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Wahl: Wie die Jugend im Kreis Görlitz bleiben könnte

In den 1990er-Jahren mussten junge Leute wegziehen, weil es hier keine Arbeit gab. Obwohl sich das gravierend geändert hat, sind Abwanderung und Vergreisung bis heute große Themen.

Von Ingo Kramer
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Lukas Hässner aus Dürrhennersdorf war drei Jahre lang das Werbegesicht des Landkreises Görlitz, etwa bei der Ausbildungsmesse Insider. Hier steht er vor einem Plakat, das ihn selbst zeigt.
Lukas Hässner aus Dürrhennersdorf war drei Jahre lang das Werbegesicht des Landkreises Görlitz, etwa bei der Ausbildungsmesse Insider. Hier steht er vor einem Plakat, das ihn selbst zeigt. © Foto: Franz-Ferdinand Kießling

Lukas Hässner hat sie alle probiert. „Auch die Jobs, bei denen ich mir schon dachte, dass sie nichts für mich sind“, sagt der heute 22-jährige Dürrhennersdorfer. Von 2017 bis 2020 war er das „Werbegesicht“ des Landkreises Görlitz – vor allem für die Berufsmesse „Insider“. Zudem war er Videoproduzent für die Aktion „Check den Job“, mit der der Landkreis jungen Leuten Perspektiven aufzeigen will.

„Das war voll mein Ding“, sagt Lukas Hässner. Die eigene Berufsorientierung sei ihm schon sehr früh ganz wichtig gewesen – auch ohne, dass die Videokamera dabei gewesen wäre. Und im Landkreis Görlitz fühle er sich tatsächlich sehr wohl.

Fakt ist: Die Situation ist eine ganz andere als in den 1990er-Jahren, als junge Leute weggehen mussten, weil es hier keine Arbeit gab. Heute suchen Firmen aus vielen Branchen händeringend nach Fachkräften – allen voran Handwerk und Pflege. Wer nicht gerade Schiffsbauer oder Regierungsbeamter werden will, muss also die Region heute nicht mehr verlassen.

Dennoch bräuchte der Landkreis mehr Lukas Hässners. Die Abwanderung der Jugend und die daraus folgende Vergreisung sind ein riesiges Problem. Ein Blick auf die Zahlen macht das deutlich. So verließen im Jahr 2017 – neuere Daten liegen nicht vor – ausgerechnet in der wichtigen Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen 1.802 junge Leute den Landkreis Görlitz, aber nur 1.355 zogen her – ein Minus von 447 Menschen. Hoffnungsvoller sieht es bei den 25- bis 29-Jährigen aus, hier steht unter dem Strich ein knappes Plus von 30 Menschen. In den Altersgruppen darüber fällt das Plus deutlicher aus, dort verzeichnet der Kreis Wanderungsgewinne. Es sind einzig die jungen Leute, die noch immer wegziehen.

Geburten gleichen Todesfälle längst nicht aus

Hinzu kommt: 2017 wurden im Kreis Görlitz 1.932 Babys geboren, aber 3.935 – vorwiegend ältere – Menschen starben. Das ergibt ein Minus von 2.003 Einwohnern binnen eines einzigen Jahres. Mit der Corona-Pandemie, die im Kreis Görlitz bislang 1.638 Todesopfer gefordert hat, dürften die neueren Daten noch schlechter aussehen.

Entsprechend negativ sieht die Bevölkerungsprognose für den Kreis Görlitz aus. Wie aus dem Sozialstrukturatlas 2019 des Landkreises Görlitz zu entnehmen ist, werden von den heute rund 250.000 Einwohnern im Jahr 2030 nur noch zwischen 223.600 und 232.700 Menschen übrig sein – je nachdem, ob die Zuwanderung höher oder niedriger ausfällt. Zusammen mit dem Erzgebirgskreis bildet der Landkreis Görlitz das sachsenweite Schlusslicht.

Grund zur Hoffnung gibt allerdings die Stadt Görlitz, deren Einwohnerzahl – allen Prognosen zum Trotz – seit Jahren nicht sinkt, sondern über die vergangenen Jahre sogar leicht angestiegen ist. Im April 2022 hatte Görlitz 56.565 Einwohner. Zum Vergleich: Im April 2014 waren es 54.760 Einwohner. Doch gerade im Norden des Kreises sehen die Zahlen ganz anders aus.

Die jungen Leute einfach mal machen lassen

Die Verwaltung hat das Problem längst erkannt. Holger Freymann – heute selbst 58 Jahre alt – beschäftigt sich seit 30 Jahren mit Kreisentwicklung, davon seit 15 Jahren leitend. Er beklagt, dass es bei dem Thema viele kluge Ideen gibt, viele Gesprächsrunden – aber dass am Ende zu wenig umgesetzt wird: „Wir sollten lernen, mal bei 70 oder 80 statt erst bei 100 Prozent loszulaufen und bereit sein, auch Fehler zu machen.“ Oft fehle die Risikobereitschaft, die jungen Leute „einfach machen“ zu lassen.

