Großenhain. Im Katalog steht „anonym“. Aber die Insider wissen, dass es Mike Pätzold war, der 1988 an ein Haus am Walkdamm Ecke Wiesenweg das erste Großenhainer Graffiti „Hot Love“ (heiße Liebe) malte. Es sollte ein pubertäres Aufbegehren gegen die Trägheit der damaligen Zustände sein. Und der Witz war: In dem Haus wohnte ein Ehepaar, das sich ständig stritt. Der Volkspolizist, der das unerlaubte Bild als Erster entdeckte, soll gefragt haben, was das heißt. Des Englischen war er wohl nicht mächtig.
So ungewöhnlich wie die Geschichte der Kunstart in der Stadt begann, so setzt sie sich bis heute fort. Das Museum Alte Lateinschule zeigt mit seiner Sonderausstellung „35 Jahre Graffiti in Großenhain“ die ganze Breite der Zeichnungen, die in der Stadt entstanden und längst nicht mehr alle existieren. Tatsächlich gab und gibt es auch hier viel Unverständnis zu „diesem Geschmiere“. Aber zum einen ist die künstlerische Graffitiszene inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen, was auch die entspannte Ausstellungseröffnung draußen auf dem Kirchplatz bewies.
Zum anderen sind die Akteure von damals heute gestandene Künstler, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen: Sebastian Bieler, Dirk Jung, Hartmut Friedrich-Pfefferkorn und Tillmann Richter. Wie diese „Unicrew“ ab Mitte der 90er Jahre sich an Gebäuden wie dem Conny-Wessmann-Haus, der Bunten Fabrik, am Runden Würfel oder auch an der Straßenmeisterei Hohe Straße mit Dosen verwirklichte, ist sehr anschaulich in der Ausstellung zu sehen.
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Sowohl Jan Dingfelder in Vertretung von Streetworker Raimo Siegert als auch Uwe Naumann, früherer Leiter des SkZ Alberttreff, erinnern sich noch gut an das Jahr 2000 und den späteren Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde. Rund 200 Sprayer bemalten damals die damalige Wand am Flugplatz auf einer Länge von fast 1.000 Metern. Dafür wurde sogar die B101 mehrere Tage gesperrt - heute undenkbar. Im Baustoffhandel Witschel am Flugplatz fand ein großes Hip-Hop-Event statt. Die Vorbereitung war langwierig - und man musste sich gegen die Skepsis vieler durchsetzen. Die große Angst war, „dass dann die ganze Stadt vollgeschmiert wird“, so Uwe Naumann. Damals ist das nicht passiert.
Stattdessen wurde Graffiti zum Markenzeichen bei Workshops wie dem „KreaTiefgang“, bei den Jugendprojekten in den Tunneln, am Gesellschaftshaus, am Busbahnhof oder der Trendsporthalle. „Aktuell gibt es 25 künstlerische Graffiti-Objekte in der Stadt“, sagt Sebastian Bieler. Er fügte am Freitagabend ein weiteres spektakuläres hinzu: Er besprühte als Live-Event einen Granitblock von Grafe Beton vor dem Museum mit dem Ausstellungstitel. Wer sich diese Erfolgsgeschichte mit nach Hause nehmen will, kann gegen eine Spende den Katalog zur Ausstellung erhalten. Er wurde auch am Sonnabend bei der Graffiti-Party am Alberttreff angeboten. Hier bekam eine von der Bahnlinie aus gut sichtbare Wand ein ganz neues Aussehen. Und Kinder konnten mitmachen - die nächste Generation wächst heran.
- Bis 4. November am Kirchplatz 4, mit Begleitprogramm