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Eine sächsische Kleinstadt auf dem Holzweg

Niesky, im scheinbar toten Winkel Sachsens, macht zu wenig aus seinem historischen Potenzial. Doch es gibt hier Menschen, die was bewegen.

Von Peter Ufer
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Martina Kahl (links) und Eva-Maria Bergmann im Stadtmuseum in Niesky am Zinzendorfplatz. Sie sagen, dass die noch bestehenden Holzfertigteilhäuser viel besser vermarktet werden müssen.
Martina Kahl (links) und Eva-Maria Bergmann im Stadtmuseum in Niesky am Zinzendorfplatz. Sie sagen, dass die noch bestehenden Holzfertigteilhäuser viel besser vermarktet werden müssen. © Thomas Kretschel

Am 1. September startet in Niesky der Holzhauslauf. Sind die auf dem Holzweg? Richtig. Da läuft ein kleiner Mehrkampf. 28, 10 oder 5 Kilometer Laufen, Walken, Radeln. Die Strecke führt vorbei an Holzhäusern, die die Stadt in der Oberlausitz so besonders machen. Die Organisatoren rennen mit ihrer Aktion gegen die Bequemlichkeit und das Vergessen an. Denn sie bringen Menschen nicht nur in Bewegung. Sie zeigen auch, was ihre Stadt als großen Schatz besitzt.

„Diese Architektur der Moderne taugt zum Unesco-Welterbe. Nur leider wissen das viel zu wenig Leute.“ Das sagt Martina Kahl, die als Gymnasiallehrerin mit Begeisterung Schülerinnen und Schüler durch ihren Heimatort führt. Sie schwärmt von der Lage im Grünen, von den Seen ringsum und von der Historie. 

„Wer hat das schon?“ Die 60-Jährige kann nicht verstehen, wenn Leute jammern und klagen, anstatt selbst mehr aus ihrer Heimat zu machen. Selbst aktiv sein, heißt Martina Kahls Devise, sonst verfängt doch nur das Ossi-Klischee des ewig Unzufriedenen. Und so ist das Motto des Holzhauslaufs – „Fit in Niesky“ – eigentlich eine Aufforderung für das ganze Jahr.

Bestens saniert präsentieren sich 101 Holzhäuser in der Stadt wie beispielsweise auf der Raschkestraße (links). 
Bestens saniert präsentieren sich 101 Holzhäuser in der Stadt wie beispielsweise auf der Raschkestraße (links).  © Thomas Kretschel

Martina Kahl liefert ständig neue Ideen. Sie spricht fließend Russisch und lehrt die Fremdsprache ihren Schülerinnen und Schülern nicht zuletzt, um Missverständnisse auszuschließen. Denn die gibt es oft genug. Dass das Magazin Spiegel letzte Woche auf seinem Titel schrieb „So isser, der Ossi“, verfehlt hier im östlichen Sachsen sein Ziel. Aber gelesen wird das Nachrichtenmagazin hier ohnehin nicht sehr häufig. Einige Tankstellen haben es schon länger aus ihrem Sortiment genommen. Im Netto liegt es ebenfalls nicht im Zeitschriftenregal. „Kauft hier sowieso keiner“, sagt eine der Kassiererinnen.

Und selbst wenn es Spiegel-Leser gäbe. Das mit dem „Ossi“ geht hier erst recht schief, weil sich Einwohner als Nieskyer, Oberlausitzer oder Niederschlesier und im Höchstfall als Sachsen fühlen, nicht als Ureinwohner von Ossiland, dem eine Verhaltensstörung unterstellt wird, weil er nicht dem Westniveau entspricht. Nieskyer haben ihr eigenes Niveau.

Barbara Giesel wohnt seit 1984 in der Oberlausitz, arbeitet im Nieskyer Rathaus, erst in der Bauaufsicht, seit 2014 heißt ihre Position Fachbereichsleiterin Technische Dienste, verantwortlich unter anderem für die Bauverwaltung. Sie ist mit ihren Aussagen zur Stadt zurückhaltend. Das hier sei eine eher bescheidene Gegend, meint sie und sagt: „Niesky ist eine Kleinstadt im Grünen, geprägt durch erstens die Brüdergemeine, zweitens die Musterhaussiedlungen aus Holz, drittens die Wohnsiedlungen der 1950er- und 1980er-Jahre sowie viertens durch die Sanierung und den Umbau nach 1990.“ In den vergangenen 30 Jahren habe sich die Stadt sehr verändert. Martina Kahl findet das nicht schlimm. „Alles andere wäre ja Stillstand“, sagt sie. 1999 wohnten hier 12.029 Menschen, heute sind es noch etwa 9.500, das Durchschnittsalter 47 Jahre, 2.000 Ein- und . 000 Auspendler.

