Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Feuilleton
Merken

Wollen wir wirklich zurück in die Zeiten vor 1989?

Wahlen und Umfragen legen nahe: Vielen sind Freiheit und Demokratie nicht wichtig. Das wäre Verrat an allem, was sich Ostdeutsche seit 1989 erkämpft haben.

 7 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
35 Jahre nach dem Mauerfall wünschen sich manche Menschen die DDR zurück - "nur mit mehr Geld".
35 Jahre nach dem Mauerfall wünschen sich manche Menschen die DDR zurück - "nur mit mehr Geld". © dpa

Ein Gastbeitrag von Andreas Grosse

Ich erinnere mich an den Herbst 1989 in Dresden: Bei den ersten Demonstrationen gegen die unumschränkte Macht und Herrschaft der SED Anfang bis Mitte Oktober ging es eindeutig um Freiheit, um Menschenrechte, um Demokratie, die eingefordert wurden. Teilnehmende waren damals nur wenige hundert oder tausend Menschen, denn es war gefährlich; eine Festnahme durch den Staat konnte mehrjährige Haftstrafen für die Betroffenen nach sich ziehen. Mich erwischte es mit anderen am 08. Oktober am Fetscherplatz. Da spendierte der SED-Staat uns eine Fahrt im abgeschotteten Polizei-LKW ins „Gelbe Elend“, dem berüchtigten Stasi-Gefängnis in Bautzen.

Die letzte Demo, an der ich damals teilgenommen habe, war Mitte November 1989. Die Teilnehmerzahl hatte sich auf bis zu 100.000 Menschen enorm erhöht, was kein Wunder war, denn die DDR-Diktatur war zahn- und kraftlos geworden. Die sowjetrussische Armee hatte nicht, wie vormals 1953 oder 1956 in Ungarn oder 1968 in Prag, militärisch eingegriffen. Und die Herrscher der DDR wagten es glücklicherweise nicht, die „chinesische Lösung“ einzuschlagen. So fiel die DDR in den wenigen Wochen im Herbst 1989 wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Teilnahme an den jetzt regelmäßig und ordentlich angemeldeten Demos war gefahrlos geworden. Und im selben Maße, wie sich die zuvor von Gardinen gut versteckten Fensterplätze leerten, füllten sich die Straßen.

Viele riefen 1989 nicht nach Freiheit, sondern nach D-Mark

Geändert hatte sich aber nicht nur die Anzahl der Demonstrierenden, sondern mit den neu Hinzugekommenen auch die dort erhobenen Forderungen. Nun ging es in der Mehrzahl nicht mehr um bürgerliche Freiheits- und Menschenrechte, sondern gerufen wurde nach dem Erlöser: „Helmut Kohl! Rette uns! Führe uns ins Paradies!“ Gerufen wurde nach „Deutschland, einig Vaterland!“ und, noch viel lauter, nach der D-Mark, auf die die Demonstrierenden ein ureigenes Anrecht vermuteten. Zumindest konnte man dies ihren Rufen entnehmen: „Kommt die DM, bleiben wir! Kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!“ Nunja, das war eindeutig. Und so ahnte ich: Der Drops ist gelutscht.

Die meisten meiner Mitbürger wollen und brauchen offenbar nicht unbedingt die Freiheit, die Demokratie, Selbst- und Mitbestimmung, sondern finanzielle und sonstige Sicherheit und einen starken Staat, der ihnen dies garantiert. Nun, 35 Jahre später, sind offenbar viele der damaligen Rufer oder deren Nachkommen immer stärker enttäuscht von den Mühseligkeiten unserer Demokratie und den Zumutungen dieser offener gewordenen Welt; zwar in der Mehrzahl viel wohlhabender als damals, aber dennoch frustriert von den Schwierigkeiten, die Freiheit und die Verantwortung fürs eigene Tun und fürs Gemeinwohl mit sich bringt.

Schuld sind immer nur "die anderen"

Und weil die klassischen Parteien ihnen das Gewünschte und so sehr Erhoffte nicht wie Eltern ihren Kindern als Geschenk in den Schoß werfen können, wählen sie stattdessen die ebenso enttäuschten, weltabgewandten und die Schuld immer bei den Anderen, den „Altparteien“, suchenden Kleinbürger mit faschistoiden Umsturzfantasien. Solche, die ihnen eine geordnete und scheinbar sichere Welt von anno dunnemals versprechen, in irgendeiner mehr gefühlten als tatsächlich jemals vorhandenen Vergangenheit, in der „noch alles gut war“. „Deutschland, aber normal!“

Dass die sächsische AfD (aber nicht nur die) vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird stört dabei nicht. Andere glauben eher einer ehemaligen (und wohl immer noch) Kommunistin und Stalinisten, einer überzeugten DDR-Anhängerin und -Verteidigerin, die ihnen wie in einem immerwährenden Mantra „Frieden“ verspricht und „Vernunft“, die gern davon spricht, dass man „zuhören und verhandeln müsse“, sich aber vor wenigen Tagen erst mit ihren Genoss*innen des BSW weigerte, im Bundestag die Rede des Präsidenten der von Russland überfallenen Ukraine auch nur anzuhören.

