Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Merken

Reste von Witwenhaus freigelegt

An der Schreibergasse befand sich einst eine sächsische Innovation. Später wurde dort auch Käse verkauft.

Teilen
Folgen
NEU!
© Slub/Fotothek/Walter Hahn

Von Sophie Arlet

Die Spuren des Gebäudes hinter dem Altmarkt sind gut verwischt, heute existieren kaum noch Hinweise auf die besondere Geschichte des Hauses an der Ecke Kramer-/Schreibergasse. Zumindest einen kleinen Teil förderten kürzlich die Bagger einiger Bauleute sowie die feinen Pinsel sächsischer Archäologen zutage. Bevor die Revitalis auf dem Areal unweit der Kreuzkirche Wohnungen bauen kann, wurde der Untergrund nach Spuren Dresdner Geschichte durchforstet. Zutage kamen Reste des Fundaments und ein Emaille-Schild mit Käse-Werbung. Ein Blick in alte Chroniken und Adressbücher offenbart etwas mehr.

Bei Ausgrabungen haben Archäologen die Keller des Witwenhauses freigelegt.
Bei Ausgrabungen haben Archäologen die Keller des Witwenhauses freigelegt. © Sven Ellger
Dieses alte Emaille-Schild wurde im Keller gefunden. Es zeigt Werbung aus dem alten Käseladen.
Dieses alte Emaille-Schild wurde im Keller gefunden. Es zeigt Werbung aus dem alten Käseladen. © Sven Ellger

„Das Haus Schreibergasse 11 wurde nach 1666 zum Pfarrwitwenhaus, in dem tatsächlich bis 1874 unter anderen auch explizit Witwen protestantischer Geistlicher als Bewohnerinnen genannt werden“, sagt Thomas Westphalen vom Landesamt für Archäologie. Das Haus wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gebaut. Damals war die Reformation bereits in vollem Gange. Mit dem Ergebnis, dass Pfarrer nicht mehr ans Zölibat gebunden waren, sondern heiraten durften.

Damit begannen die Probleme – zumindest für die Ehefrauen. Denn sie waren nach dem Tod ihres Gatten nicht abgesichert, Wohnung und Gehalt waren ja an die Pfarrstelle gebunden. Um die Frauen vor Obdachlosigkeit und Armut zu bewahren, gab es schon seit dem 16. Jahrhundert sogenannte Witwen-Kassen. Das waren zunächst nicht mehr als kleine Almosen von Geistlichen an die Hinterbliebenen. In den folgenden Jahrhunderten entwickelten sie sich aber zu richtigen Lebensversicherungen. In Sachsen gab es bereits zu Luthers Lebzeiten erste Witwenkassen, wie die Historikerin Hanna Würth in ihrer Studie zur Pfarrwitwenversorgung zeigt. Eine 1559 in Dresden gegründete Kasse hatte noch bis 1822 Bestand.

Würth verweist noch auf eine zweite Praxis, die den sächsischen Pfarrfrauen wenigstens eine kleine Sicherheit brachte. 1580 legte Kurfürst August einen „halbjährlichen Gnadengenuß“ per Kirchenordnung fest. Demnach bekam die Frau nach dem Tod ihres Mannes sechs Monate lang dessen Gehalt und durfte auch die Pfarrwohnung weiter nutzen. Drei Jahre später gründete er zudem eine Stiftung, die er mit 5 000 Talern ausstattete. Ursprünglich sollten von dem Geld auch Witwen von Lehrern und armen Geistlichen profitieren. Doch diese Gruppe erwies sich als zu groß. Ab den 1660er-Jahren stand den Pfarrwitwen der Innenstadtkirchen dann schließlich das Haus hinterm Altmarkt als Alterssitz zur Verfügung. So weit die sächsischen Verhältnisse. In Norddeutschland gab es zudem die Praxis der Witwen-Konservierung. Wurde durch den Tod eines Pfarrers sowohl die Arbeitsstelle als auch seine Seite des Ehebettes frei, besetzte der neue Kandidat kurzerhand beides. Die Witwe war somit wieder versorgte Ehefrau, und der Neu-Pfarrer bekam einen komplett ausgestatteten Haushalt nebst Hausherrin. Bei entsprechender Eignung wurde die Tochter der Mutter vorgezogen.

An dieser Stelle verschwimmen die Spuren des mittlerweile verschwundenen Hauses wieder und tauchen erst zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Form eines unangenehmen Geruchs wieder auf. An den erinnert sich SZ-Leser Alfred Malitte. Bis zur Bombardierung Dresdens wohnte die Tante des heute 85-Jährigen in der Schreibergasse 11. Einmal im Monat besuchte sie der Junge. „Beim Betreten des Hauses hatte ich immer das Gefühl düsterer Stimmung. Im Hausflur steckten vor dem Treppenaufgang noch drei oder vier eingemauerte Kanonenkugeln, wahrscheinlich noch vom Beschuss durch den Preußenkönig“, schreibt Alfred Malitte der SZ. Ihm waren die Besuche in dem Haus unangenehm. „Was mich als Junge abstieß, waren Abortanlagen, Gaslicht und zahlreiche Wanzen. Hinzu kam der Geruch von Molkereiprodukten über den Lichtkanal oder Abzug im Hausinneren“, erinnert sich der Dresdner. Für diese Aromen war der Käsehändler Delling verantwortlich. Er hatte seine duften Waren im Keller eingelagert. Von dem Geschäft kündet ein bei den jüngsten Ausgrabungen gefundenes Werbeschild für den „leichtest“ verdaulichen Käse Edelweiss.

Mittlerweile sind die Grabungen zwischen Pfarr- und Schreibergasse abgeschlossen. Die Funde sind archäologisch nicht relevant, und so dürfen die Arbeiter bald mit dem Bau beginnen. Im Dezember soll es losgehen, dann entstehen auf der Brachfläche 213 Wohnungen. Ihre Bewohner werden für neue Geschichten auf der Schreibergasse sorgen. Den Keller des alten Witwenhauses will der Bauherr erhalten. Der Käsegeruch hat sich im Laufe der Jahre hoffentlich verflüchtigt.