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Das ist Sachsens ältester Doktorand

Bernd Müller-Kaller forscht zur Weinkultur. In der DDR wurde er wegen Spionage verhaftet. Jetzt hat er seinen Frieden gefunden.

Von Peter Ufer
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Bernd Müller-Kaller ist der älteste Doktorand Sachsens.
Bernd Müller-Kaller ist der älteste Doktorand Sachsens. © Matthias Rietschel

Wie viele Flaschen Wein er in den vergangenen vier Jahren getrunken hat, das wisse er nicht mehr so genau. „Es waren viele“, sagt Bernd Müller-Kaller. Jeder Schluck habe allerdings der Wissenschaft gedient, begründet der 81-Jährige seinen Hang zum Genuss. Ergebnis der Forschung ist eine Arbeit über die Weinkultur in Mähren von 1648 bis 1804. Er trinke gern guten Wein, aber in Maßen, sagt er und zitiert aus einem Brief Goethes an Eckermann: „Es liegen im Wein allerdings produktiv machende Kräfte bedeutender Art; aber es kommt dabei alles auf Zustände und Zeit und Stunde an, und was dem einen nützt, schadet dem anderen.“

Für seine Studie zum Weinbau erhält Bernd Müller-Kaller am 16. Juni 2020 den Doktor-Titel der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden. Er ist damit jetzt nicht nur akademisch anerkannter Weinphilosoph, sondern der älteste Sachse, der an der Alma Mater eine Promotion verteidigte. Als er an diesem 16. Juni per Zoom-Konferenz von seinem TU-Doktor-Vater, Professor Josef Matzerath, erfährt, dass er mit „cum laude“, also gut, abgeschlossen hat, holt er eine im Keller schon lange gelagerte Flasche und öffnet sie. 

Er stößt mit seiner Frau Liane an und lässt sich mit einem italienischen Oldtimer-Dreirad „Ape Calessino“ durch die Umgebung seiner Wahlheimatstadt Stolpen kutschieren. Sie lächeln wie ein glückliches Paar, das sich gerade getraut hat, kann und soll doch jeder sehen, dass sie etwas zu feiern haben. „Ich bin natürlich erleichtert, denn das Ganze war ein Wagnis in meinem Alter. Selbst die Albträume aus meiner Stasihaft sind verschwunden. So war die wissenschaftliche Forschung gleichzeitig eine Therapie für mich“, sagt Bernd Müller-Kaller.

Sechs Jahre im Hochsicherheitstrakt

Am 22. März 1939 in Schackendorf im Landkreis Hildburghausen in Thüringen geboren, studiert der Doktorand ab 1960 bis 1965 an der Pädagogischen Hochschule (PH) in Dresden, bekommt ein Diplom als Lehrer für Geografie und Russisch. Für seine Abschlussarbeit an der PH über die „Entwicklung der Fahrgastschifffahrt auf der Elbe“ erhält er den ersten Preis des Jahrgangs.

Zehn Jahre arbeitet Bernd Müller als Lehrer in Dresden, später in Lauenstein im Landkreis Dippoldiswalde. Er heiratet, zwei Söhne kommen auf die Welt. Pädagoge an einer Schule zu sein, reicht ihm nicht, er geht ins Kreisschulamt und absolviert nebenbei ein Fernstudium der Philosophie, erhält jährlich Auszeichnungen als Beststudent. Stolz zeigt er noch heute die Urkunden. 

9.7.2020, Dissertation Bernd Müller-Kaller, Stolpen, © by Matthias Rietschel; 0172-3511011; Honorarfrei für Produkte von sächsische.de und Sächsischer Zeitung
9.7.2020, Dissertation Bernd Müller-Kaller, Stolpen, © by Matthias Rietschel; 0172-3511011; Honorarfrei für Produkte von sächsische.de und Sächsischer Zeitung © Repro: Matthias Rietschel

„Spätestens da war mein Ehrgeiz geweckt, wissenschaftlich zu arbeiten, und ich reichte 1982 ein Thesenpapier ein, um eine Dissertation zu schreiben“, sagt der 81-Jährige. Thema seiner Arbeit damals: „Die Arbeiterklasse im Kreis Dippoldiswalde von den Anfängen an“. Doch 1983 wird er wegen Spionage verhaftet, bleibt bis 1989 im Hochsicherheitstrakt der Staatssicherheit, Bautzen II, verschwunden.

