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Eine Rehefelderin auf Spurensuche nach einem verschwundenen Dorf

Akribisch recherchierte Heide Dix über den Ort Kalkofen im böhmischen Erzgebirge. Nun bietet sie geführte Wanderungen dorthin an.

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Heide Dix zeigt ein Beispiel erzgebirgischer Glasmacherkunst. Die leicht 			grünliche Verfärbung des Glases weist auf eisenhaltiges Erz hin, wie es hier 			in der Region zu finden ist.
Heide Dix zeigt ein Beispiel erzgebirgischer Glasmacherkunst. Die leicht grünliche Verfärbung des Glases weist auf eisenhaltiges Erz hin, wie es hier in der Region zu finden ist. © Matthias Schildbach

Von Matthias Schildbach

Seit gut fünf Jahren treibt es sie hier um: Heide Dix, 69 Jahre, aus Rehefeld, gebürtige Thüringerin, seit nahezu einem halben Jahrhundert hier im Osterzgebirge zu Hause. Sie führt es immer wieder in die dichten Wälder jenseits der Staatsgrenze, in ein Gebiet, das auf der Karte heute nichts anderes anzeigt als grüne Fläche. Doch was hier im Waldboden verborgen liegt, was Bodenerhebungen und Fluroberflächen erzählen, ist sensationell. Und macht zugleich sehr nachdenklich. Denn auf diesem Fleckchen Erde hat einst der böhmische Weiler Kalkofen gestanden.

Heide Dix ist regelmäßig unterwegs in Kalkofen und versucht durch Ihre Beobachtungen, Recherchen, Zeitzeugenbefragungen und gesunden Menschenverstand das Erscheinungsbild der Wüstung zu rekonstruieren. Ihre gute Vernetzung in tschechischen und deutschen Forschergruppen, in Persona und bei Facebook, hilft ihr dabei enorm. Längst ist sie kein Anfänger mehr.

Vor gut 80 Jahren, als hier oben auf dem böhmischen Erzgebirgskamm noch Deutschböhmen lebten und das Unheil des Krieges mit all seinen Auswirkungen noch nicht zur Realität wurde, war der Gebirgskamm dicht besiedelt. Jahrhundertealte Strukturen des Zusammenlebens hatten sich gebildet, uralte Wasser- und Wegeführungen existierten, die der Mensch sich in dieser rauen Umgebung nutzbar gemacht hatte.

Auf der Suche nach einem vergessenen Ort

Kalkofen war ein kleiner Erzgebirgsweiler, nur wenige Häuser gehörten zu ihm. Sie standen auf romantisch anmutenden Wiesen und Waldlichtungen. Im Ort gab es ein Gasthaus, ein Forsthaus, zwei Mühlen und Wochenendhäuser. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Dichte Wälder erstrecken sich über das Land, das einst Bergwiesen, Obstgärten und Höfe zeigte. Die Häuser sind längst verschwunden, nur vereinzelter Ziegelschutt erinnert an deren Existenz. Die Natur holte sich binnen kürzester Zeit zurück, was der Mensch ihr kraftvoll abgerungen hatte.

Hier war einst der Überlauf des Mühlteiches der Lobkowitzischen Mühle, die zu Kalkofen gehörte. Heide Dix hat ihn mit Helfern wieder sichtbar gemacht. Achim Meschke aus Lungkwitz, Besucher der Kalkofen-Tour, ist fasziniert.
Hier war einst der Überlauf des Mühlteiches der Lobkowitzischen Mühle, die zu Kalkofen gehörte. Heide Dix hat ihn mit Helfern wieder sichtbar gemacht. Achim Meschke aus Lungkwitz, Besucher der Kalkofen-Tour, ist fasziniert. © Matthias Schildbach

Tief führt die Rehefelderin von der Grenzbrücke bei Neu-Rehefeld/Moldava die Wandergruppe in die Wälder, vorbei an Hochmooren und dichten Fichtenwäldern. Fast verliert man die Orientierung im Dickicht und meint sich fernab jeglicher Zivilisation. Da biegt Heide Dix auch noch ab vom Weg, führt die Gäste über einen kaum erkennbaren Pfad. Auf einer Geländeschwelle zeigt sie ein gerade noch so zu erahnendes Karree, im rechten Winkel sind leichte Erhöhungen unter dem Bewuchs zu erkennen.

Es war der Standort der einstigen Lobkowitzischen Brettsägemühle. Der Name stammt vom damaligen adeligen Besitzer der Mühle. Hier auf der Lichtung wurde über Jahrhunderte gearbeitet, hier lag ein Hof, auf dem sich Fuhrwerke, die Müllersfamilie, Kinder tummelten. Mit detektivischen Geschick fand Heide Dix heraus, wo der Mühlteich lag, wo Mühl- und Wohngebäude ihren Standort hatten.

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Und inmitten des hohen Grases fand sich noch etwas: ein Mühlstein! Selbst der löste eine Recherche aus, die zu interessantem Ergebnis kam. Der harte Sandstein stammt vermutlich aus dem Grillenburger Mühlsteinbruch. Heimatforscher aus der Region hatten Heide Dix via Facebook-Chat darauf gebracht. Sie war stolz, den Stein ihren Besuchergruppen zeigen zu können, stellte Mutmaßungen an, was dieser Mühlstein in einer Brettmühle zu suchen hatte. Bis eines Tages die Wiese nur noch den kahlen Liegeplatz vorwies. Der historische Mühlstein war gestohlen worden.

Der kahle Fleck im hohen Gras zeigt noch deutlich die Umrisse des Liegeplatzes. Ein unendlicher Verlust sei es, meint Heide Dix, dass der Mühlstein nicht mehr da ist. Was sie mühsam durch ihre Entdeckungen und geführten Wanderung wieder mit Leben erfüllt und den Menschen ins Gedächtnis zurückruft, wird durch das Stehlen der letzten noch sichtbaren Relikte Kalkofens zerstört.

