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Hirsche auf Sendung: Im Nationalpark fliegen die Narkosepfeile

Was macht das Rotwild mit der Sächsischen Schweiz? Forscher wollen das klären. Zwei von ihnen sitzen nächtelang mit dem Betäubungsgewehr auf Posten.

Von Jörg Stock
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Träumende Hirschkuh: Nachdem der Betäubungspfeil Lilie getroffen hat, haben Wissenschaftler ihr ein Halsband mit Sender und Sensoren umgelegt.
Träumende Hirschkuh: Nachdem der Betäubungspfeil Lilie getroffen hat, haben Wissenschaftler ihr ein Halsband mit Sender und Sensoren umgelegt. © TUD/Professur für Forstzoologie

Wer verliert zuerst die Nerven? Ist es der Mensch, der seine Waffe im Vorgefühl des erfolgreichen Schusses einen Tick zu schnell herumschwenkt? Oder ist es das Tier, das trotz des lockenden Futters im letzten Augenblick davon springt? Meistens jedenfalls bleibt der Schuss im Rohr. Es braucht so wenig, sagt Vendula, damit ein Stück Rotwild es sich anders überlegt. "Rotwild ist schrecklich!"

Die Forscherin Vendula Meißner-Hylanova meint das nicht so. Sie liebt die Hirsche. "Ich finde sie wunderschön." Morgens, die Kaffeetasse in der Hand, geht sie gleich zum Computer und schaut nach, was Lilie, Ralfi, Alwin, Zar Peter und all die anderen in den letzten 24 Stunden gemacht haben. Sie will sie kennenlernen, ihre Vorlieben ergründen. Die Hirsche wollen das eher nicht. Sie sind schlau, und ungemein vorsichtig. "Sie machen es uns wirklich schwer."

Vom Wild angeknabberte Kiefer auf einer Brandfläche im Nationalpark. Sie könnte schon einen halben Meter groß sein. Stattdessen wächst sie in die Breite.
Vom Wild angeknabberte Kiefer auf einer Brandfläche im Nationalpark. Sie könnte schon einen halben Meter groß sein. Stattdessen wächst sie in die Breite. © Daniel Wagner

Der Rothirsch ist Deutschlands größtes Wildtier, der König des Waldes. Waldbauern sehen ihn teils kritisch, weil er am Tag bis zu zwanzig Kilo Futter verdrückt, darunter gern auch junge Triebe und Rinde. Jäger freuen sich über den Hirsch, weil er ein toller Anblick ist und ein attraktives Ziel. Die Kontroverse, wieviel Rothirsch ein Wald verträgt, hat Tradition.

Wieviel Hirsch frisst der Wolf?

Seit der Wald massive Schäden durch Dürre, Käferfraß und Feuer erleidet, ist die Frage, welchen Einfluss der Rothirsch auf die Regeneration der Bestände hat, und welches Hirsch-Management man braucht, akut. Im Elbsandsteingebirge wird das ab sofort grenzüberschreitend geklärt, in einem dreijährigen Großforschungsprojekt. Es umfasst den sächsischen und den böhmischen Teil des Nationalparks. Gut 1,2 Millionen Euro europäisches Fördergeld stehen bereit.

Wo der Waldbrand 2022 wütete, fühlt sich heute das Rotwild wohl, wie diese Portion Hirsch-Exkremente am Roßsteig zeigt.
Wo der Waldbrand 2022 wütete, fühlt sich heute das Rotwild wohl, wie diese Portion Hirsch-Exkremente am Roßsteig zeigt. © Daniel Wagner

Bezogen auf das Rotwild ist der Nationalpark eine Black Box. Keiner weiß, wie viel davon drin ist, und wie es mit der Umwelt in Beziehung steht. Um das herauszufinden, werden verschiedene Strategien angewandt. So ist ein Raster aus fast siebzig Fotofallen in Betrieb, um Hirsche aufzunehmen. Damit soll die Dichte des Bestands festgestellt werden.

Außerdem wird an über dreißig Schadstellen im Wald, an Käferlücken und Brandlöchern, erfasst, wie stark nachwachsende Bäume vom Wild abgefressen werden. Definierte Geländestücke werden umzäunt und mit identisch beschaffenen, aber fürs Wild frei zugänglichen Stücken verglichen.

Odilian Adamczak leitet das Rotwild-Projekt bei der Nationalparkverwaltung. Hier checkt er eine der 66 Fotofallen, die zur Hirschzählung installiert wurden.
Odilian Adamczak leitet das Rotwild-Projekt bei der Nationalparkverwaltung. Hier checkt er eine der 66 Fotofallen, die zur Hirschzählung installiert wurden. © Daniel Wagner

Der Einfluss der Touristen auf den Hirsch soll mit den Daten ihrer Handys ergründet werden, der des Wolfes mit seinen Exkrementen. Tschechische und Lausitzer Rudel sind zumindest in der Nähe. Extra geschulte Nationalparkleute werden festgelegte Routen systematisch absuchen und den Wolfskot zwecks DNA-Analyse einsammeln.

Die Königsdisziplin bei der Erforschung des Waldkönigs aber ist es, ihn auf Sendung zu bringen. Dafür ist Vendula Meißner-Hylanova zuständig, gemeinsam mit ihrem Kollegen Norman Stier. Die beiden Wissenschaftler gehören zur Professur für Forstzoologie der TU Dresden in Tharandt. Digitale Beschattung von Wildtieren ist ihre Spezialität.

