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Görlitz: Schon der dritte Waggonbauer wird 100 Jahre alt

Joachim Teuscher war früher Konstrukteur und Dozent, hatte sogar mehrere Patente. Bis vor zwei Jahren fuhr er noch Auto. Und bald steigt er aufs Schiff.

Von Ingo Kramer
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Joachim und Johanna Teuscher sind seit fast 74 Jahren verheiratet. Er ist 100, sie bald 95 Jahre alt.
Joachim und Johanna Teuscher sind seit fast 74 Jahren verheiratet. Er ist 100, sie bald 95 Jahre alt. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Die kleine Holzbox hat Joachim Teuscher bis heute aufbewahrt. Sie ist fein säuberlich beschriftet – mit der Information, dass er vom 16. bis 26. Mai 1946 aus französischer Kriegsgefangenschaft geflohen ist. In der Box befindet sich das wichtigste Fluchtutensil: Ein winziger Kompass, den Teuscher damals selbst gebaut hat. „Der funktioniert noch“, sagt er. „Deutsche Wertarbeit“, ergänzt seine Frau Johanna.

Mit diesem selbstgebauten Kompass flüchtete Joachim Teuscher 1946 aus französischer Kriegsgefangenschaft.
Mit diesem selbstgebauten Kompass flüchtete Joachim Teuscher 1946 aus französischer Kriegsgefangenschaft. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Am Dienstag hat Joachim Teuscher in seiner Wohnung in der Görlitzer Südstadt im kleinen Kreis seinen 100. Geburtstag gefeiert. Immer an seiner Seite: Seine Johanna, die im November 95 Jahre alt wird. Zehn Tage nach ihrem 95. Geburtstag steht dann gleich der 74. Hochzeitstag an.

Dass er einmal so alt wird, war Joachim Teuscher nicht in die Wiege gelegt. Am 17. September 1924 wurde er in der Görlitzer Oststadt als drittes von fünf Kindern geboren. „Mein Schulweg führte mich über die Stadtbrücke, die damals Reichenberger Brücke hieß, und durch den Stadtpark zur Fischmarktschule“, erinnert er sich. Acht Jahre besuchte er die Schule, danach lernte er den Beruf des Schlossers im Görlitzer Maschinenbau. Doch dann kam der Zweite Weltkrieg, er wurde einberufen, diente in der Marine und war sogar U-Boot-Fahrer.

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Anschließend geriet er in französische Kriegsgefangenschaft. An diese Zeit hat er bis heute sehr lebhafte Erinnerungen, berichtet immer wieder davon, wie er in Paris in einer Zuckerfabrik arbeitete, mit anderen Kriegsgefangenen im früheren Pförtnerhäuschen wohnte, auf Anweisung des Betriebsdirektors jeden Sonntag in die Kirche gehen musste und sich auch sonst – deutlich als Kriegsgefangener gekennzeichnet – in Paris frei bewegen durfte. Und eben, wie er schließlich zusammen mit anderen Gefangenen in Zivil über Belgien nach Deutschland flüchtete. Der Kompass bot nicht nur nachts Orientierung, sondern auch in Waldgebieten: „Sonst wären wir vielleicht im Kreis gelaufen.“

In Görlitz fing er nach seiner Rückkehr im Waggonbau an, zunächst als Schweißer. „Dort hatten die Dächer Durchschüsse aus dem Krieg“, erinnert er sich: „Mit Blechschnipseln haben wir die Löcher zugeschweißt.“ Damals seien im Waggonbau Leiterwagen gebaut worden.