Wenn er heute gefragt wird, warum er damals in Haft gekommen sei, verweist er auf seine Bücher, die er darüber geschrieben hat. Er habe während des Philosophiestudiums zunehmend eine systemkritische Haltung entwickelt. „Ich geriet immer mehr in einen Konflikt zwischen den formulierten parteipolitischen Ansprüchen und der gelebten Realität“, sagt er. Nachdem er einen Brief mit kritischen Anmerkungen an einen Bischof geschrieben habe, sei er wenige Tage später verhaftet worden.

Bernd Müller-Kallers Diplomzeugnis.
Bernd Müller-Kallers Diplomzeugnis. © Repro: Matthias Rietschel

Nach der Freilassung geht er zunächst mit seiner Familie zu einem Freund nach Stuttgart, trifft dort den damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Erwin Teufel, der ihm bei Gerhard Mayer-Vorfelder im baden-württembergischen Ministerium für Kultus und Sport eine Stelle vermittelte. „In Baden-Württemberg, was nicht verwundert, entdeckte ich den Weingenuss. Mein Freund Rudi Franke, leider schon verstorben, brachte mir dort die tiefe Philosophie des Getränks näher“, sagt Müller-Kaller. Dazu gehöre ein wichtiger Grundsatz von Baron Philippe de Rothschild: „Der Wein, er wird geboren, dann lebt er, entwickelt Kraft und Stärke, aber er stirbt nicht, er überlebt im Menschen.“ Und vielleicht ist es richtig zu ergänzen, dass der Mensch mit Wein überleben kann.

Erstes Buch mit 71

Ein Jahr lang hospitiert Bernd Müller in Stuttgarter Ministerien, kehrt 1991 nach Sachsen zurück, baut in Dresden den Medienbereich im Kultusministerium mit auf. 1993 ein weiterer Schicksalsschlag, seine Frau stirbt an Brustkrebs. „Die Zeit meiner Haft ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen“, sagt der 81-Jährige. Er stürzt sich in die Arbeit, führt zudem jahrelang den Verein der Opfer des Stalinismus (VOS) und vertritt ihn im Rundfunkrat des MDR. An wissenschaftliche Forschung denkt er zu dieser Zeit nicht. 

Er lernt seine jetzige Frau Liane Kaller kennen, zieht nach Stolpen und geht 2003 in Rente. Plötzlich ist Zeit für Erinnerung, plötzlich ist Zeit, sich ein Hobby zu suchen, das ihn ausfüllt und seinen Drang zur Wissenschaft befriedigt. Er will nachholen, was er nicht zu Ende bringen konnte, er malt und widmet sich der Theorie des Weines.

2011 erscheint sein erstes Buch „Wein-Philosophie“. Für die Recherche besucht er Weingüter in der Pfalz, in der Wachau, im Bordeaux, in der Toskana, im Breisgau. Er tritt der Gesellschaft für Geschichte des Weines bei und lernt dessen Präsidenten Hans Reinhard Seeliger kennen. Der lehrt als Professor für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Christliche Archäologie an der Universität Tübingen. Er animiert den Weinkenner, sein Wissen über das geistreichste Getränk der Menschen in eine wissenschaftliche Arbeit einfließen zu lassen und vermittelt ihn an die TU Dresden, an Professor Josef Matzerath, den späteren Doktor-Vater.

