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SZ + Bautzen

Ist das noch Recht, Herr Richter?

24 Anklagepunkte, trotzdem nur Bewährung für Intensivtäter „King Abode“ aus Bautzen. Der Gerichtsdirektor nennt die Gründe.

Von Theresa Hellwig
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Bautzens Amtsgerichtsdirektor Markus Kadenbach, 52, findet, der Gesetzgeber muss an einem Punkt nachbessern.
Bautzens Amtsgerichtsdirektor Markus Kadenbach, 52, findet, der Gesetzgeber muss an einem Punkt nachbessern. © SZ/Uwe Soeder

Bautzen. Er nennt sich „King Abode“ und beschäftigt seit Jahren Polizei und Justiz. Jetzt wurde Mohamed Youssef T. vom Amtsgericht Bautzen zu einer Jugendstrafe verurteilt, 24 Punkte lang war die Anklageschrift. Die Vorwürfe reichten von Sachbeschädigung bis zu versuchter gefährlicher Körperverletzung. Dennoch stand am Ende ein für viele überraschend mildes Urteil: ein Jahr und vier Monate Haft auf Bewährung. Mit Amtsgerichtsdirektor Markus Kadenbach sprach die SZ über die Gründe und die Reaktionen auf den Richterspruch.

Herr Kadenbach, wegen des Urteils wurden Sie von aufgebrachten Bürgern angerufen. Bringt Sie das ins Grübeln?

Ich habe erwartet, dass das Urteil diese Reaktionen auslösen wird. Ich meine allerdings, dass man über die Angemessenheit einer Strafe nur dann ein begründetes Urteil abgeben kann, wenn man selbst bei der Hauptverhandlung war. Die Richter, die hier entschieden haben, haben sich in mehreren Sitzungen eine Überzeugung von der Persönlichkeit des Täters und von den Umständen der einzelnen Straftaten gebildet, die er begangen hat. Damit haben diese ein Wissen, das wir alle nicht haben.

Die Verhandlung war aber nicht öffentlich. Bei ein oder zwei der angeklagten Straftaten war „King Abode“ vielleicht minderjährig. Es waren aber 24 Taten angeklagt – wie ist das zu rechtfertigen?

Die gesetzliche Vorschrift, die die Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung bei Jugendlichen als Angeklagten ausschließt, ist rigoros. Selbst, wenn von mehreren Tatvorwürfen nur ein einziger in die Zeit fällt, in welcher der Angeklagte noch minderjährig war, muss die gesamte Hauptverhandlung nicht-öffentlich stattfinden. Nach meiner Auffassung geht die Vorschrift allerdings über das Ziel hinaus. Ein Angeklagter, der wie hier der T. zum Zeitpunkt der Verhandlung nicht mehr minderjährig ist und mit mehreren Tatvorwürfen konfrontiert wird, die in die Zeit nach seinem 18. Geburtstag fallen, bedarf – wie ich finde – nicht zwingend des gleichen Persönlichkeitsschutzes wie ein Minderjähriger. Gerade wegen der Erwartungen der Öffentlichkeit hätte ich mir gewünscht, dass sie über die Medien viel über die Verhandlung erfährt.

Muss der Gesetzgeber nachbessern?

Denkbar ist zum Beispiel eine Bestimmung, die darauf abstellt, in welcher Altersphase das Schwergewicht der Taten liegt. Hiernach wäre die Hauptverhandlung nur dann nicht öffentlich, wenn das Schwergewicht bei Straftaten liegt, die der Angeklagte als Jugendlicher beging. Da nachzubessern, wäre eine Aufgabe des Gesetzgebers. Denn der Richter ist an das geltende Recht gebunden. Also musste die vorsitzende Richterin im Verfahren gegen T. die Öffentlichkeit ausschließen.

„King Abode“ stand zuvor schon in Dresden vor Gericht. Da galt er als älter.

Bei den anderen Verfahren hat es keine Rolle gespielt, ob das von T. angegebene Alter zutreffend ist. Die wichtigen Weichenstellungen liegen beim 18. und 21. Geburtstag. Fallen die Taten so oder so in eine der Kategorien Jugendlicher, Heranwachsender oder Erwachsener, muss sich das Gericht nicht weiter mit dem Alter befassen. Bei dem aktuellen Fall ist es aber darauf angekommen: Zum einen für den Ausschluss der Öffentlichkeit; zum anderen für die Bestimmung, ob die Straftaten nach allgemeinem Strafrecht oder, wie geschehen, nach Jugendstrafrecht beurteilt werden.

Oft werden Verfahren abgetrennt

Das wäre nicht zulässig gewesen. Die Verfahren sind verbunden worden, um eine einheitliche Strafe zu bestimmen. Es wäre kein sachgerechter Grund gewesen, eines der Verfahren nur, um, die Öffentlichkeit bei Teilen zuzulassen, abzutrennen.

Apropos einheitliche Strafen: Da erhält der Täter eine Art Strafrabatt. Das klingt wie eine Einladung, gleich viele Taten zu begehen – ist das sinnvoll?

