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Ärztemangel in Görlitz: Patienten stehen ab 5.30 Uhr Schlange bei neuer Ärztin

Eine neue Hausärztin eröffnet eine Praxis - und tagelang stehen Görlitzer morgens Schlange. Eine Situation, die einen 66-Jährigen fast dazu brachte, Görlitz den Rücken zu kehren.

Von Susanne Sodan
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Hausarztsuche mit Kamera-Begleitung: Die Warteschlangen vor einer neuen Hausarztpraxis in Görlitz haben über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Hausarztsuche mit Kamera-Begleitung: Die Warteschlangen vor einer neuen Hausarztpraxis in Görlitz haben über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit auf sich gezogen. © SZ/sdn

Mit einem Klappstuhl unter einem Arm und einem kleinen Kärtchen in der Hand verlässt eine Frau um die 50 am Donnerstagmorgen den Demianiplatz in Görlitz. Sie hat es geschafft, sie hat einen Termin für die Patientenaufnahme bei Dr. Ines Sperling bekommen, die am Montag eine neue Hausarztpraxis in Görlitz eröffnete - begleitet seither von morgendlichen Warteschlangen vor der Eingangstür.

Neue Ärztin rechnete mit Ansturm

Vielleicht nicht ganz so heftig, aber mit Ansturm hatten sie gerechnet, sagt Ulrich Ebermann, Ines Sperlings Ehemann. Als vor zwei Jahren eine Hausärztin in Niesky ihre neue Praxis eröffnete, standen Interessenten gar schon nachts Schlange. Die Lage ist seither nicht besser geworden. Laut Daten der Kassenärztlichen Vereinigung vom Juli sind in Görlitz und Umland 11,5 Hausarzt-Stellen unbesetzt, es fehlt das Personal. Außerdem, erzählt Ebermann, werden wahrscheinlich bald zwei weitere Ärzte in Görlitz und dem näheren Umland in Ruhestand gehen. "Da können wir nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein."

Ulrich Ebermann arbeitet nicht im Gesundheitswesen, aber er hilft seiner Frau seit Montag, den Ansturm potenzieller Patienten in einigermaßen geregelte Bahnen zu bekommen - oder auch Presseteams Rede und Antwort zu stehen. Die prekäre Hausarztlage in Görlitz hat über die Stadtgrenze hinaus Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Inzwischen hat sich am Demianiplatz fast ein bisschen Routine eingespielt, zumindest bei jenen, die schon mehr als einmal morgens ihr Glück versucht haben. So wie ein Mann um die 40, ebenfalls mit Klappstuhl ausgerüstet. Schon am Mittwoch war er sehr zeitig am Demianiplatz, erzählt er, habe aber keines der rund 50 Terminkärtchen, die jeden Morgen ab 7.30 Uhr ausgegeben werden, ergattern können. "Eigentlich geht es gar nicht um mich", erzählt er. Ines Sperling nimmt in erster Linie Patienten auf, die bislang keinen Hausarzt haben. Er habe eine Hausärztin, erzählt der Mann - wenn auch 20 Kilometer von Görlitz entfernt. Seine Frau aber sei auf Hausarztsuche und stand zum zweiten Versuch am Donnerstag nun schon 5.30 Uhr am Demianiplatz, "ich habe sie dann abgelöst" - und eines der ersten Terminkärtchen des Morgens erhalten.

Auch den Ärger mancher erfolglos Wartender hat Ulrich Ebermann in den vergangenen Tagen mitunter abbekommen. Viele Görlitzer ließen auch in regionalen Facebook-Gruppen ihren Frust über Ärztemangel in Görlitz raus. Teils gab es auch Kritik an dem Vorgehen der Ärztin: Jeden Morgen werden rund 50 Kärtchen ausgegeben - mit einem Termin in der Regel für den nächsten Tag zur Patientenaufnahme. Zu dieser sind die Chipkarte, Medikamentenplan und andere wichtige Unterlagen mitzubringen. Und drittens gibt es noch ein erstes Arzt-Patienten-Gespräch. Mit einer Auswahl, gar einem Casting habe das nichts zu tun, versichert Ebermann.

