Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
SZ + Görlitz

Zweitgrößte US-Tageszeitung zeichnet fatales Görlitz-Bild

Das Wall Street Journal ging dem Erstarken der AfD in Ostdeutschland nach und besuchte dafür Görlitz. Wie umgehen damit, dass eine Stadt als Negativbeispiel in der Welt steht?

Von Susanne Sodan
 7 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Mit diesem Foto von der Görlitzer Montagsdemonstration, die den AfD-Landtagsabgeordneten Sebastian Wippel (hinter dem Banner 2. v. re.) zeigt, machte das Wall Street Journal seinen Bericht über Görlitz auf.
Mit diesem Foto von der Görlitzer Montagsdemonstration, die den AfD-Landtagsabgeordneten Sebastian Wippel (hinter dem Banner 2. v. re.) zeigt, machte das Wall Street Journal seinen Bericht über Görlitz auf. © Screenshot Wall Street Journal (wsj.com)

Das Bild kennen viele Görlitzer: Durch die Weberstraße in der Altstadt zieht ein Demonstrationszug. Einige Teilnehmer tragen Banner vor sich her. So wie Sebastian Wippel, AfD-Stadtrat und Landtagsabgeordneter. Mit drei weiteren Personen hält er ein Transparent, auf dem steht "Panzer schaffen keinen Frieden", und "Unser Land zuerst". Hinter ihm sind Frauen und Männer mit Trommeln und Pfeifen zu erkennen und weitere Banner.

Das Foto entstand vor drei Wochen auf der Montagsdemo in Görlitz. Eine Reporterin und eine Fotografin waren für das Wall Street Journal dabei. Vorige Woche erschien der Beitrag: "Einst durch seine Nazi-Vergangenheit geimpft, beherbergt Deutschland wachsende rechtsextreme Strömungen".

In einer ersten Version sprach das WSJ sogar davon, Deutschland entwickle sich zu einer Hochburg der extremen Rechten. Ein Beitrag, der Auswirkungen hat in Görlitz, sagt der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU): "Wir erhalten aktuell vermehrt Anfragen überregionaler Medien, die sich auf die Inhalte dieses Artikels beziehen."

Octavian Ursu ist seit 2019 Oberbürgermeister von Görlitz. Er sagt, vom ersten Tag an habe er sich um ein gutes Image für Görlitz bemüht. Das jetzt angekratzt ist.
Octavian Ursu ist seit 2019 Oberbürgermeister von Görlitz. Er sagt, vom ersten Tag an habe er sich um ein gutes Image für Görlitz bemüht. Das jetzt angekratzt ist. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Freude bei Montagsdemo über internationale Zeitung

Es geht in erster Linie um die AfD, die, obwohl sie immer radikaler wird, vor allem in Ostdeutschland immer mehr potenzielle Wähler hinter sich vereinigen kann. Es geht um die Auswirkungen, etwa im politischen Diskurs. Sebastian Wippel kommt zu Wort und beklagt, so weit wie die AfD in der Gesellschaft verbreitet ist, sei die Art und Weise, wie die Presse über sie berichtet, nicht mehr zutreffend. Nazi-Sympathisanten seien ausgeschlossen worden. Auf der anderen Seite fasst der Mainzer Politikwissenschaftler Kai Arzheimer zusammen: „Man könnte sagen, dass dies ein Moment der Wahrheit ist, denn wir haben jetzt eine Partei im nationalen Parlament, die offen für die Zusammenarbeit mit denen ist, die die Demokratie abschaffen wollen.“

Um den Zulauf zur AfD zu ergründen, begleitete das WSJ die Montagsdemo vor drei Wochen. Ganz international sei man aufgestellt, freute sich einer der Organisatoren, Burkhard Hasenfelder. "Die könnt ihr ruhig nett behandeln", ließ er die Teilnehmer wissen, als sei das keine Selbstverständlichkeit. So hatte die Reporterin die Möglichkeit, Stimmen von der Demo einzufangen, an der in den vergangenen Wochen laut Polizei zwischen 220 und 390 Personen teilnahmen.