Geschäfte in der Innenstadt wie zuletzt Foto-Garack schließen. Rund um das Zentrum entstanden zwei Penny-Märkte, ein Netto, ein Edeka, ein Aldi, ein Rewe-Supermarkt.
Geschäfte in der Innenstadt wie zuletzt Foto-Garack schließen. Rund um das Zentrum entstanden zwei Penny-Märkte, ein Netto, ein Edeka, ein Aldi, ein Rewe-Supermarkt. © Thomas Kretschel

Wer durch die Stadt läuft, der kommt irgendwann zu der Annahme, er renne die Balkon-Route entlang. Die meisten großen Mietshäuser, die vor allem der städtischen Wohnungsbaugesellschaft und der Wohnungsbaugenossenschaft gehören sind saniert und massenhaft mit Balkons versehen. Die GWG wirbt mit dem Spruch: „Gewohnt gut.“ Es gibt einen minimalen Leerstand von etwa sieben Prozent, der durchschnittliche Mietpreis liegt bei knapp über fünf Euro. Das klingt nicht nach Flucht aus der Provinz, sondern solider Vermietung. Eine Mietpreisbremse scheint hier unnötig zu sein, gibt es in Sachsen auch gar nicht.

Mit einem Problem schlägt sich Niesky allerdings genauso herum wie fast alle sächsischen Städte ähnlicher Größe. Obwohl zum Beispiel das Waldbad saniert wurde, auch das Krankenhaus, obwohl das Eisstadion für viel Geld ein neues Dach bekam und überhaupt irgendwie alles so sauber aussieht, obwohl alte Gewerbe-Immobilien wie die Limonaden-Fabrik, das Betriebsgelände des Waggonbaus oder die Gebäude des Fleischkombinats abgerissen wurden und obwohl fast alle privaten Häuser so schön wirken wie noch nie, stirbt die Innenstadt immer mehr aus. 

Kleine Einzelhändler schließen, zuletzt Foto-Garack und Früchte-Liebig. Auch das kleine, sehr beliebte Café Mokka ist jetzt zu. Zum Einkaufen reihen sich rund um das Zentrum zwei Penny-Märkte, ein Netto, ein Edeka, ein Aldi, ein Rewe-Supermarkt. Der Internethandel floriert. Außerdem gibt es weder eine direkte Bus- noch eine direkte Bahnverbindung nach Dresden. 

Martina Kahl sagt: „Das Kino, die alte Schauburg, wurde 2006 abgerissen und ersetzt durch ein Einkaufszentrum. Das ist irgendwie symbolisch.“ Gewerbegebiete als neue Zentren, das sei Westniveau. Aber das Hotel und Restaurant „Bürgerhaus“ biete noch Kultur an, sagt Martina Kahl. Am 28. September ist der Dresdner Schauspieler und Regisseur Peter Kube zu Gast, am 11. Oktober kommt Maria Crohn zum Festival der Travestie. In den 1980er-Jahren soll es hier die erste Pizzeria der DDR gegeben haben. So verändern sich die Zeiten.

1742 legten böhmische Glaubensflüchtlinge den Grundstein für ihre neue Heimat und planten den Zinzendorfplatz, nach dem Vorbild der Schlossanlage in Dresden-Pillnitz. Die Kirche ragt über den Platz, ringsherum reihen sich Modeladen an Versicherungsagentur
1742 legten böhmische Glaubensflüchtlinge den Grundstein für ihre neue Heimat und planten den Zinzendorfplatz, nach dem Vorbild der Schlossanlage in Dresden-Pillnitz. Die Kirche ragt über den Platz, ringsherum reihen sich Modeladen an Versicherungsagentur © Thomas Kretschel

Immer mal wieder suchen die Nieskyer nach einem Image. „I love NY“, so hieß mal ein Slogan, der wieder verschwand. Vielleicht war der Hinweis auf New York auch eine winzige Nummer zu groß, obwohl beide Städte mit ihrem parallelen Straßennetz ähnliche Grundstrukturen aufweisen. 

