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SZ + Görlitz

Sicher vor Bomben - doch in Gedanken in der Ukraine

Ein Pflegedienst hat die Familie einer ukrainischen Mitarbeiterin in den Kreis Görlitz geholt. Als Held will sich der Geschäftsführer nicht sehen - er warnt vor Katastrophentourismus.

Von Susanne Sodan
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Inna, Anja und Valeriya, die schon länger in Deutschland lebt, zusammen in Bad Muskau.
Inna, Anja und Valeriya, die schon länger in Deutschland lebt, zusammen in Bad Muskau. © SZ/sdn

Sascha wollte bald nach Krakau fahren. Der Elfjährige spielt Fußball und diesen März stand ein Spiel gegen eine Krakauer Mannschaft an. Alexej, 15 Jahre, tanzt sehr gut. Sein Verein hat bei einem Wettbewerb eine Reise nach Bulgarien gewonnen. Nichts davon wird sein. Die beiden Jungen gehören zu einer Gruppe ukrainischer Menschen, die am Montag aus ihrer Heimat flohen. Nun sind sie in Bad Muskau.

Von Detonationen aufgewacht

Beim Pflegedienst "Familienunternehmen Kunze", der zwischen Görlitz und Weißwasser tätig ist, arbeiten fünf Mitarbeiter, die aus der Ukraine stammen. "Wir haben sie gefragt, ob wir etwas tun können für ihre Familien in der Ukraine", ob sie sie holen sollen von der ukrainisch-polnischen Grenze, erklärt Geschäftsführer Mathias Krause. Zunächst lehnten alle ab. Auch Valeriya Poetschke, die seit 2019 bei Kunze arbeitet, wollte eigentlich alleine fahren. Zur Grenze, wo sie ihre Schwester und eine gute Freundin mit ihren je zwei Kindern einladen wollte.

Inna heißt die Schwester, Anja die Freundin. Beide haben zwei Kinder, Andrij und Sascha, Alexej und Mark. Sie wohnen auf der gleichen Straße in Luzk, kennen sich schon lange. Der Westen der Ukraine gilt noch als halbwegs sicher. Aber in Luzk im Nordwesten gibt es eine Fabrik für Teile von Militärflugzeugen. Offenbar eines der ersten Ziele des russischen Angriffs am frühen Morgen des 24. Februars.

"Wir wohnen etwa sieben Kilometer von der Fabrik entfernt", erzählt Inna. Doch die Detonationen waren bis in ihre Wohnung zu spüren. So, dass man davon wach wurde. "Wir sind heruntergerannt, um nachzusehen", erzählt Inna. Dass Russland in die Separatistengebiete im Osten der Ukraine einmarschieren, dort etwas passieren könnte, damit hätten sie gerechnet. Aber nicht mit dem Angriff auf das ganze Land. "Wir konnten es nicht glauben", sagt Inna. "Wir haben auch Verwandte in Russland und auf der Krim", erzählt ihre Schwester Valeriya. "Die Bevölkerung will diesen Krieg nicht", ist sie überzeugt.

Es ist keine Schule - es ist Krieg

Am Donnerstagmorgen haben sich die Kinder noch zur Schule fertig gemacht, Erwachsene für die Arbeit. Bis es hieß, es ist keine Schule. Es ist Krieg. Jetzt sei sie in Sicherheit, sagt Inna. Doch die Gedanken sind in Luzk. Bei ihren Männern, die nicht ausreisen dürfen, bei anderen Verwandten, bei Freunden, die bleiben mussten oder wollten. Bei denen, die Sandsäcke füllen und mit anderen Dingen Barrikaden bauen, so wie sie es selbst bis vor wenigen Tagen gemacht haben, erzählen Inna und Anja.

Gehen oder bleiben - es war schwer. Die Eltern der Schwestern Valeriya und Inna haben sich fürs Bleiben entschieden. Sie haben einen kleinen Hof. Der Vater ist außerdem schwer krank. Es gibt drei Heugabeln auf dem Hof. Einen werde man damit schon erwischen, wenn russische Soldaten auftauchen, habe der Vater gesagt. Die Möglichkeit, die sich Valeriya ihrer Schwester und ihrer Freundin bot, die Kinder, das Schwinden der Hoffnung, dass es bald vorbei sein könnte, brachten die Entscheidung.

Gehen oder bleiben - Zerrissenheit

Die Zerrissenheit merkt man Inna besonders an. Wenn das Familienunternehmen Kunze noch einmal an die Grenze fährt, sagt sie, dann fährt sie mit, dann geht sie zurück. Das werden wir verhindern, sagt Mathias Krause leise.

