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Wie Walter Ulbricht sich zum obersten Herrscher der DDR aufschwang

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk legt den zweiten Band seines massiven Biografie-Projekts über den SED-Funktionär vor. Es geht um seine Jahre nach 1945.

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Walter Ulbricht, Staats- und Parteichef der DDR (3. v. l.), besichtigt während eines Besuches von Dresden im Dezember 1963 das Modell des Stadtzentrums. Nicht mehr auf dem Modell ist die Ruine der Sophienkirche, die bewusst abgerissen wurde.
Walter Ulbricht, Staats- und Parteichef der DDR (3. v. l.), besichtigt während eines Besuches von Dresden im Dezember 1963 das Modell des Stadtzentrums. Nicht mehr auf dem Modell ist die Ruine der Sophienkirche, die bewusst abgerissen wurde. © dpa PA (honorarpflichtig)

Von Mike Schmeitzner

Vor einem Jahr erschien der erste Band der Ulbricht-Biografie, die im Frühjahr 1945 endete. Anfang 2024 folgte nun der zweite Band, der mit 956 Seiten kaum weniger umfangreich ist als der Vorgänger mit 1.050 Seiten. Der zweite Band beleuchtet den Diktator Ulbricht, den die sowjetische Besatzungsmacht und Stalin überhaupt erst schufen. Für Kowalczuk ist Ulbricht daher ein „Diktator neuen Typs“, weil er sich nicht aus dem System heraus entwickelte, sondern von einer fremden Macht eingesetzt wurde. Schon zu Beginn benennt Kowalczuk ein für seine Biografie zentrales methodisches Problem: Wie kann man als Historiker über das Leben eines Diktators schreiben, der ein Land so lange geprägt hat, ohne gleichsam die Geschichte dieses Landes mitzuschreiben?

Der 1. Sekretär der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, bei einer seiner Reden in berüchtigtem Sächsisch.
Der 1. Sekretär der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, bei einer seiner Reden in berüchtigtem Sächsisch. © dpa

Seine Ankündigung „keine als Biografie verbrämte SBZ/DDR-Gesamtgeschichte“ kann er jedoch nicht einlösen. Denn unter der Hand weitet sich seine Biografie dann doch zur (kleinen) Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone/DDR, da Ulbricht von Anfang an der entscheidende Mann war und sich auch selbst als politischer Generalist betrachtete, der sowohl die Partei als auch Wirtschaft und Verwaltung des Landes neu zu gestalten versuchte. Hinzu kommt ebenfalls: Ulbricht personifizierte geradezu idealtypisch die marxistisch-leninistische Partei – als Parteiarbeiter, Funktionär, Parteichef und Führer einer Parteidiktatur. Eine strikte Trennung ist da kaum möglich.

Differenziertes Bild statt Legenden

Wie schon im ersten Band setzt sich Kowalczuk mit seinem Protagonisten sehr differenziert auseinander. Das schließt die kritische Thematisierung der westdeutschen Renegatenliteratur mit ein. Wolfgang Leonhards berühmter, Ulbricht zugeschriebener Satz „Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“ kann Kowalczuk ins Reich der Legende verweisen. Denn diesen Satz, der 1945 intern geäußert worden sein soll, hat Ulbricht so nie gesagt, auch wenn er als Leitlinie eine überparteiliche imaginierte, aber von der KPD gesteuerte Verwaltung in der SBZ ausgegeben hatte. Dass dieser Satz sogar von Historikern noch immer weiter kolportiert und als „Beweis“ für die geplante Sowjetisierung in Stellung gebracht wird, von manchen noch nicht einmal mit dem Hinweis auf Leonhards Buch, sagt mehr über den Umgang mit „Quellen“ als über Ulbricht selbst.

Dabei lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass Ulbricht der Diktaturdurchsetzer war und immer dann die Zügel anzog, wenn – wie Ende 1945 – die KPD doch nicht zur erhofften Mehrheitspartei avancierte. Die Einverleibung der SPD, die daraus folgte, beschreibt Kowalczuk differenziert. Scheinbar in Stein gemeißelte Begriffe wie „Zwangsvereinigung“ klopft er auf ihren realen Gehalt hin ab. Ohne den Begriff komplett in Frage zu stellen, weist er auch auf andere Komponenten hin, die nichts mit Druck, Nötigung und Zwang zu tun hatten, sondern auch mit Hoffnungen, Überzeugungen und (Selbst-)Täuschungen von Sozialdemokraten.

Während der Eröffnungssitzung des 7. SED-Parteitags am 17. April 1967 in Ostberlin applaudieren (l-r) das Mitglied des Zentralkomitees Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht und Ministerpräsident Willi Stoph. Honecker verdankte seinen A
Während der Eröffnungssitzung des 7. SED-Parteitags am 17. April 1967 in Ostberlin applaudieren (l-r) das Mitglied des Zentralkomitees Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht und Ministerpräsident Willi Stoph. Honecker verdankte seinen A © -

Dass es sich bei der SED-Gründung letztlich um die „Zerstörung der Sozialdemokratie in Ostdeutschland“ handelte, macht er jedoch klar, ebenso die Tatsache, dass diese Gründung der „Einsicht der Kommunisten“ folgte, „nur einen Teil Deutschlands beherrschen zu können“. Erfreulich ist, dass Kowalczuk den von Ulbricht und der KPD/SED betriebenen Diskurs über Diktatur und Demokratie ernst nimmt und eingehend analysiert. Was viele bei ihrer posthumen DDR-Zuschreibung gar nicht bemerken: Die DDR hat sich selbst als Diktatur und Demokratie begriffen – nämlich zugleich als „Diktatur des Proletariats“ und als „sozialistische Demokratie“. Für Ulbricht und die SED war das kein Widerspruch, sondern ein dialektischer Zirkelschluss, auch wenn für sie die Klassendiktatur (wie schon bei Lenin) nur eine Parteidiktatur sein konnte. Ulbricht hat auf dieser Klaviatur geschickt gespielt und wohl in der Frühzeit der SBZ selbst noch an eine „Diktatur der Mehrheit“ für die KPD/SED geglaubt.