Die Gründer von Niesky, böhmische Exulanten, die aus Widerstand gegen ihren Glauben ihre katholische Heimat verlassen hatten und 1742 den Grundstein für ihre neue Heimat legten, planten den zentralen Zinzendorfplatz nach dem Vorbild der Schlossanlage in Dresden-Pillnitz. Bis heute die rechteckig konstruierte Mitte der Stadt mit Kirche, Pfarramt, Wohnhäusern, Gaststätte, Schule und Museum, dahinter die älteste Turnhalle Deutschlands. „Die steht hier in unserer Stadt“, sagt Martina Kahl und es ist zu spüren, wie sie gern mehr daraus machen würde. 

Auch die Herrnhuter könnten sich mehr einsetzen, um die Stadt voranzubringen. Schließlich besitzen die nicht nur einen Teil der Immobilien, sondern im Nieskyer Schleiermacher-Gymnasium begann einst die Geschichte des Herrnhuter Sterns, der nicht nur als Ursprung aller Weihnachtssterne gilt, sondern auch Weltruhm erlangte.

Rings um den zentralen Platz zeigt sich heute das Bild, das man aus vielen sächsischen Kleinstädten wie Bischofswerda, Dippoldiswalde oder Radeburg kennt: Da reihen sich Dönerläden an Versicherungsagenturen, daneben ein Geschenkeartikelladen, das Modeparadies, der Friseursalon „Sybille“, eine Änderungsschneiderei, immerhin noch eine Buchhandlung samt Lotto-Annahmestelle, Tom Tailor und das Vital-Sanitätshaus, das jetzt im Sommer auch Bademoden anbietet. Martina Kahl lacht und sagt amüsiert: „Bademoden aus dem Sanitätshaus, das klingt nun nicht gerade nach der neuesten Mode. Aber so ist das hier. Wir gehen auch so baden.“

Das Wachsmann-Haus ist heute Museum und erzählt die Geschichte der Holzhäuser, der Moderne und des Architekten Konrad Wachsmann, der gemeinsam mit Bauhaus-Architekt Walter Gropius die Idee aus Niesky in die USA trug.
Das Wachsmann-Haus ist heute Museum und erzählt die Geschichte der Holzhäuser, der Moderne und des Architekten Konrad Wachsmann, der gemeinsam mit Bauhaus-Architekt Walter Gropius die Idee aus Niesky in die USA trug. © Thomas Kretschel

Die Moderne liegt ein Stück entfernt vom Zinzendorfplatz. Drei Straßen weiter steht eines der 101 Holzhäuser. Die meisten der Gebäude sind nach wie vor bewohnt, saniert und originale Zeugnisse einer Geschichte, die international bis heute wirkt. Eva-Maria Bergmann, die Chefin des Stadtmuseums, berichtet mit ähnlicher Leidenschaft wie Martina Kahl von diesem Schatz. „Darauf können wir stolz sein. Aber vor allem müssen wir das aktiver bewerben.“ Es ist gut zu verstehen, dass sie sich wünscht, jeder hier möge so stolz sein wie sie – und das auch weitererzählt.

Denn einer der bekanntesten Architekten des in Niesky ansässigen und auf Holzbauten spezialisierten Unternehmens Christoph & Unmack AG, heute Waggonbau Niesky GmbH, hieß Konrad Wachsmann. Ab 1926 arbeitete der 1901 in Frankfurt an der Oder geborene Architekt in der Oberlausitz und vor 90 Jahren landete er einen besonderen Coup. Der junge Mann mit den dunklen Haaren, Brille und ordentlichem Anzug klopfte bei Albert Einstein an die Tür und schlug ihm vor, sein Sommerhaus zu bauen. Und tatsächlich erhielt der überglückliche Architekt den Auftrag, in Caputh bei Potsdam für die Einsteins ein Holzhaus zu planen und zu errichten: schlicht, modern, funktional und vor allem naturnah. Made in Niesky.

Wachsmann gilt als der Pionier des industriellen Bauens. In der Oberlausitz verstand er erstmals den Übergang vom Handwerk zur Industrie. „Die Entdeckung der Maschinen, der Technologie und der Industrialisierung wurde zum entscheidenden Erlebnis. Ich begriff, dass die Geschichte des Handwerks ihr Ende gefunden hatte“, gab er dem Journalisten Michael Grüning für den 1986 erschienenen „Wachsmann-Report“ Auskunft. 