In eine Weinfamilie eingeheiratet

Der große Kreis des Lebens scheint sich für Bernd Müller-Kaller zu schließen und alles ergibt irgendwie einen Sinn. Denn die Vorfahren seiner Frau Liane kommen aus einer Familie namens Ellinger, die seit 1648 Weinbau in Mähren betreibt. Als Markgrafschaft Mähren wurde das Gebiet jahrhundertelang als Teil der Habsburgermonarchie verwaltet, und so recherchiert der Doktorand in den Privatarchiven der Fürsten von Lichtenstein in Wien und im Mährischen Zentralarchiv in Brno. Müller-Kaller kann so erstmals exakt nachweisen, dass in dem wenig bekannten Mähren sich der Weinbau zwischen 1648 bis 1804 auf fast 30.000 Hektar vergrößert hatte. 

In der Pfalz, heute eines der bedeutenden Weinanbaugebiete Deutschlands, wird zurzeit eine Fläche von rund 22.000 Hektar bewirtschaftet. Das hohe Wachstum des Weinkonsums und des Binnenhandels in Mähren seien damals eine der wichtigsten Gründe für die stetige Steigerung des Weinanbaus und der Weinkultur gewesen, erklärt Müller-Kaller. „Der Aufschwung beruhte auf Reformen der Habsburger, technischen und technologischen Veränderungen, der Einführung der Schwefelung, einer Methode zur Konservierung sowie des Weinkellerbaus.“ 

Bernd Müller-Kaller mit seiner Frau Liane in Stolpen.
Bernd Müller-Kaller mit seiner Frau Liane in Stolpen. © Matthias Rietschel

Im Süden Mährens seien noch heute die Weinkellergassen und Weinkellerdörfer außerhalb der Wohngemeinden zu bewundern. In Petrov zum Beispiel stehe eine solche Anlage mit über 60 Kellern unter Denkmalschutz. Bogenförmige barocke Portale würden auf das Alter hinweisen. Die weiß gestrichenen mit himmelblauen Sockeln ausgestatteten Häuschen erscheinen, als würden dort die Hobbits von Tolkien leben.

Keine Rücksicht auf das Alter

Das alles erforscht Bernd Müller-Kaller, schreibt es auf, verfasst Thesen, formuliert wissenschaftliche Theorien. Doch nach zwei Jahren Arbeit zweifelt er, dem Anspruch einer Dissertation gerecht zu werden. Der Doktorand will aufgeben. Doch seine Frau Liane lässt nicht locker, meint, er müsse zu Ende bringen, was er angefangen habe. Zudem erklärt sie ihm unmissverständlich, dass er in seinem Alter nicht mehr viel Zeit habe, um etwas wirklich abschließen zu können. Er versteht, arbeitet weiter, schreibt fast 500 Seiten auf seinem Computer, gibt die Arbeit Ende 2019 in der TU ab.

Die sächsische Promotionsordnung nimmt allerdings weder Rücksicht auf Verdienste noch auf das Alter eines Forschers. Bernd Müller-Kaller muss wie jeder andere nachweisen, dass er tatsächlich fließend eine zweite Sprache beherrscht, dass er schon wissenschaftliche Arbeiten veröffentlichte, und er muss zwei Gutachter für seine Arbeit organisieren. Er schafft das alles. 

Müller-Kallers Dissertation ist mit einigen Zeichnungen geschmückt.
Müller-Kallers Dissertation ist mit einigen Zeichnungen geschmückt. © Repro: Matthias Rietschel

Dann kommt die Corona-Krise, plötzlich rennt die Zeit davon, an der TU haben Professoren plötzlich ganz andere Probleme, als sich mit einer Dissertation über den Weinanbau in Mähren zwischen 1648 und 1804 zu beschäftigen. Aber am 16. Juni ist es dann soweit. Bernd Müller-Kaller setzt sich vor den Computer, klickt auf den Link zur Zoom-Konferenz und verteidigt von seinem Schreibtisch in Stolpen aus seine Arbeit.

Als er dann sein „cum laude“ erhält, als er zurück ist von der Fahrt mit dem „Ape Calessino“, da geht er mit seiner Frau in den Garten und pflanzt einen Weinstock, einen Leon Millot blau. „Vielleicht ein schöner Anfang, denn ich hätte schon gern noch einen Berg voller Reben in Stolpen. 99 Stöcke darf man pflanzen. Darauf stoßen wir an“, sagt Bernd Müller-Kaller.