellte man fest: Die Brücken bekommen Risse. Und in diese Risse tritt dann Wasser ein, nicht einfach nur Regenwasser, sondern die Straßen werden im Winter immer mit Salz behandelt. Und dieses belastete Wasser kann schnell zu Rost führen. Die Brücken wurden im Nachhinein abgedichtet. Aber der Schaden der Vergangenheit bleibt.

Es gibt ja viele Spekulationen zu den Gründen des Kollapses.

Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit eine Kombination mehrerer Ursachen. Das eine ist diese chloridinduzierte Korrosion. Das heißt, der Stahl ist durch den Beton drumherum geschützt. Durch das eindringende Chlorid, etwa Straßensalz, wird dieser Schutz aufgehoben. Das ist gefährlich, denn die Korrosion greift nicht flächig, sondern tief und punktuell an. Das Zweite ist die sogenannte Spannungsrisskorrosion. Der damals verbaute Spannstahl bekommt schnell Risse, durch die Materialempfindlichkeit und durch eine hohe Zugspannung. Beide Korrosionsarten hat man dort festgestellt. Das ist aber kein Grund, so eine Brücke gleich abzureißen.

Gibt es weitere Ursachen?

Diese Brücke hatte eine sogenannte direkte Schienenbefestigung, die wurde in den 70ern direkt mit eingebaut. Das heißt, die Straßenbahnschienen sind über kleine Betonsockel direkt auf dem Brückendeck gelagert. Da ist die Erschütterungsbeanspruchung viel höher, das ist bei allen anderen Elbbrücken in Dresden nicht so. Das könnte eine weitere Ursache sein.

Steffen Marx, Professor am Institut für Massivbau an der TU Dresden ist Teil des Krisenstabs zur Carolabrück.
Steffen Marx, Professor am Institut für Massivbau an der TU Dresden ist Teil des Krisenstabs zur Carolabrück. © Dirk Hein

Es wird noch über einen weiteren Grund diskutiert: hohe Temperaturschwankungen.

Wir hatten diese heißen zwei Wochen davor und jetzt den Temperatursturz. So was verursacht in einer Brücke einen sogenannten Spannungszustand. Das ist, wie wenn Sie einen Eiswürfel in ein Glas mit warmem Wasser schmeißen, dann hören Sie es knacken. Für diese Zustände ist die Brücke aber bemessen. Wenn sie in Ordnung ist, dann trägt sie das locker. Dieser Temperatursturz kann den Einsturz mit initiiert haben, aber er ist nicht die Ursache für den Einsturz.

Es ist seltsam, dass die Brücke genau dann eingestürzt ist, als niemand drauf war.

Wir vermuten, dass ein schweres Fahrzeug, das über den anderen Brückenabschnitt gefahren ist, den Einsturz ausgelöst haben könnte. Das war nicht die Ursache für den Einsturz, aber es könnte das Initial gewesen sein.

So ein Brückenkollaps ist seit Jahrzehnten in Deutschland nicht vorgekommen.

In Italien passiert das einmal im Jahr. Das liegt an Instandhaltungsmängeln, insbesondere an den immer wieder verschobenen Maßnahmen aus Geldmangel. Wenn wir in Deutschland nicht aufpassen, kommen wir dorthin. Das merkt man, weil in den letzten Jahren Bauwerke unplanmäßig aus dem Verkehr genommen werden mussten. Zum Beispiel die Rheinbrücke Leverkusen.

Beim „Brücken-TÜV“ war seit 2021 bekannt, dass die Carolabrücke die Note 3,4 „nicht ausreichend“ hat. Wo sehen Sie denn die Verantwortung?

Es gibt eine sogenannte Betreiberverantwortung. Die hat die Stadt Dresden. Sie hat aus heutigem Blickwinkel aber alles richtig gemacht. Nur zu spät. Da ist die Stadt in bester Gesellschaft mit fast allen Infrastrukturbetreibern in Deutschland. Wir reagieren viel zu spät auf die Mängel, die wir kennen.

Wann hätte denn die Brücke saniert werden müssen?

Vor 15, 20 Jahren.

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie die Verantwortung nicht in den aktuellen politischen Ämtern sehen?

Die Stadt kann sich nicht einfach herausziehen, denn sie trägt diese Methodik weiter. Aber man kann nicht die Leute, die heute die Verantwortung haben, jetzt vors Loch schieben und sagen: Ihr seid schuld. Sondern das ist ein „gesellschaftlicher Konsens“, den wir Ingenieure seit Langem beobachten und kritisieren: Wir investieren zu wenig in die Erhaltung, etwa in die Erneuerung der Abdichtung. Ja, das sind ganz langweilige Sachen. Damit kann man politisch keinen Blumentopf gewinnen.

