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Zum 275. von Goethe: Ist der Dichterfürst noch relevant?

Das Interesse am deutschen Nationaldichter Goethe war schon mal größer. Taugt ein alter weißer Intellektueller nicht mehr für die aktuellen Diskurse?

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Der Dichterfürst: Vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar blickt Johann Wolfgang von Goethe als Denkmal auf den Theaterplatz hinab.
Der Dichterfürst: Vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar blickt Johann Wolfgang von Goethe als Denkmal auf den Theaterplatz hinab. © dpa-Zentralbild

Von Christoph Driessen

Als die Bundeskunsthalle vor ein paar Jahren eine große Ausstellung zu Goethe organisierte, standen dort am Anfang zwei einfache Holzlatten, eine lange und eine kurze. Auf der langen stand „Goethe“, auf der kurzen „Im Vergleich dazu irgendein Scheißer“. Der Künstler Georg Herold spielte mit diesem Werk darauf an, dass man sich neben Johann Wolfgang Superstar schnell sehr klein fühlen kann. Zu seinem 275. Geburtstag an diesem Mittwoch stellt sich allerdings die Frage, ob das überhaupt noch so ist. Denn Goethe wird weniger gelesen und weniger gespielt. Ist er überhaupt noch relevant?

Im ZDF-Film: Ralph Friesner (Axel Prahl) unterrichtet im zweiten Jahr an der Abendschule und versucht, seine Klasse allen Widerständen zum Trotz erfolgreich zum Abschluss zu bringen. In der heutigen Schulrealität spielt Goethe immer weniger eine Rolle.
Im ZDF-Film: Ralph Friesner (Axel Prahl) unterrichtet im zweiten Jahr an der Abendschule und versucht, seine Klasse allen Widerständen zum Trotz erfolgreich zum Abschluss zu bringen. In der heutigen Schulrealität spielt Goethe immer weniger eine Rolle. © ZDF und Hans-Joachim Pfeiffer

Lange wäre eine solche Frage undenkbar gewesen, denn wenn in Deutschland jemand auf einem ganz hohen Sockel stand, dann Goethe. „Des deutschen Volkes besseres Selbst“ wurde er genannt. Schon zu Lebzeiten war der Dichter, Naturforscher und Italien-Freund ein internationaler Star.

Napoleon sprach mit „Monsieur Göt“

Am 2. Oktober 1808 wurde er in Erfurt sogar von Napoleon empfangen, der damals auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und den Großteil Europas beherrschte. Der Kaiser saß gerade beim Frühstück, blickte auf und begrüßte Goethe mit den berühmt gewordenen Worten: „Vous êtes un homme!“ („Sie sind ein Mann“). Was er damit genau meinte, ist unklar, vielleicht so etwas wie „Wir können uns von Mensch zu Mensch unterhalten“, vielleicht aber auch: „Sie sind ein Kerl, von Ihnen hab’ ich schon viel gehört!“

Anschließend fragte Napoleon seinen Gast nach dessen Alter, und als Goethe mit „60“ antwortete, lobte er: „Sie haben sich gut gehalten.“ Dies, obwohl andere Leute fanden, dass Goethe ziemlich dick geworden war. Im weiteren Verlauf des Gesprächs kam Napoleon auf Goethes Bestseller „Die Leiden des jungen Werther“ zu sprechen und äußerte sich – wie zum Beweis dafür, dass er das Buch wirklich gelesen hatte – konkret zu einigen Passagen. Eine bestimmte Stelle hatte ihm nicht gefallen, weil sie ihm nicht realistisch erschien. Goethe fand das amüsant und antwortete, ein Schriftsteller dürfe so was machen.

Eine anonyme Erstausgabe des Goethe-Romans ·Die Leiden des jungen Werthers. Erster Teil.· von 1774.
Eine anonyme Erstausgabe des Goethe-Romans ·Die Leiden des jungen Werthers. Erster Teil.· von 1774. © dpa

Der „Werther“ war 1774 erschienen und hatte Goethe – damals ein junger Mann von 25 Jahren – auf einen Schlag in Europa berühmt gemacht. Dass sich die Hauptperson am Ende aus Liebeskummer umbringt, soll andere junge Männer in ähnlichen Situationen dazu verleitet haben, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ob es diesen „Werther-Effekt“ wirklich gegeben hat, ist umstritten. Wie viele andere Schriftsteller ärgerte sich Goethe später darüber, dass er immer zuerst auf den „Werther“ angesprochen wurde. Aber gut, der Kaiser der Franzosen konnte sich das natürlich erlauben. Übrigens sprach er den schwierigen deutschen Namen „Göt“ aus.

Endgültig seit seinem Ableben 1832 im damals hohen Alter von 82 Jahren schwebte Goethe gottgleich über Deutschland. Mitunter wurde er zwar auch kritisiert – als Klassenfeind, Sexist, Antisemit und alles mögliche andere, doch das konnte seinem Status nie wirklich etwas anhaben. Aber in den vergangenen Jahren ist nun etwas passiert, was es so vielleicht noch nicht gegeben hat: Das Interesse an Goethe scheint abzuebben. Schon 2022 ergab eine Umfrage, dass der „Faust“ nur noch in wenigen Bundesländern Pflichtlektüre an den Schulen ist. Der Bühnenverein stellt fest, dass das Stück immer weniger gespielt wird. In der Saison 2022/23 gab es acht Inszenierungen, vor Corona waren es noch 20.„Der Hauptgrund ist meiner Meinung nach, dass ein alter, intellektueller weißer Mann bei den derzeitigen Diskursen nicht unbedingt als Hauptfigur taugt“, analysiert Detlev Baur, Chefredakteur der Zeitschrift „Die Deutsche Bühne“. „Allenfalls für Umschreibungen wie ,Doktormutter Faust’, das in der letzten Saison uraufgeführt wurde und nun erneut inszeniert wird.“

„Woyzeck“ nunmehr vor „Faust“

Was die Schullektüre betreffe, habe Georg Büchners gesellschaftskritisches Drama „Woyzeck“ dem „Faust“ den Rang abgelaufen. Das derzeit meistinszenierte Drama an den Theatern ist ebenfalls „Woyzeck“. „Auch zwischen Schullektüre und Theaterspielplänen besteht ein Zusammenhang – auch das hat aber natürlich tiefere inhaltliche Gründe“, so Baur. Bei beiden Stücken beschäftigen die Theater derzeit besonders die Frauenfiguren: „Die Opferfiguren Gretchen und Marie werden fast immer umgeschrieben oder uminszeniert.“

Auch Thomas Steinfeld, der gerade die knapp 800 Seiten dicke Biografie „Goethe – Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit“ veröffentlicht hat, konstatiert, dass das Goethe-Wissen eingebrochen sei: „Bis vor einigen Jahren konnte man sich darauf verlassen, dass Goethes Leben und Werk in groben Umrissen bekannt waren. Die Bewunderung, die man ihm gegenüber aufbrachte, setzte vage Vorstellungen von einem allgemeingültigen und verehrungswürdigen Denkmal voraus.“ Dass heute andere Bedingungen gälten, liege vielleicht nicht nur am Schulunterricht, sondern auch an einem allgemein weniger ausgeprägten historischen Bewusstsein. (dpa)