© Thomas Kretschel

Aufgrund seiner jüdischen Abstammung musste Wachsmann Deutschland in der Nazizeit verlassen und ging 1941 in die USA. Dort gründete er mit dem bereits im Exil lebenden Walter Gropius, dem Gründer des Bauhauses, ein gemeinsames Büro und entwickelten das viel gerühmte General-Panel-System. Es handelte sich dabei um hölzerne Bauplatten, die rundherum das gleiche Profil aufwiesen und durch standardisierte Hakenverschlüsse miteinander verbunden wurden. 

Außerdem waren in den Platten sämtliche elektrische Installationen enthalten, so dass nach Aufbau des flexibel gestaltbaren Hauses nur noch der Anschluss ans Stromnetz erfolgen musste. Dieses Fertighaus-System wurde ein Meilenstein in der Geschichte des industriellen Bauens.

Dass sich viele US-Bürger in ihren Fertigteilhäusern eigentlich auf ursprünglich sächsischen Boden bewegen, gehört zu jenen Erfindungen, auf die Sachsen stolz sein dürfen. In Niesky können Besucher im Museum, dem Wachsmann-Haus, diese faszinierende Geschichte nacherleben. Eva-Maria Bergmann erzählt, dass das Wohnhaus zur damaligen Werkssiedlung von Christoph & Unmack gehörte. In Blockbauweise errichtet, zeichnet sich der kubische Baukörper durch seine moderne, am Bauhaus orientierte Formensprache aus.

Die Bedeutung des Wachsmann-Hauses, in dem zu DDR-Zeiten die FDJ-Kreisleitung ihren Sitz hatte, wurde als herausragendes Beispiel für industrialisierten Holzbau erst spät wiederentdeckt. Da bekam die Brecht’sche Binsenweisheit aus seinem kleinen „Aufbaulied der FDJ“ von 1948 einen Sinn: „Um uns selber müssen wir uns selber kümmern und heraus gegen uns, wer sich traut.“ 2005 erwarb die Stadt das Gebäude, zwischen 2011 und 2014 wurde es denkmalgerecht saniert. Heute ist der Bau der Sitz des Forums Konrad-Wachsmann-Haus und wird als Ausstellungs- und Forschungszentrum genutzt.

© Thomas Kretschel

Unbedingt, so sagt Eva-Maria Bergmann, müsse man sich auch die St. Josef-Kirche ansehen. Die gehört zu den jüngeren Gotteshäusern der Region. Der Bau lag ebenfalls in den Händen von Christoph & Unmack. In vier Monaten bauten sie die Kirche, Kostenpunkt: günstige 17.000 Mark. Die Kirche besteht aus vielen vorgefertigten Teilen. 1935 wurde das 20 Meter lange, hohe und breite Haus eingeweiht und 2012 komplett saniert. Das kostete übrigens 300.000 Euro, finanziert von Stadt, Bund, Land sowie vom bischöflichen Ordinariat Görlitz und vom katholischen Bonifatiuswerk. „Wir haben es doch gut hier und so viel zu erzählen“, sagt Eva-Maria Bergmann. „Mit dem Erbe der Moderne besitzen wir etwas Einmaliges. Wir müssen nur den Mut haben, es noch besser zu vermarkten“, sagt sie.

Ganz am Rande besitzt Niesky noch etwas Besonderes. Am Kurzen Haag, gleich um die Ecke die Straße Am Gottesacker, steht das Denkmal eines Soldaten mit Kalaschnikow in den Händen, das Kriegermahnmal für gefallene sowjetische Soldaten, eingeweiht am 8. Mai 1963. Daneben der Monplaisir, der historische Schulpark des Nieskyer Pädagogiums, die einstige Internatsschule der Brüdergemeine. Eine Bürgerinitiative gründete sich kürzlich, um den fast vergessenen Park für alle Generationen wieder zu beleben. 

„Wer hat das schon“, sagt Eva-Maria Bergmann. Und mit den Holzhäusern solle man unbedingt mal bei der Unesco vorsprechen. Martina Kahl sagt: „Ich fühle mich hier wohl.“ Und sie erzählt zugleich, dass sie das Meer und den Norden liebe und sie irgendwann mal wegziehen werde aus dieser Stadt. Aber nur vielleicht. Erst mal zieht sie in Niesky um, in eine schönere Wohnung gleich um die Ecke.