Wie schätzen Sie den Zustand der Brücke jetzt ein?

Komplett einsturzgefährdet.

Und was heißt das für das weitere Vorgehen?

Wir sichern jetzt den betroffenen Brückenzug. Wir müssen verhindern, dass weitere Teile, in die Elbe fallen. Auf der Neustädter Seite ist ein Feld besonders gefährdet. Wir müssen schnell handeln, damit wir keine Staumauer in der Elbe liegen haben. Auf der Synagogenseite liegt die Brücke gerade noch so auf dem letzten Stützteil.

Wieso sind auch die anderen Brückenabschnitte einsturzgefährdet?

Auch die Nachbarbrückenabschnitte müssen wir als einsturzgefährdet betrachten, weil die Brücken quer miteinander verbunden waren. Und diese Verbindung ist abgerissen beim Einsturz.

Und was sind jetzt die nächsten Schritte?

Es gibt mehrere Schritte, die gleichzeitig passieren. Erstens: Schadensdokumentation. Wir müssen schnell den Tatort inspizieren, um die frischen Bruchstellen zu sehen, bevor es regnet und die Spuren nicht lesbar sind. Deswegen haben wir am Mittwoch Fotos auf der Brücke gemacht. Wir müssen Erkenntnisse aus dem Einsturz ziehen, weil es eine Spannbetonbrücke aus den 60ern ist. Diese Brückenart haben wir in Deutschland 4000 Mal. Das wird uns noch viele Wochen in Anspruch nehmen. Wir werden Brückenteile bergen und im Labor auseinandernehmen. Das Zweite: Wir müssen die Behelfsunterstützung unter die Brücke bringen.

Und wie lange dauert das?

Das muss bis Anfang nächster Woche passieren, wegen des Hochwassers. Wir müssen diese Konstruktion seitlich aufbauen und darunter schieben, denn wir können momentan keine Arbeiter unter die Brücke lassen. Das ist zu gefährlich. Danach werden wir versuchen, die Schienen, und die Oberleitung wegzubringen, damit sich im Hochwasserfall keine Bäume verfangen. In den Schienen kann ein Meganewton Kraft drin sein. Und das ist, als ob Sie 100 VW Golf gleichzeitig gegen die Brücke fahren, wenn sie die Schiene abschneiden. Das kann den Totalkollaps verursachen. Anschließend werden wir versuchen, das Beton aus der Elbe zu kriegen. Das kann man nicht an den Kran hängen. Das muss vor Ort zerlegt werden. Und dauert bestimmt zwei Monate. Insbesondere, wenn wir mehr Wasser in der Elbe haben.

Keine Sprengung?

Wenn wir das sprengen würden, dann würden wir die benachbarten Brückenabschnitte der Carolabrücke massiv gefährden.

Und wann könnte wieder eine Brücke stehen?

Die Frage ist doch: Können die beiden Straßenbrückenabschnitte wieder befahren werden? Sie haben auch die Chlorid-Belastung abbekommen, wir kennen die Ursache für den Einsturz noch nicht. Entweder reden wir über ein halbes Jahr, in dem die Brücke nicht benutzt werden darf, oder wir müssen die sanierten Brückenabschnitte abreißen und neu bauen, dann reden wir über mehr als fünf Jahre, bis der Neubau da ist.

Es gibt Forderungen, die Augustusbrücke für den Autoverkehr zu öffnen.

Ich persönlich finde das falsch, nicht aus Ingenieursicht, sondern mit Blick in die Zukunft. Was wollen wir für eine Mobilität? Ich möchte keine Individualmobilität unmittelbar im Stadtzentrum haben. Das ist kein lebenswerter Stadtraum. Die Augustusbrücke wird jetzt bereits deutlich stärker belastet durch die Straßenbahnen. Aber klar ist auch: Wir sind jetzt in einer anderen Welt aufgewacht und wir müssen alle Aspekte der Mobilität, insbesondere die wirtschaftlichen Faktoren, einbeziehen.

Transparenzhinweis: In einer früheren Version des Interviews hieß es, dass die neuen Straßenbahnen schwerer sind. Dies ist nicht korrekt. Sie wiegen laut Angaben der DVB deutlich weniger. Wir haben den Text entsprechend angepasst.