Alte Pascherwege

Seit jeher hatte sich das Schmuggeln etabliert, je nachdem, wie dunkel die Zeiten waren und wie geschlossen die Grenze gerade war. Während ihrer Arbeit im Pflegedienst hat Heide Dix sich mit vielen Älteren austauschen können. Unter ihnen war Werner aus Altenberg. In seinen jungen Jahren, in der schweren Nachkriegszeit, war er einer der Schmuggler - der "Pascher", wie das mundartsprachliche Wort dies- und jenseits des Gebirges heißt - die alltäglich über geheime Pfade die deutsch-tschechoslowakische Grenze überquerten.

Sie schmuggelten Postsendungen von noch in der Tschechoslowakei verbliebenen Deutschen ins Land, die weder ausreisen noch Post zu ihren Anverwandten schicken durften, und gaben sie bei einem (ost)deutschen Postamt auf. Oder führten Menschen über die Grenze in die Tschechoslowakei, die ihre Verwandten besuchen wollten oder auf kriminellen Pfaden unterwegs waren, auch das gab es. Mit Werners Geschichten weiß Heide Dix die Kalkofen-Wanderung auf wunderbare und unterhaltsame Weise auszuschmücken.

An anderer Stelle zeigt sie einen weißen Stein: Quarz. Es ist der Rohstoff für Glas, und dessen Herstellung hatte hier oben auf dem Gebirgskamm, vornehmlich auf böhmischer Seite, ganz große Bedeutung. Wahrscheinlich kamen mit den Glasmachern die ersten Siedler hier herauf in die Gegend. Spätestens um 1250 drangen sie in die Kammregionen des Erzgebirges vor, nutzten die reichhaltig vorhandenen Rohstoffe und gründeten kleine Waldglashütten.

So steht denn auch die älteste schriftliche Erwähnung des Nachbarortes Moldau (tschech. Moldava) 1346 im Zusammenhang mit einer Glashütte. In der Umgebung konnten Archäologen mindestens sieben Glashütten nachweisen – fünf auf böhmischer, zwei auf sächsischer Seite - die ihren Ursprung im frühen Mittelalter hatten. Zur Herstellung von Glas benötigte man Unmengen von Brennholz, genau wie der einsetzende Bergbau. So nahm die umfangreiche Abholzung der Gebirgswälder spätestens hier seinen Anfang.

Wo sich heute Pestwurz ausbreitet und kaum ein Durchkommen ist, stand einst Günthers Gasthaus und das Forsthaus von Kalkofen. Heide Dix zeigt dieselbe Ansicht vor über 80 Jahren auf ihrem Tablet.
Wo sich heute Pestwurz ausbreitet und kaum ein Durchkommen ist, stand einst Günthers Gasthaus und das Forsthaus von Kalkofen. Heide Dix zeigt dieselbe Ansicht vor über 80 Jahren auf ihrem Tablet. © Matthias Schildbach

Eine letzte Kalkofener Zeitzeugin

Als Heike Dix in der Erzgebirgs-Zeitung von Hana Truncová und deren Besuchen in ihrer Kindheit beim Onkel in Kalkofen las, stellte sie einen Kontakt her. Hanas Onkel Emil besaß in Kalkofen ein Ferienhäuschen, sie verbrachte viele schöne Ferien dort. Das Haus gibt es längst nicht mehr. Wo es gestanden hat, findet man noch Ziegelsteine und Grundsteinfundamente. Und einen verwilderten Johannisbeerstrauch. Mitten im Erzgebirge. Er hatte einst neben Onkels Häuschen gestanden. Ihre Erinnerungen an Kalkofen hat Hana Heide Dix noch mitgeteilt, sie schrieb sie ihr via E-Mail, weil sie besser schreiben als sich unterhalten konnte. Hanna war hochgradig schwerhörig. Im April 2022 ist sie im Alter von 97 Jahren verstorben.

Unweit davon stand das einst bekannte Gasthaus "Günther", das sommers wie winters gut besucht war. Viele der Gäste kamen immer wieder und gern hierher. Vom Haus gibt es noch historische Ansichtskarten. Einige davon zeigt Heide Dix auf ihrem Tablet, während sie vor der ehemaligen Haustürschwelle steht. Es fällt schwer, sich hier eine menschliche Ansiedlung vorzustellen inmitten mannshohen Pestwurzes und dichter Nadelwälder. Nach der Vertreibung der Bewohner 1945 soll es abgebrannt worden sein.

Das daneben liegende Forsthaus, vor dem eine junge Kastanie stand, wurde von einem Panzer der tschechoslowakischen Armee eingerissen. Das sind die schmerzhaften Episoden, die es zu berichten gibt. Es ist nahezu unfassbar, wie schnell ein Ort ausgelöscht wurde. Es war das Ergebnis der politischen Ereignisse, die vor bald einem Jahrhundert in diese Katastrophe mündeten. Von Günthers Gasthaus und dem Forsthaus ist heute außer bis auf Ziegelschutt nichts mehr zu sehen.

Seit 2020 führt sie nahezu jede Woche Wanderer durch die Überreste der Wüstung Kalkofen. Auf einem eigenen Blog berichtet Heide Dix von ihren Entdeckungen und Bemühungen, den Rundwanderweg begehbar zu machen.

Wandertipp: Die Kalkofen-Tour ist ca. 6 km lang und dauert ca. 4 Stunden. Buchbar über die Touristinformation Altenberg oder direkt bei Heide Dix via E-Mail: [email protected]