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Dieser Arzt in Sachsen praktiziert auch mit 84 Jahren noch

Der Rheumaspezialist Hans-Egbert Schröder aus Dresden ist mit 84 Jahren einer der ältesten noch praktizierenden Ärzte in Sachsen. Sein Rezept: Arbeit und Balance.

Von Karin Großmann
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Professor Hans-Egbert Schröder am Ultraschallgerät in seinem Sprechzimmer. Zweimal die Woche fährt er nach Chemnitz in die Zeisigwaldkliniken Bethanien.
Professor Hans-Egbert Schröder am Ultraschallgerät in seinem Sprechzimmer. Zweimal die Woche fährt er nach Chemnitz in die Zeisigwaldkliniken Bethanien. © Ronald Bonß

Und Sie sind dann noch da? Die Frage kommt schon mal, wenn Hans-Egbert Schröder einen Patienten wiederbestellt. Und ja, er ist dann noch da. Wo sonst?

Jede Woche fährt er zweimal von Dresden nach Chemnitz. Das Auto, sagt er, muss er nicht steuern. Das kennt den Weg, den Blitzer an der Kreuzung und die Baustellen. Die Kulturhauptstadt gräbt sich gerade um. Ein schmaler Weg führt vom Parkplatz zu einem Klinkerbau. Die Rheuma-Ambulanz liegt im Erdgeschoss rechts. Sie gehört zu den Zeisigwaldkliniken Bethanien. In Zimmer 8 steht der Schreibtisch von Schröder. Es riecht nach einem Zusatz im Wischwasser, chemisch und sauber. Eine Schwester bringt einen frischen weißen Mantel. Das Namensschild auf der Herzseite ist verblasst vom vielen Waschen in vielen Jahren.

2005 hätte Professor Hans-Egbert Schröder in Rente gehen können. Wie manche Soldaten bei der Armee hatte er jeden Tag ein Stück vom Bandmaß geschnitten. Nach dem letzten Schnipsel gab es festliche Reden, Blumen, Schulterklopfen und gute Wünsche am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden.

Vielleicht gab es ein oder zwei freie Tage. Bestimmt nicht mehr. Dabei hätte er Hobbys genug, Kinder und Enkelkinder, einen pflegebedürftigen Garten, eine umfangreiche Kunstsammlung. Er könnte endlich seine Memoiren schreiben. Könnte zum Beispiel erzählen, wie das war, als das ostdeutsche Gesundheitswesen umgekrempelt wurde auf westdeutsch. Hans-Egbert Schröder erlebte es hautnah.

Er war der erste Ärztliche Direktor der Dresdner Uniklinik nach der Wende. Jetzt ist er 84. Es dürfte nicht viele Mediziner in Sachsen geben, die in diesem Alter noch praktizieren. Wie bleibt man so lange fit und munter? Wie bitte heißt das Rezept?

Schröder ist fest angestellt mit 60 Stunden im Monat. „Ich bekomme sogar bezahlten Urlaub, ist das nicht wunderbar?“ Er hat das, was man eine sonore Stimme nennt.

Warum macht Schröder das?

Ist das die Geschichte eines Halbgotts in Weiß, der nicht loslassen kann? Fürchtet er den Bedeutungsverlust? Braucht er Bestätigung, Geld oder das Gefühl, gebraucht zu werden? Bei einem Vortrag in der Dresdner Galerie K zitierte Schröder kürzlich die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé: „Ich habe eigentlich immer gearbeitet – warum nur?“ Ja, warum, Herr Professor? „Weil es mir Spaß macht.“ Und: „Ich musste von klein auf stets was zu tun haben.“

Aber das mit dem Gebrauchtwerden stimmt durchaus. Die Chemnitzer Ambulanz nimmt neue Patienten nur noch im Notfall auf. Anderswo sieht es nicht besser aus. Rheumatologen fehlen. Sie haben keine Lobby. Sie werden schlechter bezahlt als andere Fachärzte. Das lockt den Nachwuchs nicht. „Wir hätten eine Kanzlerin mit Rheuma gebraucht“, sagt Schröder.