Am Sonntagvormittag hat Valeriya Poetschke ihren Chef angerufen, nach medizinischen Utensilien gefragt, die sie mitnehmen könnte. Das Unternehmen tat viel mehr. Es belud einen Transporter mit Verbandsmaterialien von dem Gesundheitsdienst von Henning Scheinpflug in Görlitz, dem Sanitätshaus von Falk Herzig in Weißwasser, der Feuerwehr Niesky. "Das lief über das Koordinationsbüro von Franziska Schubert in Görlitz", erklärt Mathias Krause.

Unternehmer warnt vor Kriegstourismus

Ohne Vorbereitung gehe es nicht. Mathias Krause will zu der Aktion nicht viel erzählen. Er fürchtet, es könnte ein falsches Bild entstehen von der Lage an der polnisch-ukrainischen Grenze. Dass es zu Katastrophentourismus kommen könnte. "Auch wenn es noch so gut gemeint ist, Sie können nicht einfach so losfahren, und irgendwas an der Grenze abladen."

Es laufe alles sehr organisiert ab. Auch wenn wenig Zeit war, so hatte auch das Familienunternehmen Kunze vorab Kontakt zu ukrainischen Helfern geknüpft. "So wussten wir, dass jemand dort auf uns wartet, unsere Hilfsmittel entgegennimmt und zu einem Militärkrankenhaus in der Ukraine bringt." Von Hilfsbereitschaft will er natürlich nicht abraten. Er rät aber, sich unbedingt an die zuständigen Stellen zu wenden wie die Koordinationsstelle der Bündnisgrünen oder das DRK. "Die wissen, was gebraucht wird."

Unbezahlbare Kollegen

Am Montagmorgen fuhren der Kunze- und der Scheinpflug-Transporter los nach Polen und zur Grenze. Einige Mitarbeiter, die etwa Polnisch sprechen, Unternehmenschef Daniel Kunze und Mathias Krauses Vater fuhren mit. Von der Hilfsbereitschaft ihrer Kollegen ist Valeriya Poetschke überwältigt. Sie wäre auch alleine gefahren - aber dass Kollegen mitkamen, ihr Rückhalt gaben, wird sie ihnen nicht vergessen. Engel, die doch jemand geschickt haben müsse, nennt Valeriya alle Helfer. Die beiden Transporter fuhren zu einem Grenzübergang im Norden Polens, "fast in dem Dreieck zwischen Ukraine, Polen und Belarus", erklärt sie. Belarus ist zwar kein aktiver Kriegsteilnehmer, gilt aber als russischer Verbündeter. Nervös sei sie gewesen die ganze Zeit.

Den Grenzbereich erreichten sie gegen 18.30 Uhr am Montag. Mit ihrem Hilfsmaterial seien sie relativ schnell vorangekommen. "Wir wurden dann sogar von der Polizei eskortiert", erzählt Valeriya Poetschke. Auf der anderen Seite warteten zusammen mit Inna, Anja und den Kindern ebenfalls zwei Transporter einer Hilfsorganisation. Nach dem Umladen ging es für eines der Görlitzer Fahrzeuge mit den ukrainischen Familien zurück. Erstmal weg von der Grenze, erstmal ein Stück rein nach Polen. Erst mal was essen, erst mal schlafen. In der Nacht zum Montag ging in Luzk sechsmal der Fliegeralarm los. Aber auch ohne Alarm schlafen ist schwer geworden.

Schlafen auch ohne Fliegeralarm schwer

Der zweite Transporter und einige Mitarbeiter blieben noch eine Weile. "Wir wollten nicht leer hinfahren und auch nicht leer zurückfahren", erklärt Mathias Krause. Bei den Helfern vor Ort und der Verwaltung fragten sie, ob jemand nach Deutschland mitfahren wolle, der nicht abgeholt wird: Nataliia und ihre beiden Kinder. Sie war schon länger auf der Flucht, seit 22. Februar. Sie kommt aus der Ostukraine.

Ihren ältesten Sohn, über 18 Jahre alt, konnte sie nicht mitnehmen. Er musste sich bei der ukrainischen Armee melden. "Ich habe ihm noch die Militärausrüstung gekauft." Mit den beiden jüngeren Kindern nach Westen, schlafen bei Freunden, weiter nach Westen, "nur noch weg." Und in Gedanken dennoch da. Noch sind die Verbindungen zumindest nach Luzk nicht gestört. So viel wie möglich nutzen Inna, Anja und Nataliia und die Kinder das nun. Bald zurück - die Hoffnung aller.