Es ist natürlich so: Wenn ein leichter Tatvorwurf einzeln bewertet wird, ist auch nur eine leichte Sanktion zu erwarten. Ein Urteil soll aber gerade für Mehrfachtäter abschreckende Wirkung haben. Die Strafe soll einen Täter davon abhalten, künftig Straftaten zu begehen. Da macht es natürlich Sinn, dem Angeklagten das Unrecht, das er begangenen hat, in seiner Gesamtheit vor Augen zu führen. Und ihm auch zu erkennen zu geben, dass der Staat hierauf mit einer deutlichen Sanktion reagiert.

„King Abode“ hat eine Bewährungsstrafe bekommen – kein deutliches Urteil...

Nach meinem Eindruck stören sich diejenigen, die das Urteil gegen T. für zu milde halten, weniger an dem Strafmaß von einem Jahr und vier Monaten. Vielmehr beanstanden sie, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Für diese Entscheidung ist das Alter des T. aber kaum von Bedeutung gewesen. Im Zentrum steht sowohl nach allgemeinem Strafrecht als auch nach Jugendstrafrecht die Frage, ob die Warnfunktion der Bewährung ausreicht, um den Verurteilten vom erneuten Begehen einer Straftat abzuhalten. Diese Warnfunktion schließt ein, dass dem Verurteilten der Widerruf der Bewährung droht, wenn er in der Bewährungszeit wieder eine einschlägige Straftat begeht. Er muss in diesem Fall letztlich doch ins Gefängnis.

Es ging um 24 Taten. „Abode“ gilt als Intensivtäter. Wie kann man da mit der Warnfunktion argumentieren?

Die Bezeichnung als Intensivtäter ist eine Einschätzung der Polizei, das ist für die Justiz nicht maßgeblich. Vor Gericht kommt es darauf an, welche rechtskräftigen Vorstrafen der Angeklagte mitbringt. Es gibt dabei eine Art Sanktionsspirale: Die erste Tat wird mit einer Geldstrafe bestraft, bei einer Wiederholung gibt es eine Freiheitsstrafe zur Bewährung; erst auf die zweite Wiederholung folgt die Haftvollstreckung. Und ja, T. stand vorher schon vor Gericht. Er ist aber noch nicht rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Er hat also noch nie unter Bewährung gestanden. Die Warnfunktion wirkt nur auf die Zukunft. Die Straftaten, um die es hier ging, fanden vor der Verurteilung in Dresden statt.

Sie meinen die Haftstrafe, die er immer noch nicht abgesessen hat. Ist das Justizsystem ein zahnloser Tiger?

Eine Haftstrafe darf erst vollstreckt werden, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Weil gegen das Dresdner Urteil Rechtsmittel eingelegt worden sind, muss die Entscheidung des Berufungsgerichts abgewartet werden.

Stichwort: abwarten. Warum hat es Jahre gedauert, bis der Prozess startete?

In der Richterabteilung, bei der der Jugendrichter und auch das Jugendschöffengericht angesiedelt ist, hatten sich vor einiger Zeit viele Verfahren angesammelt. Darunter auch die ersten der nun verhandelten Anklagen gegen T. Bei einem solchen Verfahrensstau muss man abwägen, welche Verfahren zuerst wichtig sind. Der damalige Richter schätzte andere Verfahren dringlicher ein als die bis dahin eingegangenen Anklagen gegen T. Beim Jugendschöffengericht fallen auch Verfahren zu Vergewaltigungen oder schweren Gewaltdelikten an. Da ist es wichtiger, schnell einzugreifen. Dass die Tatvorwürfe gegen T. so gravierend geworden sind, liegt daran, dass zu den ursprünglichen Anklagen weitere hinzugekommen sind.

Ist das Gericht immer noch überlastet?

Die richterliche Personalausstattung am Amtsgericht Bautzen ist 2016 verbessert worden. Vor allem der Jugendrichter und das Jugendschöffengericht wurden entlastet. Und zu Beginn dieses Jahres gab es noch einmal eine Entlastung. Das hat – in Verbindung mit der Tatkraft der zuständigen Richterkollegin und ihrer Mitarbeiter der Geschäftsstelle – auch gewirkt: Am 1. Januar 2019 waren 107 Jugendrichter- und 41 Jugendschöffengerichtssachen offen. Zum 31.10.2019 waren es nur noch 57, beziehungsweise 24 laufende Verfahren.

Viele Vorstrafen, milde Strafen. Verstehen Sie den Frust gegenüber der Justiz?

Ich kann den Frust verstehen. Ich meine aber, dass der Eindruck, Urteile seien zu mild, vor allem daher rührt, dass Einzelheiten der Taten und Persönlichkeitsmerkmale der Angeklagten in der Berichterstattung verkürzt dargestellt werden und freilich auch müssen. Ich lade jeden ein, selber die Verhandlungen zu besuchen. Es kann sich jeder selbst ein Bild machen, wie so eine Verhandlung abläuft – und sich dann selber fragen, wie er den Fall beurteilen würde – und ob die Entscheidung des Gerichts davon abweicht. Ich finde, im Großen und Ganzen funktioniert unser Strafsystem. Man darf auch nicht vergessen: Kein Staat – auch nicht Staaten, die in ihrem Strafrechtssystem auf einer höheren Sanktionsebene beginnen – kann als Erfolg vorweisen, dass es keine Kriminalität in ihm gibt.

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