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Gastbeitrag von Rita Süssmuth: Ein schwacher Westen stoppt Putin nicht

Angesichts des Krieges in der Ukraine plädiert Rita Süssmuth dafür, die Realitäten zu benennen. So stark wie die Aufrüstung jetzt ist, so stark muss nun auch die Diplomatie sein.

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Am langen Tisch: Derart auf Abstand empfing Russlands Präsident Wladimir Putin im Februar 2022 westeuropäische Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Tage später begann der Ukraine-Krieg.
Am langen Tisch: Derart auf Abstand empfing Russlands Präsident Wladimir Putin im Februar 2022 westeuropäische Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Tage später begann der Ukraine-Krieg. © Deutsche Botschaft Moskau

Von Rita Süssmuth

Die Nachkriegszeit ist zu Ende. Sie hat uns über 70 Jahre Frieden in Europa beschert. Das ist die längste Spanne ohne militärische Konflikte, die unser Kontinent seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges erlebt hat, der 1648 mit dem Westfälischen Frieden endete.

Für die meisten Menschen in unserem Lande gibt es keine andere Lebenswelt als die des Friedens. Keine zwei Flugstunden von uns entfernt müssen aber schon wieder junge Männer in den Krieg ziehen, um sich gegen den Überfall Putins zu wehren. Und sich dabei der Gefahr bewusst sein, dass sie vielleicht verstümmelt vom Schlachtfeld zurückkehren werden. Oder gehüllt in einen Leichensack. Das ist die Realität im Jahr 2024.

Kriege entstehen nie aus dem Nichts! Immer gibt es dazu eine Geschichte, eine Ideologie, ein persönliches Versagen. Oder einen Vorsatz, den man sich zu eigen macht. Auch die Geschichte der Sowjetunion und Russlands ist voll davon. Das Land taumelte nach dem Zerfall der Ordnung durch wirtschaftliche Krisen und politische Putsche, wurde schließlich von Oligarchen usurpiert und konnte sich deshalb nie zu einer funktionierenden Demokratie westlicher Prägung entwickeln. Dazu fehlte schlicht die Erfahrung.

Rita Süssmuth 2022.
Rita Süssmuth 2022. © dpa

Der Westen hielt Russland auf Abstand

Der Westen häufte zudem Fehler auf Fehler: Anstatt auf die Menschen und Machthaber in der Sowjetunion mit glaubhaften Angeboten zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe zuzugehen, sahen die Europäer Russland vor allem als Partner in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und als günstigen Rohstofflieferanten – aber nicht als ein weiteres mögliches Mitglied einer europäischen Völkerfamilie. Sie hielten Russland auf Abstand. Das sollte sich rächen.

Lange habe ich gezögert, mich in dieser Krisenlage zu äußern, in der es keine „einfachen“ und klaren Lösungen geben kann. Doch nach intensivem Nachdenken komme ich zu der Entscheidung, es doch zu tun. Schließlich geht es heute um mehr als nur eine Stellungnahme zu einer militärischen Frage. Sondern um ein zentrales Thema: Für welche Zukunft wollen wir uns einsetzen? Jetzt, in der Situation eines lange für undenkbar gehaltenen Falles eines Krieges in Europa?

Denn ja: Wir Europäer sind mittendrin. Wer das leugnet, verkennt die Tatsachen. Es geht im Ukraine-Krieg auch um den Erhalt unseres eigenen Landes und unserer Nachbarländer in Europa, es geht um existenzielle menschliche und demokratische Werte, um die Wertewelt der westlichen Zivilisation. Es geht um unser Menschenbild, um Erhalt von Natur und Kultur, ja, für die Erde und ihre Geschöpfe. Den Rat mancher Politiker, uns lieber zurückzunehmen und uns nicht mehr in die Kriegsdebatte um die Ukraine einzubringen, teile ich deshalb keinesfalls.