Nur Vernagelte können ernsthaft den "Säxit" wollen

Frieden! – genauer gesagt: Die Einstellung ihrer Verteidigung – fordert sie immer wieder von denen, die um ihr Überleben kämpfen, kämpfen müssen, wenn sie nicht annektiert, gefangen genommen, verschleppt, gefoltert, getötet werden wollen. Und sie fordert, dass wir denen, die um ihr Land und um ihr Leben kämpfen müssen, nicht länger beistehen.

Und wenn es für ihre Art von Frieden nötig ist, die Menschen der Ukraine – und vermutlich auch die des eigenen Landes – diesem aggressiven, neoimperialen Russland vor die Füße zu werfen, dann solle man das eben tun. Noch radikaler in der Ablehnung unserer 1989 erkämpften Freiheit sind die „Freien Sachsen“. Während sich AfD und BSW bisher damit begnügen, immer mal wieder „Deutschland raus aus der Nato“ oder „Raus aus der EU“ zu fordern, skandieren unsere sächsischen Lokalrevolutionäre ironiefrei und todesmutig „Sachsen raus aus der BRD!“

„Endlich wieder DDR, nur mit richtigem Geld!“

Das nenne ich mal konsequent und beeindruckend: „Sachsen, aber frei!“ Und konsequent weiter gedacht am besten und am sichersten mit Mauer und Grenzschutzanlagen, vielleicht wie damals in Berlin und der ganzen DDR. Und sicher dann auch mit eigenen Soldaten, die diese Grenze zukünftig bewachen und uns abschirmen und beschützen vor der bösen Welt da draußen. Wenn schon, denn schon! Zukünftiger Slogan: „Die Mauer muss wieder her!“ Oder, wie tatsächlich bei einer Demo gehört: „Endlich wieder DDR, nur mit richtigem Geld!“

Diese Menschen wissen sehr wahrscheinlich nicht mal ansatzweise, was das für sie (und dummerweise auch für uns) bedeuten würde. Vermutlich aber ist das noch nicht einmal das Ende dieser Entwicklung zur isolierenden Selbst-Verzwergung, und ich bin gespannt auf die nächsten Gruppierungen, die das noch toppen und weiter führen werden:

„Dresden, raus aus Sachsen!“

„Laubegast, raus aus Dresden!“

„Müller, raus aus Laubegast!“

„Chantal, runter vom Rasen!!!“

"Vollender der Wende" als deren Sargnagel

Das Absurde und Verlogene an dieser rückwärtsgewandten Entwicklung: Es war mit der SED die Vor-Vor-Vorgängerpartei des BSW, die damals im Spätherbst 1989 wahrheitswidrig behauptet hat, „die Wende eingeleitet“ zu haben. Und es war die AfD, die auf Wahlplakaten postuliert, die „Wende von 1989 vollenden“ zu wollen. Nun offenbaren sich beide Gruppierungen mit beeindruckendem Schulterschluss und gut sichtbar als deren möglicher Sargnagel.

Denkt man das alles ein paar Jahre weiter, muss man befürchten, dass Putin (wenn er es Dank unserer westlichen Unentschlossenheit geschafft hat, die Ukraine einzunehmen und sich vielleicht auch noch Moldawien und das Baltikum gekrallt hat) keine starke Armee mehr braucht, um sein ehemals russisch besetztes Vasallenland wieder heimzuholen ins russische Imperium. Offenbar werden zahlreiche Leute – was ja jetzt schon geschieht, dank vieler diktatur-affiner Helfer – Putin und seine Clique willkommen heißen, hofieren und wieder einmal hoffnungsvoll den roten Teppich ausrollen. Ähnlich wie 1989 für Helmut Kohl, nur dass der im fundamentalen Gegensatz zu Putin ein Demokrat war und ein überzeugter Europäer. Und dann?

Wenn "Patrioten" fordern: „Putin hilf und rette uns!“,

Laut aktueller Umfragen will die Hälfte der wahlberechtigten Sachsen bei der nächsten Landtagswahl potenzielle Totengräber der Demokratie wählen. Da kann ich nur noch sarkastisch ausrufen: Vorwärts, Genossen, es geht zurück!Und ja, sie sind schon zu hören und zu sehen, die Rufe und die Plakate: „Putin hilf und rette uns!“, fordern ausgerechnet jene, die sich ernsthaft „Patrioten“ nennen oder gar „Alternative für Deutschland“.

Mir scheint, dass dahinter dieselbe blinde (und diesmal noch absurdere) Hoffnung steht wie 1989, der Erlöser höchstpersönlich würde ihr kleines, unzufrieden gelebtes Leben voll so vieler gefühlter Ungerechtigkeiten in die Hand nehmen wie eine vom Baum gefallene Frucht und sie in eine sorgenfreie, unbeschwerte, strahlende, glorreiche und glückliche Zukunft führen.

Endlich.

Unser Gastautor Andreas Grosse (*1960 in Dresden) hat Schrift- und Grafikmaler gelernt und war ab 1998 Geschäftsführer des Dresdner Societaetstheater. Seit 2005 ist er einer der prägenden Kulturveranstalter der Stadt. Nicht nur mit dem Festival „Musik zwischen den Welten“ setzt sich Andreas Grosse für das Miteinander der Kulturen ein sowie gegen Ausgrenzung und Rassismus.