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Feuilleton

Woher rührt die Wut im Osten?

Zuwanderung, Bürokratie, Gendern, "keiner hört uns zu": Der MDR zeigt eine ungewöhnliche Doku über den Unmut Ost. Das Rezept: Die Leute einfach reden lassen.

Von Oliver Reinhard
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Regisseur Matthias Schmidt sprach in mehreren Bundesländern mit vielen Menschen wie einem Friseur aus Leipzig, einem Dresdner Kabarettisten und einer erzgebirgischen Lehramtsstudentin darüber, was sie wütend macht.
Regisseur Matthias Schmidt sprach in mehreren Bundesländern mit vielen Menschen wie einem Friseur aus Leipzig, einem Dresdner Kabarettisten und einer erzgebirgischen Lehramtsstudentin darüber, was sie wütend macht. © MDR

Die Ostdeutschen sind unbekannte Wesen. Auch für viele Ostdeutsche. Zu diesem Fazit könnte man kommen angesichts der Menge an Fernsehberichten über Ostdeutschland und die Ostdeutschen vor und nach den Landtagswahlen. Ein gutes Dutzend neue wurde gedreht, teils von Berühmtheiten wie Jessy Wellmer und Eva Schulz, und einige ältere neu ausgestrahlt. Der Erklärungsbedarf scheint anhaltend groß, im Grunde seit Pegida, seit zehn Jahren.

Die Gretchenfrage lautet immer noch: Warum gibt es hier so viele Wutbürgerinnen und Wutbürger? Warum und worauf sind sie wütend? Genau darauf wollte der Filmemacher und Grimmepreisträger Matthias Schmidt eine Antwort finden. Herausgekommen ist mit „Wut“ eine Annäherung an die Menschen im Osten und deren Befindlichkeiten, die aus der Menge der übrigen Beiträge von Autorinnen aus Ost und West wie Wellmer und Schulz heraussticht.

Noch nie stand der Regisseur und Journalist Matthias Schmidt in seinen Filmen selbst vor der Kamera. Für „Wut“ jedoch ist das wichtig, denn mit seinem Rezept „die Menschen reden lassen“ erreicht er Ungewöhnliches.
Noch nie stand der Regisseur und Journalist Matthias Schmidt in seinen Filmen selbst vor der Kamera. Für „Wut“ jedoch ist das wichtig, denn mit seinem Rezept „die Menschen reden lassen“ erreicht er Ungewöhnliches. © MDR

"Reden lassen, nichts bewerten, nichts kommentieren"

Weil Schmidt etwas tut, was Journalisten normalerweise nicht tun: „Ich wollte den Menschen zuhören, sie reden lassen, nichts bewerten, nichts kommentieren.“ Was für ihn auch hieß: keine sachlich falschen Behauptungen korrigieren und klarstellen. Eine unerhörte Herausforderung für einen Journalisten. Und eine berufsethische Gratwanderung. Denn damit, dass man Menschen falsche Tatsachen in einem Beitrag erzählen lässt, ohne Faktencheck, trägt man zur Verbreitung solcher Fake News bei.

Monatelang war Matthias Schmidt im Osten unterwegs. Er ging zur Montagsdemo nach Dahme und sprach mit dem Bürgermeister und einer Fleischerin, zum Friseur nach Leipzig, zum Kabarettisten nach Dresden, zum Fuhrunternehmer und Schweinezüchter nach Sömmerda, zur Studentin ins Erzgebirge, nach Reichenbach zu einem Grafiker, der die Großstadt verlassen und in der Provinz ein Kulturhaus eröffnet hat ... Er lässt sie erzählen. Und sie lassen sich darauf ein.

Umgeben von ganz normalen Menschen, die wütend sind

Warum sein „Wut?“ Eigentlich sind Schmidts Metier historische Dokumentationen, etwa „Jahrhundertbauwerk Trasse“, „Deutschland im Kalten Krieg“ oder „Odsun“ über die Vertreibung der Sudetendeutschen. „Weil ich bei Leuna im ländlichen Bereich wohne und umgeben bin von ganz normalen Menschen, die wütend sind“, sagt der 58-Jährige. „Da wollte ich mich endlich mal rausbegeben aus meiner Komfortzone und das thematisieren.“

Warum die Wut in „Wut“? Was man darin sieht und hört, ist eher die Vorstufe von Wut: Frust. Über zu viel Bürokratie, zu viele Probleme mit zu viel Zuwanderung, über Kürzungen bei der Förderung von Jugendkultur und Sport, über die zu schnelle Einordnungen von Unzufriedenen als „rechts“, das Gendern, die Klimapolitik, die Folgen der Preissteigerungen im Einkaufswagen und im Tank ... Was offenbar wird: Viele Menschen in der Provinz finden sich und ihre Anliegen in den großen Berliner Debatten nicht mehr wieder.