Sorgen für die digitale Beschattung der Rothirsche: die Tharandter Forstwissenschaftler Norman Stier und Vendula Meißner-Hylanova.
Sorgen für die digitale Beschattung der Rothirsche: die Tharandter Forstwissenschaftler Norman Stier und Vendula Meißner-Hylanova. © Daniel Wagner

Für das Projekt werden 15 Hirsche mit Sendern und Sensoren bestückt, die sie mindestens ein Jahr lang am Halsband mit sich tragen. Die Technik verrät den Forschern nicht nur Position und Temperatur, sondern auch, was das Tier gerade macht, ob es ruht oder läuft, ob es frisst oder flüchtet. Im Sekundentakt wird aufgezeichnet. "So erhalten wir ein durchgehendes Aktivitätsprofil", sagt Norman Stier.

Lauerposten ist luftdicht verschlossen

Zwölf Hirsche haben die Wissenschaftler bereits besendert. Unter anderem auf einer Waldwiese am Katzenstein im Winterberg-Gebiet. Versteckt unterm Geäst einer Buche ist ihre Lauerstellung eingerichtet, ein Kasten aus Spanplatten, gerade groß genug, um sich darin auf einen Stuhl zu quetschen und das Betäubungsgewehr in Anschlag zu bringen.

"Es ist schon hart." In dieser luftdichten Box am Katzenstein lauert Norman Stier mit dem Betäubungsgewehr nächtelang auf Rothirsche.
"Es ist schon hart." In dieser luftdichten Box am Katzenstein lauert Norman Stier mit dem Betäubungsgewehr nächtelang auf Rothirsche. © Daniel Wagner

Zum Anlegen der Halsbänder müssen die Hirsche narkotisiert werden. Dazu begibt sich ein Forscher bei Dämmerung in die Box. Fenster und Türen sind luftdicht, damit kein Menschengeruch nach außen dringt und die Tiere, die vom ausgestreuten Futter angezogen werden, verschreckt.

Durch ein Loch in der Plexiglasfront ragt, umhüllt von Schaumgummi, der Gewehrlauf. Die etwa vier Kilo schwere Waffe - dieser Typ ist auch im Saurier-Aktion-Film "Jurassic World" kurz zu sehen - fixiert man mit Bändern, damit sie absolut ruhig liegt. Taucht ein passender Hirsch auf, wird der Lauf ausgerichtet und bei ziemlich genau 15 Metern Distanz der Abzug gedrückt.

Der Pfeil mit dem Narkosemedikament. Es soll den Hirsch innerhalb von fünf Minuten zu Boden bringen.
Der Pfeil mit dem Narkosemedikament. Es soll den Hirsch innerhalb von fünf Minuten zu Boden bringen. © Daniel Wagner

Eine Ladung Kohlendioxid schießt den Pfeil mit dem Narkosemedikament ab, idealerweise in die Hinterkeule des Tiers, wo das Risiko von Knochenverletzungen am geringsten ist. Der Pfeil entleert sich in den Muskel. Während der folgenden fünf Minuten geht das Tier zu Boden, zwei-, dreihundert Meter vom Ort des Schusses entfernt. Die Forscher decken das Haupt mit einer Plane ab und platzieren, eine untergeschobene Hand Spiel lassend, den Hightech-Kragen.

Verfolgung bringt blaue Flecke

So weit die Theorie. Die Praxis: Für zwölf besenderte Hirsche lagen die beiden Wissenschaftler achtzigmal auf der Lauer, bis zu 16 Stunden am Stück. Etwa alle drei Stunden muss die Hütte gelüftet werden. Dabei hätten die Hirsche manchmal Wind von der Sache bekommen, sagt Vendula, und seien schimpfend weggelaufen. "Da kann man selber auch nach Hause fahren."

Nächtlicher Einsatz in schwierigem Gelände: Vendula Meißner-Hylanova legt Hirschkuh Luise im Kleinen Zschand Halsband und Ohrmarke an.
Nächtlicher Einsatz in schwierigem Gelände: Vendula Meißner-Hylanova legt Hirschkuh Luise im Kleinen Zschand Halsband und Ohrmarke an. © TUD/Norman Stier

Mehrmals flüchteten Hirsche samt Pfeil deutlich weiter als sie sollten. Vendula erinnert sich an Günther, der einen Kilometer weit kam, bevor er einschlief. Dazwischen lagen zwei Schluchten. Die Verfolgung in tiefer Nacht mit schwerem Rucksack durch schwieriges Gelände habe manchen blauen Fleck eingebracht. "Das Lebensmüdeste, was wir bisher gemacht haben", sagt die Wissenschaftlerin.

Drei Hirsche fehlen den beiden nun noch in der Sammlung. Aktuell ruht die Narkosejagd. Zu viel Rummel im Wald, zu viel gute Nahrung für die Tiere, um sich vors Rohr locken zu lassen. Im Winter geht es weiter. Bis dahin kann Vendula Meißner-Hylanova ihre Hirsche am Rechner und mit der Telemetrie-Antenne verfolgen. Die Resultate des Projekts sind für 2027 avisiert. Für die Wissenschaftlerin ist eins schon jetzt klar: "Je glücklicher die Hirsche sind, desto besser wächst der Wald."