Sein Fach klingt nach Stützstrumpf und verzwickten Befunden. „Es ist breit gefächert.“ So heißt das. Die Patienten kommen mit Gelenk- und Muskelschmerzen, mit Gefäß- und Autoimmunerkrankungen, mit Borreliose, Osteoporose, Schuppenflechte und wer weiß was noch. Da braucht ein Mediziner spezielles Wissen. Hans-Egbert Schröder versorgt etwa 800 Patientinnen und Patienten jährlich.

„Das wird wieder“, sagt er zu einer älteren Frau mit zwei Gehhilfen, „da bin ich ganz sicher.“ Das Medikament, das er verschreibt, sei ein Mercedes mit E-Antrieb. Also das Feinste vom Feinsten. Sie nickt. Lächelt. Auch ein Lächeln kann ein Grund sein zum Weitermachen.

Jeden Patienten holt der Arzt selbst aus dem Wartezimmer. Das mag für ihn eine Sache der Höflichkeit sein. Beim Vortrag über Lou Andreas-Salomé an einem heißen Sonnabend fragte er das Publikum, ob er sein Jackett ablegen dürfe. Er durfte. In der Ambulanz entlastet er die Schwestern, wenn er die Patienten abholt, die Befunde sortiert, Termine vergibt, Rezepte ausdruckt oder Laborscheine. Ganz nebenbei bleibt er in Bewegung.

Auf die Frage nach dem Geheimnis seiner Durchhaltekraft nennt er zuerst „die guten Gene“. Alle in der Familie seien alt geworden. Dann kommt schon: Bewegung. Seit 20 Jahren geht er ein- bis zweimal die Woche mit Stöcken am Dresdner Stadtrand entlang, acht bis zehn Kilometer. Nordic-Walking hat er in einem Kurs gelernt. Was man tut, tut man richtig. Und sei es als Hilfselektriker, Anstreicher, Brauer oder Hilfspfleger.

Als junger Arzt saß Schröder seinem Onkel Modell, dem namhaften Dresdner Maler und Grafiker Erich Gerlach. Der Maler Jürgen Wenzel, für seine Schlachthofszenen berühmt, porträtierte den Mediziner 2010.
Als junger Arzt saß Schröder seinem Onkel Modell, dem namhaften Dresdner Maler und Grafiker Erich Gerlach. Der Maler Jürgen Wenzel, für seine Schlachthofszenen berühmt, porträtierte den Mediziner 2010. © privat

Eine Biografie, die so beginnt, kann nur besser werden. Hans-Egbert Schröder musste drei Jahre warten, bis er zugelassen wurde zum Studium der Medizin. Er hatte den Armeedienst verweigert. Den Klassenfeind hat er schriftlich. Der Zulassungsbescheid kam dann zwei Wochen nach dem Mauerbau 1961. Viele Ärzte hatten die DDR verlassen. Schröder wurde Internist, ein anerkannter Nierenexperte und Facharzt für Rheumatologie. Er entwickelte eine neue Therapie gegen Gicht. Weil es kein Dialysegerät gab, baute er sich eines mithilfe einiger Techniker.

Das klingt nach einer von vielen Geschichten aus den Hobbykellern des Sozialismus. Im Nachhinein vielleicht ganz lustig. Aber wenn Schröder von damaligen Lücken spricht, von fehlenden Medikamenten oder dem schlichten Nichtvorhandensein von Einwegmaterial, ahnt man: Ihm war oft nicht zum Lachen. Dabei arbeitete er nicht irgendwo, sondern an der Medizinischen Akademie Dresden.

Ab 1984 leitete er die Abteilung Innere Medizin der Hochschulpoliklinik. Als er zum Dozenten ernannt werden sollte, habe ihn der Prorektor einbestellt. „Ich wurde einmal gefragt und nie wieder, ob ich in die SED eintrete“, sagt Schröder. Gehe nie in eine Partei!, so der Rat des Vaters. Noch im Jahr 1989 wurde Hans-Egbert Schröder zum Außerordentlichen Professor ernannt. „An der Leistung konnten sie nicht vorbei.“ 1992 wurde er zum Ordentlichen Professor berufen mit einem Lehrstuhl für Rheumatologie.