Auf der anderen Seite hat er viele positive Beispiele, bei denen es gelingt, junge Menschen zu motivieren. Die Unterstützung der Vereinsarbeit sei so ein Beispiel, auch mit dem Ehrenamtsbudget: „Das ist eine Riesenchance, die tatsächlich von vielen Menschen genutzt wird.“ In vielen Vereinen seien junge Menschen mit federführend. „Das sind die Zellen, in denen es wachsen muss“, sagt Freymann.

„Unbezahlbarland“ will für die Region begeistern

Auch die Kampagnen unter der Marke „Unbezahlbarland“, in denen positive Geschichten von Menschen aus dem Kreis Görlitz erzählt werden, um andere für einen Zuzug zu begeistern, stehen auf der Positivseite: „Da geht es darum, gut über die Region zu reden, ohne lehrmeisterisch zu sein.“ Die Kreisentwicklungsgesellschaft Eno geht auch an Schulen, um darüber zu berichten, was die Veränderungen durch den Strukturwandel mit sich bringen und welche Chancen darin liegen. Und nicht zuletzt gibt es etablierte Formate zur Berufsorientierung wie Insider-Atlas, Insider-Treff und Online Insider.

Freymann sieht eine große Verantwortung bei der älteren Generation. Dort gebe es noch viel Frust – und den alten Rat, die Jungen mögen weggehen, wenn aus ihnen etwas werden soll. Hier ruft der Kreisentwickler zum Umdenken auf: „Wir müssen positive Werte vermitteln, Stolz auf die Region.“ Bei den heute 30- bis 40-Jährigen funktioniere diese positive Wertevermittlung schon viel besser als in seiner eigenen Generation, sagt Freymann: „Die können die Jungen viel besser ansprechen.“ Wichtig sei es, die jungen Leute gestalten zu lassen, sie mit ihren Themen ernst zu nehmen, zum Beispiel beim Klimawandel.

Und was ist aus Lukas Hässner geworden? Er hat 2020 am BSZ in Löbau sein Abitur gemacht und danach keinen von all den Berufen ausgewählt, die er einst getestet hat. Stattdessen studiert er heute im vierten Semester Medienmanagement mit der Vertiefung Journalismus in Mittweida. Auf diesem Gebiet will er später auch arbeiten. „Wenn man einmal weg ist, schätzt man, wie schön der Landkreis Görlitz ist“, sagt er. Und: „Ich schließe eine Rückkehr nicht aus.“ Er fühle sich hier sehr wohl und sei noch ganz viel da. Für den Insider macht er dieses Jahr ein kleines Projekt mit dem ASB Görlitz. Auch bei der Insidermesse nächsten Sonnabend in Löbau will er definitiv dabei sein und bei Sportveranstaltungen wie der O-See Challenge am Olbersdorfer See, denen er „unheimlich verbunden“ sei.

Das sagen die vier Kandidaten zu dem Thema

Stephan Meyer (CDU): Mein Ziel ist ein familienfreundlicher Landkreis Görlitz, der für alle Generationen lebenswert ist. Vom Kind bis zur Seniorin sollen sich alle gut aufgehoben und glücklich fühlen und hier alt werden wollen. Dabei müssen wir stärker auf die Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort eingehen und Ungleichheiten im ländlichen Raum abbauen. Das funktioniert nur, wenn alle wichtigen Einrichtungen für das tägliche Leben unkompliziert erreichbar sind.

Stephan Meyer sitzt für die CDU im sächsischen Landtag.
Stephan Meyer sitzt für die CDU im sächsischen Landtag. © Martin Schneider

Bildung ist der Schlüssel zur Gestaltung der Welt von morgen. Wenngleich die Zuständigkeit beim Freistaat liegt, hat der Landkreis als Schulträger einen wichtigen Anteil. Mein Ziel ist es, möglichst alle Kinder zu einem Schulabschluss zu führen, damit sie anschließend durch Ausbildung oder Studium eine Lebensperspektive in unserer Heimat finden.

Bildung heißt für mich auch zu lernen, wie man sich demokratisch einmischt und damit die eigene Zukunft mitbestimmt. Beteiligungsformate sind besonders wichtig für junge Menschen. Das können ein Jugendbeirat auf Landkreisebene sein aber auch offene Beteiligungsverfahren wie Jugendforen, Jugendkonferenzen oder projektbezogene Veranstaltungen, um eine enge Identifikation mit unserer Heimat zu erzeugen. Die konkrete Ausgestaltung bleibt Städten und Gemeinden vorbehalten. Der Landkreis sollte die Vorschläge der jungen Menschen, die durch solche Beteiligungsformate entstehen, in seine Entscheidungen einbeziehen. Die Förderung des Breitensports, mit Schwerpunkt im Kinder- und Jugendbereich, ist daher sehr gut investiertes Geld, um die Bindung mit unserer Heimat zu schaffen.