Kowalczuks Darstellung folgt seinem Protagonisten chronologisch bis an sein Lebensende 1973. Da ist es vorprogrammiert, dass viele Stationen und Zäsuren, die er beschreibt, dem Leser schon vertraut sind. Ulbricht war von Anfang an der „starke Mann“ der KPD/SED, auch wenn zunächst andere – wie Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl – im Vordergrund standen und in den ersten Jahren als Präsident und Ministerpräsident scheinbar mehr Macht in den Händen hielten. Doch Ulbricht dirigierte als Stalins Vertrauter zunächst aus der zweiten Reihe – als Parteistellvertreter, dann als SED-Generalsekretär und stellvertretender Ministerratsvorsitzender. Nach Piecks Tod 1960 vereinte er die höchsten Partei- und Staatsämter in seiner Hand, jetzt vor allem den Vorsitz des (neu geschaffenen) Staatsrates der DDR.

Nach 1961 profilierte er sich als Wirtschaftsreformer,

Auch in seiner tiefsten Krise – nach dem 17. Juni 1953 – vermochte sich Ulbricht virtuos zu behaupten. Neben der Abrechnung mit Aufständischen und Parteikonkurrenten intensivierte er die Sozialpolitik und ließ der eben noch revoltierenden Arbeiterschaft mehr Freiräume. Im Zweifel aber konnte er die Zügel wieder hart anziehen – so wie im August 1961. Nach dem Mauerbau profilierte sich Ulbricht als Wirtschaftsreformer, emanzipierte sich immer mehr von Moskau und düpierte gar Leonid Breshnew.

Kowalczuk zeigt, wie Ulbrichts Reformpolitik in der Wirtschaft Mitte der 1960er-Jahre seinen Zenit erreichte, weil Pläne für mehr betriebliche Autonomie mit der Planbürokratie im Ganzen und mit der Limitierung der sowjetischen Rohstofflieferungen kollidierten. Und wie sein politischer Ziehsohn Erich Honecker ihm seitdem immer gefährlicher wurde und Kontrahenten im Politbüro gegen ihn sammelte. Honecker startete da, wo Ulbricht zwanzig Jahre vor ihm gestartet war: als Handlanger sowjetischer Politik. Und in dieser Rolle gelang es Honecker auch, Ulbricht zu entmachten.

Als Privatmensch ziemlich blass

Kowalczuks Versuch, Ulbrichts Innenleben quasi „aufzuschließen“, ist nicht wirklich von Erfolg gekrönt, was aber weniger am Autor liegt. Der Mann dreier Frauen und Vater mehrerer Kinder bleibt auch als Privatmensch ziemlich blass. Zwar zitiert der Autor viele Quellen über Personenkult, über kursierende Witze, Satiren und Briefmarken. Doch sind Quellen über den „inneren“ Ulbricht rar. Besonders tragisch erscheint das Schicksal seiner Tochter Beate, deren Leben von den Eltern überreglementiert wurde. Sie fiel zudem einer Gruppenvergewaltigung zum Opfer, die wohl auch den Vater treffen sollte.

Näher rückt uns Ulbricht als Geschichtspolitiker. Der Diktator sah sich selbst als „Historiker im dritten Beruf“. Er scheute nicht vor persönlichen Eingriffen zurück und veröffentlichte eine von ihm herausgegebene achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Geschichte hatte ihn schon als Heranwachsenden interessiert; als Diktator diktierte er nun die Geschichtspolitik der SED. Und schließlich war da noch das große Interesse an Kybernetik, mit deren Anwendung er sich enorme Fortschritte bei seinen Wirtschaftsreformen und der Gestaltung des Sozialismus erhoffte.

Wer will 2.000 Seiten lesen?

Auch wenn der Autor am Ende seines eindrucksvoll und akribisch recherchierten Bandes darüber sinniert, lange genug über Ulbricht geforscht zu haben, sollte er noch einmal über einen „Nachschlag“ nachdenken. Denn wohl die wenigsten Interessierten werden wirklich 2.000 Seiten lesen (wollen). Aber ein 250 bis 300 Seiten umfassendes Werk, das sich weniger an einer lebensgeschichtlichen Chronologie, sondern an Schwerpunktthemen orientiert (etwa am Autodidakten, Parteiarbeiter, Privatmann, Geschichtspolitiker, Parteiführer, Diktator, Wirtschaftsreformer und einem Diktatorenvergleich), hätte hätte Potential gerade für den Kreis, auf den sich Kowalczuk zumeist beruft: für junge Interessierte und Studierende.

Und Kowalczuk befände sich in bester Gesellschaft: Noch Hans-Ulrich Wehler ließ aus dem vierten Band seiner voluminösen Gesellschaftsgeschichte den Teil zum Nationalsozialismus herauslösen und nach einer Überarbeitung als eigenes Buch erscheinen. Und zwar im selben Verlag.

Ilko-Sascha Kowalczuk: Walter Ulbricht: Der kommunistische Diktator, Beck-Verlag, 956 Seiten, 58 Euro