Wenn das Gegenüber es übertreibt, wird abgebrochen.

Die da reden, sind laut Matthias Schmidt „Menschen der Mitte“, sie tragen weder harte Tattoos noch Shirts mit Sprüchen an der Grenze zur Meinungsfreiheit oder dahinter, wie sie im Osten weit verbreitet sind. Man hört auch keine radikalen Sprüche. Was manchmal daran liegt, dass Matthias Schmidt abbricht, wenn sein Gegenüber zu heftig wird. Etwa bei einem Montagsdemonstranten in Dahme. Oder im Gespräch mit dem Organisator von „Leipzig steht auf“.

Als der ins Verschwörerische gleitet, würgt Schmidt ihn ab: „Da muss ich jetzt unterbrechen, ich weiß im Moment nicht, was ich dazu sagen soll.“ Dass so etwas Ausnahmeerscheinungen im Film bleiben, ist nicht zuletzt dem Konzept geschuldet. „Die Wut an den extremen Rändern ist nicht das Thema in unserem Film“, sagt Schmidt. „Wir waren nicht bei Pegida, nicht bei AfD-Demos oder deren Gegendemos.“

Ohnmachtsgefühl ist ein Bestandteil des Alltags

Von Reichsbürgern oder Freien Sachsen hätte er sicher Heftigeres zu hören bekommen, aber „sowas gibt es schon zur Genüge, das hat mich für diesen Film nicht interessiert. Ich wollte jene Wut dokumentieren, die für viele Menschen ein Bestandteil ihres Alltags ist.“ Was er ebenfalls dokumentiert: Die meisten seiner Protagonisten sind zwar erbost, halten ihre Wut aber im Zaum. Erst wenn sie das nicht mehr schaffen, wie der Redner auf der Montagsdemo in Dahme, erliegen viele den Lockungen des Radikalen. Und noch etwas fällt in "Wut" auf: Bis auf die Studentin sind alle Wütenden über 50. Ist die Wut im Osten vielleicht auch eine Generationenfrage?

Es ist Schmidt nicht immer leichtgefallen, sein Vorhaben „einfach reden lassen, nichts kommentieren“ durchzuziehen. Er schaffte es trotzdem. So hört man immer wieder: „Man darf ja nichts mehr sagen, sonst ist man ja gleich rechts.“ Was natürlich nicht stimmt, weiß Schmidt; „sie sagen es ja in meinem Film“. Die Klage „Niemand hört uns zu“ klingt nicht minder sperrig in den Ohren. Schließlich wurde niemandem seit Pegida so viel zugehört wie den „Wutbürgern“, was seither unter anderem Hunderte TV-Beiträge und noch mehr Bürgerdebatten zeigen.

Groß geworden mit der wirklichen Lügenpresse der DDR

Aber Schmidt widerstand den Versuchen des journalistischen Richtigstellens. Was ihm zwei große Vorteile einbrachte. „Eben deshalb haben die Leute so offen und ehrlich mit mir geredet, denn sobald man das Debattieren beginnt und widerspricht, kann das schnell wieder vorbei sein.“ Zudem lässt sich sein „Wut“ nicht als Beispiel heranziehen für den von vielen gefürchteten Bloßstellungsjournalismus.

„Niemand kann anhand unseres Films sagen: ,Schaut her, so sind sie, die Öffentlich-Rechtlichen, erst überreden sie euch, sich mit ihnen zu unterhalten, und dann stellen sie euch als Deppen hin’“, sagt Matthias Schmidt. Man dürfe auch nicht vergessen: „Viele Ältere im Osten sind groß geworden mit der wirklichen Lügenpresse der DDR. Das konserviert sich in einer gewissen Grundskepsis.“

Wenn die da oben machen, was wir hier unten wollen

Überhaupt sieht und hört man ihn im Film immer wieder, den langen Schatten der DDR. Daher rühre auch ein gewisses Missverständnis vom Wesen und Funktionieren der Demokratie her, sagt Steffen Mau im Beitrag. „Demokratie ist, wenn die da oben machen, was wir hier unten wollen“ – so fasst der Rostocker Soziologe die Sicht vieler Menschen zusammen. „Nützt mir das, dient das meinen Interessen – danach wird Politik oft beurteilt.“ Und: „Viele erwarten etwas von der Politik, wollen aber nicht wirklich mitmachen.“

Ist „Wut“ gelungen? Unbedingt. (Wage-) mutiger, ungefilterter, unkommentierter und damit authentischer lässt sich ein Beitrag über den Unmut im Osten kaum vorstellen. Das ist der Film vielleicht auch deshalb, weil sich die Frustration der Menschen auf viele Zuschauende übertragen dürfte: als Frustration angesichts dessen, was Matthias Schmidt da dokumentiert, ernst nimmt – und stehenlässt.

„Wut“ ist in der ARD-Mediathek abrufbar.