Die AfD spreche Dinge aus, die andere nicht sagen würden, wird ein ehemaliger Polizist zitiert. Die Renten, erzählt er, würden mit der Inflation nicht mithalten, er könne sich Urlaub und manche Lebensmittel nicht mehr leisten. Keine rechtsextreme Aussage, sondern eine Sorge vieler.

Doch da sind auch die Stimmen, die behaupten, Migranten seien für die Kriminalität verantwortlich. Ein Demonstrant macht Migranten und den Krieg in der Ukraine dafür verantwortlich, dass Gelder verschwendet würden, die seiner Meinung nach vor Ort ausgegeben werden sollten. Muslime würden Deutschland unterwandern wollen. Migranten sollen zurückkehren, wo sie hergekommen sind - auch solche Sätze hörte die Reporterin. Oder auch Verteidigungen für Wladimir Putin. Auch die Banner, auf denen zum Beispiel ein Austritt aus der EU, Nato und WHO gefordert wird, sind der Reporterin aufgefallen.

OB: "Nicht die Lebenseinstellung der Mehrheit"

Oberbürgermeister Octavian Ursu sagt: "Ich bin vor allem der Meinung, dass der Beitrag nicht die Europastadt Görlitz/Zgorzelec zeigt". Der Artikel sei eine Momentaufnahme, die zwar die Realität rund um die Demonstration am Montagabend spiegele, nicht jedoch die Lebenseinstellungen der Mehrheit der Görlitzer.

Seit Jahrzehnten hat sich Görlitz den Ruf als Görliwood erarbeitet, erst dieser Tage wurde für den dritten Teil des Films "Die Schule der magischen Tiere" gedreht. Tourismus ist für die Stadt mit ihren Bauwerken aus fünf Jahrhunderten, ein wichtiges Standbein. Seit einigen Jahren versucht sich Görlitz, als Wissenschaftsstandort zu etablieren. Casus, Senckenberg, das Deutsche Zentrum für Astrophysik - sie alle kooperieren mit internationalen Einrichtungen, sind auf internationale Mitarbeiter angewiesen.

Seit 2019 gibt es das Casus-Institut in Görlitz und ist seither deutlich gewachsen. Das Foto entstand bei einem Termin in einem Zusatz-Gebäude.
Seit 2019 gibt es das Casus-Institut in Görlitz und ist seither deutlich gewachsen. Das Foto entstand bei einem Termin in einem Zusatz-Gebäude. © Martin Schneider

Beim Casus-Institut für datenintensive Systemforschung, das zum Helmholtz-Institut in Dresden-Rossendorf gehört, arbeiten allein Forscher aus rund 20 Nationen zusammen, sagt Casus-Sprecher Martin Laqua. "Görlitz hat sich in den vergangenen Jahren hervorragend entwickelt und ist in der deutschen Forschungslandschaft deutlich sichtbar", schätzt er ein. Das zeige sich etwa in der Zahl und Qualität der Bewerbungen. Und die Görlitz-Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland seien fast ausschließlich positiv. Er habe den Eindruck, auch die große Mehrheit der Stadtgesellschaft sehe die zugezogenen Forscher als Bereicherung für Görlitz.

Forschung und Tourismus: Außenbild wichtig

Der Beitrag im Wall Street Journal sei ihm bislang nicht bekannt gewesen, erzählt Martin Laqua. "Das Thema ist aber für uns auf jeden Fall relevant. Das Außenbild von Görlitz und Gesamtdeutschland hat Einfluss auf die Entscheidung hoch qualifizierter Menschen, hier zu leben und zu arbeiten."