Sebastian Wippel (AfD): Die Bevölkerung wird weiter altern. Der Prozess ist unumkehrbar. Wir müssen dafür sorgen, dass wir Rückkehrwilligen, die weggezogen sind, den Neustart in der alten Heimat ermöglichen. Dazu möchte ich einen „Rückkehrbeauftragten“ benennen, der als Servicestelle dient. Die Jugend, und das ist anders als vor 20 Jahren, muss nicht mehr wegziehen, um eine Arbeit zu finden. Eine gute Ausbildung wird dazu führen, dass in Zeiten des kommenden Fachkräftemangels mit einiger Berufserfahrung auch bessere Löhne ausgehandelt werden können. Unsere Region ist lebenswert und vielfältig, sodass man hier seine Kinder gern großzieht. Wer dagegen Berlin oder die westdeutsche Großstadt attraktiv findet, der wird dort hinziehen, da wir nicht bieten wollen, was die bieten. Aber Heimat ist Heimat und wer zurückwill, der ist herzlich willkommen.

Sebastian Wippel sitzt für die AfD im sächsischen Landtag.
Sebastian Wippel sitzt für die AfD im sächsischen Landtag. © SZ-Archiv / Martin Schneider

Für Senioren stelle ich mir eine „Seniorenleitstelle“ vor. Dies soll eine Einrichtung sein, die Kenntnis über verfügbare Angebote für Senioren hat, aber auch Kontakte in die Prävention vermittelt, damit jeder so lange es geht, selbstbestimmt in seinen eigenen vier Wänden leben kann.

Kristin Schütz (FDP): Junge Familien haben sich bereits ihre Perspektiven in unserer Region geschaffen. Sie schätzen die gute Versorgung mit Plätzen in Kindertageseinrichtungen wie Krippe, Kindergarten, Hort und sind beruflich gut aufgestellt. Wir haben in unserem Landkreis bezahlbaren Wohnraum und bezahlbares Bauland zu bieten beziehungsweise verschiedenste Fördermöglichkeiten für Sanierung, Um- und Ausbau. Unsere jungen Familien sind heimatverbunden und bodenständig. Ihre beruflichen Perspektiven im Handwerk, der Industrie, dem Handel und der Kulturwirtschaft sind gut. Sicherlich sind die Auswirkungen der unmittelbar aktuellen und zukünftigen wirtschaftlichen Herausforderungen noch nicht absehbar, aber ich werde als Landrätin alles daran setzen, dass wir diese gemeinsam bewältigen. Ich setze mir zum Ziel, zu gestalten, statt nur zu verwalten, und den Gestaltungs- und Unternehmenswillen auch bei allen ebenso zu unterstützen. Deshalb werbe ich für unsere kulturvolle, lebenswerte, grüne, zukunftsorientierte und weltoffene Region in allen Altersgruppen.

Kristin Schütz saß einst für die FDP im sächsischen Landtag.
Kristin Schütz saß einst für die FDP im sächsischen Landtag. © Archiv/Pawel Sosnowski

Und für alle jungen Leute, die sich noch nicht familiär gebunden haben, möchte ich die unterschiedlichen wirtschaftlichen Betätigungsfelder in unserer Region schon zu Schulzeiten erlebbar machen. Nach dem Motto: Ausbildung oder Studium oder beides? Alles ist hier möglich.

Sylvio Arndt (unabhängig): Das wesentliche Problem und gleichzeitige Ursache vieler weiterer Probleme ist die jahrelange Abwanderung der Jugend. Die Altersgruppe zwischen 20 und 60 Jahren trägt als Mitarbeiter und Unternehmer die wirtschaftliche Basis und als Lehrer, Ärzte, Pfleger, Handwerker, Bäcker, Busfahrer, Künstler gesellschaftliche und als Kinder und Enkel soziale Verantwortung für andere Menschen. Junge Menschen sind so individuell und einzigartig wie alle Menschen. Nach dem einen entscheidenden Faktor zu suchen, ist schon deshalb der falsche Ansatz. Im Leben gibt es aber bestimmte Zeiten, da orientiert man sich für die nächsten Jahre. Da muss der Kreis ansetzen.

Sylvio Arndt aus Niesky führt ein Autohaus und tritt als unabhängiger Bewerber an.
Sylvio Arndt aus Niesky führt ein Autohaus und tritt als unabhängiger Bewerber an. © André Schulze

Wie immer gilt: Halten ist einfacher als zurückzugewinnen. Welchem Oberschüler oder welchem Gymnasiasten wird zum richtigen Zeitpunkt ein alternatives Angebot unterbreitet, das seine Wünsche mit einem Leben in der Heimat verbindet? Was passiert, wenn sich eine umzugswillige Familie von außerhalb nach einem Kindergarten oder einer Schule im Kreis erkundigt? Nicht alles lässt sich in „Konzepte“ pressen, dazu braucht es den Willen und die Mitarbeit aller Beteiligten, viel Zuhören, viel Motivieren, viel Durchhalten und eine neue Denkweise.