Leistung, das ist der Maßstab. In der Medizin wie in der Kunst. Wenn er ein Bild kaufte, sagt Hans-Egbert Schröder, habe ihn nur die Qualität interessiert. Nie die politische Ansicht des Malers. In seiner Sammlung finden sich Werke von Curt Querner, Ernst Hassebrauk, Wilhelm Lachnit, Max Uhlig, Rudolf Bergander, Hermann Naumann, Gerhard Kettner, Jutta Damme, Marianne Britze … Dresdner Kunst des 20. Jahrhunderts. Manches ersteigerte er bei Auktionen. Anderes erwarb er auf Grafikmärkten oder in Galerien.

Bei Kühl in Dresden gehörte er zu den Stammgästen. Es konnte passieren, dass er zwei, drei Jahre lang ein Bild abbezahlte. Einige Künstler lernte er schon als Kind kennen im Atelier seines Onkels Erich Gerlach. Dessen Werk wird in vielen Museen bewahrt.

Schröder wuchs in einer Umgebung auf, die an Tellkamps Roman „Der Turm“ erinnert. Musisch gebildet, bürgerlich, konservativ. Philharmonie-Anrecht statt DDR-Fernsehen. Tellkamps Vater war eine Zeit lang sein Kollege, der Autor selbst Arzt. Medizin trifft Kunst. Das hat Tradition. Hilft Kunst heilen? „Alles, was der Psyche hilft, hilft“, sagt Hans-Egbert Schröder. Als Schulmediziner sei er für Naturheilverfahren offen. „Der Patient muss mitspielen, sonst bringt es nichts.“ Der Nächste bitte.

„Nudelopa“ macht täglich 30 Minuten Pause

Zwischen acht und 18 Uhr leistet sich der Arzt eine halbe Stunde Pause. Die Kantine liegt im Nachbargebäude. Es gibt Pizza, Wirsingroulade und Spirelli mit Wurstgulasch. Schröder wird in der Familie „Nudelopa“ genannt. Er kann aber auch richtig kochen, sagt er, und dass er gern kocht. Seit seine Enkelin ihn kritisch musterte und von einem „Bäuchlein“ sprach, setzt er auf Intervallfasten. „Ich achte auf mein Gewicht.“ Ein weiterer Grund, warum er noch fit ist. Rauchen verbietet sich von selbst. „Es ist einer der größten Risikofaktoren für entzündliche rheumatische Erkrankungen.“ Und wenn ein Patient die Zigarette nicht lassen kann? „Dann ist man doch etwas frustriert.“

Freundliches Nicken von den Weißkitteln an den Nachbartischen. Vor 120 Jahren kamen Schwestern der methodistisch geprägten Bethanien-Diakonie nach Chemnitz. Bethanien heißt ein Ort in der Bibel. Für Schröder Bildungsgut und mehr nicht. Das Unternehmen setzt auf ganzheitliche und persönliche Zuwendung. Was denn sonst. Eine Patientin sagte kürzlich zu ihm: „Sie sind der erste Arzt, der wirklich mit mir spricht.“

Vor allem hört Schröder zu. „Man braucht ein Gespür für das, was ein Patient mitteilen will.“ Ein großer Teil seiner Diagnose entsteht durch Befragen und Untersuchen. Aber das lernen Ärzte heute nur noch bedingt, sagt er. Sie würden lieber den Apparaten vertrauen als ihren Augen und Ohren. Lieber einmal mehr röntgen als zu wenig. Das treibe die Kosten im Gesundheitswesen hoch. Er nennt es „Absicherungsmedizin“. Die sei dem System immanent.

