Rammenau. Unten die Werkstatt, darüber ein Cafe mit Bierausschank: Wer in Rammenau in das „Cafe Drushba“ (Freundschaft) wollte, musste eine steile Außentreppe hochsteigen. Wolfgang Lehmann pflegte die deutsch-sowjetische Freundschaft auf besondere Weise und richtete Mitte der 1980-er Jahre auf seinem Grundstück an der Niederdorfstraße die kleine Gastwirtschaft ein. Sie war nicht viel größer als ein Wohnzimmer. Sowjetische Stabsoffiziere bis zum Oberst, die in Bischofswerda, Königsbrück und Dresden stationiert waren, gingen dort ein und aus.
Wolfgang Lehmann hatte gute Beziehungen zur sowjetischen Garnison in Bischofswerda. In der Werkstatt der Kaserne hatte er Motoren repariert. Daraus ergaben sich die ersten Einladungen zu geselligen Runden an Feiertagen nach Rammenau.
Gelegentlich saß auch ein junger, unscheinbarer Mann in der Runde, der sich in den Gesprächen, aber auch beim Alkohol zurückhielt. Interessant wurde dieser Mann, der auch den Gaststätten „Wartburg“ in Oberrammenau und „Waldesgrün“ im abseits gelegenen Röderbrunn mehrere Besuche abstattete, knapp anderthalb Jahrzehnte später.
Als im Mai 2000 Fernsehstationen weltweit den Präsidentenwechsel in Russland vermeldeten und Boris Jelzins Nachfolger, Wladimir Putin, zeigten, habe sie ihren früheren Gast gleich erkannt, erinnert sich Gisela Anders, die Wirtin der „Wartburg“. „Dich kenne ich doch“, schoss es der jetzt 80-Jährigen durch den Kopf.
Ein schweigsamer Gast
Von 1985 bis 90 war Wladimir Putin, damals Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB, in Dresden stationiert. „Er war in dieser Zeit mehrmals in Rammenau“, sagt Holger Scheumann. Der Bischofswerdaer Unternehmer forscht in seiner Freizeit zur Regionalgeschichte. Zurzeit bereitet er eine Ausstellung über die Rammenauer Gaststätten und deren prominente Besucher vor.
Von der späteren Bekanntheit des schweigsamen Gastes konnte man in den 1980er-Jahren natürlich noch nichts ahnen. Auch dass es sich um einen Mann vom Geheimdienst handelte, wusste damals in Rammenau keiner.
Holger Scheumann sprach in den vergangenen Jahren mit vielen darüber, darunter auch mit dem inzwischen verstorbenen Wolfgang Lehmann. Der habe ihm berichtet, dass Putin von ihm das Knobeln gelernt habe. Zeitzeugen in Dresden beschreiben Putin als stets adrett gekleidet. Aufs Land soll er dagegen salopp gefahren sein. Meistens habe er eine olivgrüne Uniformhose und eine zivile Joppe getragen.
Putin war zu jener Zeit junger Familienvater und lebte mit seiner Frau und den beiden kleinen Töchtern in einer Dresdner Wohnung. Was zog ihn abends in Dorfgaststätten, wo er doch kaum ein Bier trank? Holger Scheumann sieht die Antwort in den von 1984 bis 1988 in der Region stationierten Atomraketen.
Es liegt auf der Hand, dass der Geheimdienstmann sehr wahrscheinlich den Auftrag hatte, darauf zu achten, dass die „Raketschiki“ keine Geheimnisse ausplaudern, wenn sie nach Dienstschluss bier- und schnapsselig zusammensaßen.
Fahrer warten vorm Lokal
Gisela Anders berichtet, sie habe ihren früheren Gast auch jetzt sofort wieder vor Augen, wenn sie Putin im Fernsehen sieht. „So hat er schon damals dagesessen“, sagt sie. In der Runde der Offiziere, darunter auch Ärzte aus Dresden, sei er ein ruhiger, angenehmer Gast gewesen. Besonders gern aßen die Gäste in Uniform und Zivil in der Wartburg Kamenzer Würste. Die Wirtin bezog sie schon damals, so wie heute noch, von der Rammenauer Fleischerei Wätzlich.
Eine einzige Wurst war den meisten zu wenig. Bestellt wurden meistens gleich drei pro Person, um sie, verteilt über den ganzen Abend, zu verzehren. Die Fahrer im Soldaten-Rang mussten vor dem Lokal warten. Sie bekamen von der Wirtin eine Bockwurst und eine Limo spendiert. Nicht nur bei ihr in der Wartburg, auch in den anderen Gaststätten hatte sich das so eingebürgert, erinnert sich Gisela Anders.
Die sowjetischen Offiziere entschieden sich bewusst für die kleineren, abgelegenen Gaststätten. Sie wollten nicht im Blickpunkt stehen, und sie hatten nur wenig DDR-Geld, sagt Holger Scheumann. Bezahlt wurde deshalb oft auch mit Naturalien, zum Beispiel Ölsardinen und Ananas aus den sowjetischen Militärläden, mit abgezweigtem Benzin oder auch Kohlen fürs Gewächshaus.
21 Gaststätten gab es im Laufe der Jahrhunderte in Rammenau, fand Holger Scheumann heraus. Noch heute hat das 1.500 Einwohner zählende Dorf vier Gaststätten und ein Cafe. Außer Putin waren viele weitere Promis zu Gast, darunter Fußballer, die der DDR-Nationalspieler und Ex-Dynamo Siegmar Wätzlich in seinen Heimatort holte, sowie Künstler, die man vom Fernsehen oder aus dem Kino kannte.
Die Jahresausstellung im „Alten Gefängnis“ erinnert daran. Eigentlich sollte sie am Gründonnerstag eröffnet werden. Doch die Eröffnung verschiebt sich. "Wir wollen die Ausstellung aber aufbauen und einen Kurzfilm ins Internet stellen, um einen Überblick zu geben", sagt Bürgermeister Andreas Langhammer. Nach Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen kann die Schau dann bis Ende Oktober besichtigt werden.
Mit 80 noch hinterm Tresen
Nach der Wende 1990 betrieb Wolfgang Lehmann sein Cafe unter dem Namen „Drushba Club“ noch bis Mitte der 1990er-Jahre. Das Gasthaus „Waldesgrün“ in Röderbrunn ist seit Jahren geschlossen. Das Gebäude verfällt. Gisela Anders steht - außerhalb der Corona-Zeit – auch mit 80 Jahren noch immer gelegentlich hinterm Tresen der Wartburg.
Mittwochs treffen sich ältere Dorfbewohner bei ihr zum Stammtisch, am Wochenende schauen ab und zu Stammgäste rein. Und zu Pfingsten und Himmelfahrt machen viele Ausflügler bei ihr halt. Ob das auch in diesem Jahr wieder möglich sein wird? Die Kamenzer und Bockwürste von den beiden Rammenauer Fleischern schmecken den Gästen jedenfalls heute noch genau so gut wie den Offizieren in den 1980er-Jahren.
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