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Feuilleton

Furiose Kamenzer Rede von Starschriftsteller Clemens Meyer

Der Autor erklärt, warum er keine Meinung mehr haben will.

Von Karin Großmann
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Clemens Meyer im Rathaus von Kamenz, als er den Lessing-Preis erhielt.
Clemens Meyer im Rathaus von Kamenz, als er den Lessing-Preis erhielt. © Matthias Wehnert

Clemens Meyer hat sein Wigwam in Kamenz aufgeschlagen. In der Museumskirche St. Annen will er über Indianer in Sachsen sprechen, über „Mythen und Albträume“. Gleich am Anfang lässt er einen perlenbestickten Mann mit schwarzem Langhaar durch das Zentrum von Zagreb schreiten. Dieser trägt ein Band aus Schlangenleder um die bronzefarbene Stirn. Der Anblick ist eine Sensation im Jahr 1962. Die Einwohner sind aus dem Häusel. Sie umringen den Fremden. Sie singen die Internationale. Sie beschützen ihn, als ein Kleinbus mit Polizisten auftaucht. Niemand bemerkt das Filmschild im Busfenster. Es hat sich noch nicht herumgesprochen, dass die Deutschen in der Nähe einen Western drehen.

Mit diesem fein geschliffenen Prolog gibt der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer einen Vorgeschmack auf den Roman, der im nächsten Herbst erscheinen soll. Zagreb, Novi Sad und andere Orte in Ex-Jugoslawien spielen eine Rolle darin. Ein Doktor Karl May gehört zu den Hauptfiguren. May und Meyer, das ist mehr als Namensverwandtschaft. Das ist Geistesverwandtschaft. Kein Wunder, dass der eine Schriftsteller den andern verteidigt gegen Vorwürfe des Zeitgeists. Es sei bizarr, darüber zu urteilen, wie in der Vergangenheit hätte geschrieben werden müssen.

Das Mäntelchen von Karl May

„Kulturelle Aneignung in der Literatur, was soll denn das sein?“, fragt Clemens Meyer empört. Wenn jeder nur noch von sich berichte, wie man es gerade in der Vielzahl autofiktionaler Romane erlebe, sei das Ende der Literatur erreicht. Die Zeit der großen Literatur sei ohnehin vorbei. Dennoch plädiert der 46-Jährige leidenschaftlich für Poesie als Grundnahrungsmittel, für die Fiktion: Karl May schieb über Indianer, ohne sie gesehen zu haben – ja und? „Er war ein Märchenerzähler!“, sagt Clemens Meyer. Dieses Mäntelchen legt er sich an diesem Abend in Kamenz nur zu gern um.

Hat er wirklich Reden geschrieben für hiesige Politiker, wie er behauptet? Er habe sich endlos wiederholen dürfen, erzählt er grinsend den „lieben Freunden des sächsischen Königshauses“, und es habe auch nicht gestört, dass die Meinung von heute der von gestern entgegenstand. Die „Wendehalsereien im ewig gleichen Duktus“ passen freilich gar nicht zu ihm. Staatsmännischen Ernst kann man ihm kaum nachsagen. Lieber spielt er den Schelm. Er zitiert den chilenischen Autor Omar Saavedra Santis, der 1973 seine Heimat verlassen musste und in der DDR zu schreiben begann: „Die katastrophale Humorlosigkeit hat den deutschen Sozialismus kaputtgemacht.“ Im Übrigen habe der Chilene schon früh den Rassismus im Land erlebt und durchschaut.

Was nur Sam Hawkins gestattet ist

Die Begeisterung für Indianer-Filme und -Bücher konnte den Rassismus nicht verhindern. „Wann begann das zu kippen, dass das Fremde abstößt?“, fragt Clemens Meyer. Die Sachsen verstünden sich nicht mal untereinander. „Das Land lässt sich nicht mehr zusammenhalten.“ In Thüringen laufe es kaum besser. Als Beispiel nennt er Nordhausen. Ein AfD-Kandidat führt den Kampf um das Oberbürgermeisteramt an. Aus den realen Namen der Bewerber Trump, Marx und Prophet muss ein Schriftsteller wie Meyer Funken schlagen. Und in einer atemberaubenden Volte spottet er über den allgegenwärtigen Zwang zum Meinunghaben, über Meinungsabsolutismus und Meinungsparasiten. „Der Sprachraum ist angstgeschrumpft.“ Er sei zum Albtraum geworden. Denn nur dem Westmann Sam Hawkins sei es noch gestattet, zu sagen: „Wenn ich mich nicht irre …“ Sonst aber sei Irrtum ausgeschlossen. Mitteilungsagenten wachten darüber. Deshalb könne er keine Meinung haben und auch keine Rede halten, so Meyer.

Das aber kann der Nicht-Redner sehr amüsant. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen. Erzählt von der Zecke, die ihn möglicherweise biss, und von dem italienischen Politiker, der die Menschenretterin Carola Rackete ungestraft „eine deutsche Zecke“ nennen darf. Gräbt einen DDR-Song aus über Gojko Mitic, „Ein Wigwam steht in Babelsberg …“, und singt die selbst erfundene Melodie ins bestens gefüllte Kirchenschiff. Zitiert aus Reden, die andere vor ihm dort hielten, Autoren wie Sten Nadolny, Jörg Bernig, Hans-Eckardt Wenzel. Doch so doppelsinnig, so heiter und verzweiflungsvoll zugleich wie die zehnte Kamenzer Rede von Clemens Meyer waren wenige. „Die Wahrheit liegt im Abgrund“, sagt er.