Hans-Egbert Schröder erinnert sich an die ersten Begegnungen mit diesem System in Dresden nach 1989. „Die westdeutschen Kollegen dachten, sie kämen in die Pampa. Die Überheblichkeit war teilweise enorm. Dabei brachten sie ein Gesundheitswesen mit, das schon damals veraltet war mit seinen uneffektiven Einzelpraxen. Poliklinik war ein Reizwort für sie. Es heißt nun Ärztehaus oder Medizinisches Versorgungszentrum. Eines nach dem anderen wird von Finanzunternehmen gekauft. Allein der Kommerz zählt.“

Vielleicht hat er damals gehofft, er könnte dem etwas entgegensetzen. Schröder engagierte sich nach `89 für einen neuen Berufsverband im Osten. Er gehörte zu den Gründervätern der Ärztekammer in Sachsen. Und er übernahm die Verantwortung für 4.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Einstimmig wurde er im März 1991 zum Ärztlichen Direktor der Medizinischen Akademie Dresden gewählt. Die Wahl wurde doppelt bestätigt, von Gesundheits- und Hochschulminister. Er hatte ja auch doppelt umzubauen, Krankenversorgung und Lehre. Zugleich arbeitete er als Chef der Klinik III für Innere Medizin weiter. Work-Life-Balance geht anders.

Doch auch Balance steht auf dem Rezeptblock für lebenslängliches Wohlbefinden. Für Schröder gehört die Kunst dazu. Zu Hause wechselt er seine Bilder mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Er sammelt nicht nur. Er zeigt seine Sammlung öffentlich und hält Vorträge. Seine Abschlussvorlesung für angehende Rheumatologen über Krankheit in der Kunst hat Kultstatus. Im November spricht er zum 40. Mal über die Arthritis von Renoir und Monets Sehschwäche.

Vor drei Jahren gründete er mit Gleichgesinnten das Forum mitteldeutsche Kunst. Unter dem Motto „Kunst in Licht“ wollen sie Werke ostdeutscher Maler und Grafiker aus den Depots der Museen herausholen. „Sonst haben die nächsten Generationen keine Chance, diese Tradition kennenzulernen. Sie braucht sich vor der westdeutschen nicht zu verstecken.“ Der Verein formierte sich im Protest gegen die Neuordnung des Dresdner Albertinums. Volksvermögen gehört nicht in den Keller, sagt Schröder. In den Fluren „seiner“ Klinik hing Kunst an den Wänden.

Das endete mit der Emeritierung. Schröder fuhr nun zu Kollegen und Patienten nach Leipzig und Erlabrunn, seit 2006 nach Chemnitz. Seine Frau verstand das. Sie war selbst Medizinerin. In schwierigen beruflichen Phasen habe sie ihm den Rücken weitgehend freigehalten, sagt er. Anfang des Jahres ist sie gestorben.

„Ich habe die besondere Leistung von Frauen immer anerkannt, nicht nur in der Gesellschaft, in Kunst und Literatur.“ Seine Kolleginnen schrieben in einem Artikel im Ärzteblatt: Er habe verkürzte und flexible Arbeitszeiten auch für Stations- und Oberärztinnen mit Kindern ermöglicht – das sei in den 1990er-Jahren an einer Uniklinik überhaupt nicht selbstverständlich gewesen. In seinen Ausstellungen zeigt er immer auch Werke von Künstlerinnen. „Lebensweg einer modernen Frau“ heißt sein Vortrag über Lou Andreas-Salomé. Eine der ersten Psychoanalytikerinnen um 1900.

Neben Zimmer 8 liegt das Schwesternzimmer der Rheuma-Ambulanz. Die Posteingangskiste ist gut gefüllt. Papierkram erledigt Professor Schröder häufig im Homeoffice. Er spricht mit einer der Schwestern. Er würde erst aufhören, wenn man ihn mit den Füßen zuerst raustrage, sagt sie.

„Oder wenn man an meinem Schreibtisch den Kalk aufkehren muss“, kontert er. Als Arzt plädiert er dafür, dass jeder selbst entscheiden darf, wann und wie das eigene Leben endet. „Alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe.“