Patientenaufnahme läuft weiter

Es gehe lediglich darum, den Überblick zu behalten, sich einen Eindruck zu verschaffen, wie viel Zeit und Aufmerksamkeit für die Patienten künftig einzuplanen ist. Handelt es sich um eine Person, die einmal im Jahr mit Erkältung vor der Tür steht oder eine Person, die regelmäßige Untersuchungen benötigt, wie viele Patienten insgesamt können letztlich aufgenommen werden? Das sei jetzt noch völlig offen, erklärt Ebermann. Vielleicht sei auch mal eine Pause nötig, aber generell laufe die Patientenaufnahme in den kommenden Tagen weiter. Pro Person werden morgens maximal zwei Terminkärtchen ausgegeben. Außerdem soll es ein oder zwei Extra-Termine für Personen geben, die nicht so zeitig zum Demianiplatz kommen können. Aktuelle Infos stehen immer an der Eingangstür.

Zu den Wartenden am Montagmorgen zählte Thomas Beier-Merkert. Die lange Warteschlange - für ihn das letzte Schüppchen für den Gedanken, Görlitz gar den Rücken zu kehren. Vor zwei Jahren zog er von Berlin nach Görlitz. Der heute 66-Jährige war damals gerade in Rente gegangen, sein Partner arbeitet und wohnt bereits in Sachsen. Beier-Merkert spricht Polnisch - und direkt an der Grenze zu Polen, in Görlitz, sei auch die Wohnungssuche vergleichsweise leicht gewesen. Eine wunderschöne Wohnung, umgeben von viel Grün, habe er gefunden. Und wenn man sich dafür interessiert, finde man in Görlitz auch viele Kulturangebote. Den Schatten ins Paradies brachte die Hausarzt-Suche.

Görlitzer fuhr zwei Jahre nach Berlin zum Hausarzt

"Dass es schwierig werden würde, wusste ich." Görlitz ist nicht die einzige Stadt mit Ärztemangel. Thomas Beier-Merkert war in Berlin selbst 30 Jahre im Gesundheitssektor tätig, habe einen ganz guten Überblick über die Ärzteschaft in der Stadt. Auch in Berlin würde er die Lage vielleicht nicht als paradiesisch bezeichnen. "Aber in Görlitz ist es wirklich prekär." Möglich, dass er zwei, drei Mediziner übersehen hat, aber die allermeisten Hausärzte in Görlitz habe er abgeklappert - ohne Erfolg. "Es hieß immer wieder, es ist gerade nichts zu machen. Irgendwann habe ich es aufgegeben." Und so fuhr er zwei Jahre lang nach Berlin zu seinem dortigen Hausarzt.

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Thomas Beier-Merkert hat einen Schwerbehinderten-Ausweis. In den vergangenen Jahren hielt er es so: Wenn Arztbesuche nötig waren, versuchte er, die Termine auf einen oder zwei Tage zu legen und machte einen "Kurztrip" per Bahn in die Hauptstadt. "Jetzt, mit 66 mag das noch gehen", aber wie ist es vielleicht in zehn Jahren? "Das kann nicht die Lösung sein." Dazu noch die Sorge nach der Landtagswahl, bei der die AfD im Kreis Görlitz rund 39 Prozent der Zweitstimmen holte. "Unter diesen Bedingungen werden sich auch in Zukunft wohl kaum viele junge Ärzte oder überhaupt viele junge Menschen anlocken lassen." Und dann der Anblick am Montag, wie vielen Menschen es bei der Hausarztsuche offenbar genauso ergeht wie ihm: "Ich habe ernsthaft überlegt, dass wir besser wegziehen sollten."

Das Blatt noch mal wenden konnten sein Partner, Glück und eine Anfrage beim Bereitschaftsdienst 116 117. Die ergab, dass eine Görlitzer Ärztin einzelne freie Termine angegeben hatte. Wirklich freie Kapazitäten hat wohl auch sie nicht, doch sie nahm Thomas Beier-Merkert als Patienten auf, "ich glaube, da habe ich einen Glücksgriff getan."