Jeder zweite Deutsche fürchtet Putin-Angriff aufs Land

Mittlerweile fürchtet die Hälfte aller Deutschen einen Angriff von Putin auf Deutschland. Natürlich macht dieser Gedanke konkret Angst, die auch aus dem Gefühl der Rat- und Hilflosigkeit erwächst. Was können wir denn noch tun, wenn Sprechen nichts mehr nutzt? Eine Friedensoffensive hat bei Putin keinen Sinn mehr. Das Wort des Philosophen Karl Jaspers, „dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen!“ verfängt beim Kreml-Chef nicht mehr.

Dazu genügt nur ein Blick auf die zahlreichen Kriegsgräuel, die seine Soldateska in der Ukraine verübt hat und die von internationalen Gutachtern glaubwürdig dokumentiert wurden. Wladimir Putin geht über Leichen, um seine Ideologie durchzusetzen. Die Idee des Imperiums beherrscht ihn. Das ist keine neue Idee. Die russischen Herrscher hat sie über die Jahrhunderte angetrieben.

Alle Versuche, den Kreml-Machthaber von seinem Überfall auf die Ukraine abzuhalten, nutzten nichts. Im Gegenteil schienen sie Putin nur in seinen Machtansprüchen aus den Zeiten der alten Sowjetunion zu verstärken: ein schwacher Westen, der nun vor ihm im Staub liegt und um Gnade bettelt. Solch ein Bild, das der Westen in den Augen Putins bot, ist jedoch nicht angetan, einen Kriegstreiber und Imperialisten von seinen fanatisierten Vorstellungen abzuhalten.

Im Gegenteil: Putin hat seine Ziele fixiert, sie scheinen bislang unverrückbar. Wir sollten uns jedoch klar werden, dass unsere aktuelle Angst das Ergebnis jahrzehntelanger Falschentscheidungen, Selbsttäuschungen und Verblendung ist. Schon früh hätte verantwortungsvolle Politik die Reißleine ziehen müssen – spätestens als klar wurde, dass sich die Bundesrepublik in eine besorgniserregende Abhängigkeit von Moskaus Energielieferungen begab. Den Preis für dieses eklatante Versagen quer durch alle Bundesregierungen haben wir seit dem 20. Februar 2022 bezahlt. Jeder und jede von uns.

Es ist eine müßige Diskussion, darüber zu grübeln, ob es anders hätte kommen können. Vielleicht hatte Putin nach seinem Auftritt im Deutschen Bundestag, nach seiner Rede im Parlament erwartet, dass ein Kontakt zur Nato entstehen würde. Ich traf ihn damals in meiner Funktion als Alt-Präsidentin des Bundestages. Seine Intentionen konnte ich jedoch nicht wirklich fassen. Was wollte dieser Mann?

Putin will das Rad der Geschichte zurückdrehen

Heute wissen wir: Er will das Rad der Geschichte zurückdrehen. Er träumt davon, das alte große Sowjetreich wiederherzustellen. Putin hatte von Anfang an gegen Gorbatschow und seine Politik der Freiheit und von Glasnost gehandelt. Er versuchte es mit Gewalt, Tücke, Infiltration und List. Nachdem er gesehen hat, dass er die Regionen, die seinem Weltbild nach zu Russland gehören, nicht mehr zusammenbringen kann, verlegt er sich nun auf unverhohlene Gewalt. Seine Schergen drohen mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Putin ist im Schwarz-Weiß-Denken verhaftet: Entweder bist du gut oder böse; solange er so denkt, wird es in der Politik keine Veränderung geben. So stark wie die Aufrüstung jetzt ist, so stark muss nun auch die Diplomatie sein. Denn das Scheitern der Appeasement-Politik gegenüber einem gewissenlosen Aggressor, so lehrt die Geschichte, sollte uns Mahnung sein. Das sollten wir nicht vergessen und niemals wiederholen.

Rita Süssmuth, 87, war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. Neben ihrer Arbeit als Politikerin engagiert sie sich in zahlreichen sozialen Projekten.

Der Gastbeitrag ist ein Auszug aus ihrem aktuellen Buch „Über Mut“ (Bonifatius Verlag).