Zuständig für Wirtschafts- und Tourismusförderung in Görlitz ist die Europastadt Görlitz/Zgorzelec GmbH (EGZ). Deren Chefin Eva Wittig freut sich in der Regel, wenn Görlitz in überregionalen oder gar internationalen Medien auftaucht. Eine ganze Reihe positiver Görlitz-Berichte schickt sie an die SZ. "Investoren, Filmschaffende, Gäste und auch potenzielle Neubürger für Görlitz – jeweils aus der ganzen Welt – brauchen eine grundsätzliche Offenheit und Willkommenskultur", schätzt sie ein. Bisher sei es ganz gut gelungen, dies umzusetzen, zu transportieren und so auch Fürsprecher für die Stadt zu gewinnen. "Das zeigt sich in den Statistiken", so Eva Wittig, und verweist auf touristische Übernachtungszahlen, Beschäftigungszahlen, die Einwohnerzahlen, die zuletzt stiegen. Zu einem großen Teil durch ukrainische Geflüchtete.

Eva Wittig ist seit Anfang 2022 Geschäftsführerin der Europastadt Görlitz/Zgorzelec GmbH, bei der die Wirtschafts- und Tourismusförderung der Stadt gebündelt ist.
Eva Wittig ist seit Anfang 2022 Geschäftsführerin der Europastadt Görlitz/Zgorzelec GmbH, bei der die Wirtschafts- und Tourismusförderung der Stadt gebündelt ist. © Martin Schneider

Nun ein Artikel, der einen ganz anderen Part von Görlitz zeigt. Eva Wittig scheint angefasst davon. Der WSJ-Beitrag zeige ein sehr einseitiges Bild von Ostdeutschland und auch Görlitz, kritisiert sie. "Wir hatten leider mit der Journalistin zum Zeitpunkt der Recherche keinen Kontakt."

Nur, das WSJ ist einem bestimmten Thema nachgegangen, der Frage warum die AfD an Stärke gewinnt. Und Görlitz sahen sie als Stadt, die Antworten bot. Eine Stadt, in der seit inzwischen nun drei Jahren Montagsdemonstranten auf dem Postplatz stehen und dann durch die Straßen im Zentrum ziehen. Darunter mit Sicherheit Menschen, die Gründe für ihre Unzufriedenheit haben. Doch sie gehen Seit an Seit mit dem rechtsextremen Spektrum: An diesem Montag zum Beispiel stand Stefan Hartung (NPD, Freie Sachsen) auf der Redner-Bühne.

Hat Görlitz seinen Ruf längst weg?

Zu all dem kommt die Reichweite des Wall Street Journals. 1889 als Tageszeitung für Wirtschafts- und Finanzthemen gegründet, ging das Blatt 2007 in das Medienimperium von Rupert Murdoch über, zeigte sich in den vergangenen Jahren eher Trump-freundlich. Dennoch, das WSJ ist auflagenstark - die zweitgrößte Zeitung in den USA - und "durchaus auch meinungsbildend", schätzt Kerstin Klein, ARD-Korrespondentin in Washington, ein. "Es wird von vielen Entscheidern gelesen, vor allem im konservativen Lager und in der Finanzwelt."

Ob das Bild, das Görlitz nun nach außen zeigt, tatsächlich Auswirkungen haben kann auf das Interesse von Investoren, Wissenschaftlern, Filmschaffenden? "Das ist bereits Realität", sagt Octavian Ursu - jemand, der das Demonstrationsrecht sehr hoch hält. Inzwischen erhalte er jedoch nahezu täglich Anrufe, E-Mails und Briefe "oder werde direkt darauf angesprochen. Vermehrt auch von Menschen, die bereits in unserer Stadt leben und arbeiten und sich Sorgen machen."

Und doch, er glaube an die Europastadt und die Region als lebens- und liebenswert, als Wirtschafts- und Forschungsstandort mit Perspektive. Eva Wittig hat jetzt die Journalistin Elizabeth Findell vom Wall Street Journal zu einem zweiten Besuch eingeladen, um "auch andere Entwicklungen und Facetten der Stadt zu zeigen".