Doch Joachim Teuscher wollte nicht sein ganzes Leben Schlosser oder Schweißer bleiben. So besuchte er drei Jahre lang die Abendschule und wurde Konstrukteur. Das war eine Tätigkeit, die ihm sehr lag: „Ich habe im Konstruktionsbüro gearbeitet, habe die Projektierung gemacht.“ In dieser Zeit habe er sogar mehrere Patente auf Teile von Schienenfahrzeugen gehabt. Zudem war er jedes Jahr auf der Leipziger Messe und führte dort die Produkte aus dem Waggonbau vor. Und schließlich war er sogar Dozent: „Ich habe an der Ingenieurschule Unterricht gegeben.“

Das Verlobungsfoto zeigt Johanna und Joachim Teuscher im Jahr 1948.
Das Verlobungsfoto zeigt Johanna und Joachim Teuscher im Jahr 1948. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Doch auch sein privates Glück fand Joachim Teuscher im Waggonbau: Seine Johanna arbeitete ab 1947 ebenfalls in dem Werk – und zwar im Büro, in der Kalkulation. 1947 lernten sie sich im Betrieb kennen, verlobten sich 1948 und heirateten 1950. Kinder waren den beiden aber nicht vergönnt. Die einzige Tochter starb gleich nach der Geburt. „Und dann hat es nicht mehr geklappt“, sagt Johanna Teuscher.

Genau mit der Wende gingen beide zeitgleich in Rente: Er war damals 65 Jahre alt, sie 60. Ihre erste Reise nach der Wende führte sie Hals über Kopf nach Paris, mit dem Bus und nur für einen einzigen Tag: Teuscher befürchtete, dass die Grenzen schnell wieder geschlossen werden könnten, wollte seiner Frau aber gern mal den Ort zeigen, in dem er in Gefangenschaft war. Diesmal stiegen beide sogar auf den Eiffelturm – eine Sache, die Teuscher als Kriegsgefangenem nicht möglich war.

Im November 1950 heirateten Johanna und Joachim Teuscher.
Im November 1950 heirateten Johanna und Joachim Teuscher. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Weitere Reisen mit dem Bus führten das Ehepaar später unter anderem nach Norwegen. An die Ostsee hingegen fuhren sie jedes Jahr mit dem Auto. Erst mit 98 Jahren gab Teuscher das Autofahren auf – was ihm anfangs schwerfiel. Er war stets unfallfrei gefahren, aber ein paar kleine Beulen hatte sein Skoda am Ende doch.

Bereits seit 1951 wohnt das Ehepaar in seiner schönen Parterre-Wohnung in der Südstadt. Im Garten hinter dem Haus bauten sie früher viel Obst und Gemüse an, diese Arbeit hielt beide fit. Zudem baute sich Teuscher eine Garage auf dem Grundstück. Mittlerweile fällt ihm das Laufen aber zunehmend schwer, auch das Hören und das Kurzzeitgedächtnis haben nachgelassen.

Aber seine Frau ist fit im Kopf und kann ihm auf die Sprünge helfen, wenn er etwas vergessen hat. Außerdem hat das Ehepaar Helfer, die sich um sie kümmern: Einen Pflegedienst und vor allem Birgit und Michael Meißner aus Rauschwalde. Die mittlerweile 62-jährige Birgit ist die Tochter der verstorbenen Schwester von Johanna Teuscher – und das „Ersatzkind“ des Ehepaars. Auch sie bezeichnet die Teuschers als ihre „Ersatzeltern“ – und kümmert sich regelmäßig um sie. Den Rest übernimmt der Pflegedienst. Der sorgt auch dafür, dass das Ehepaar ab und an nach draußen kommt. Nächsten Sonntag beispielsweise ist eine Schifffahrt auf dem Berzdorfer See geplant, auf die die beiden sich schon sehr freuen.

Herbert Nickgen (1915 bis 2019) war mit 104 Jahren der älteste lebende Mann von Görlitz.
Herbert Nickgen (1915 bis 2019) war mit 104 Jahren der älteste lebende Mann von Görlitz. © freier Fotograf
Helmut Friebel (103) ist derzeit der älteste Mann in Görlitz. Nickgen und Friebel waren Waggonbauer.
Helmut Friebel (103) ist derzeit der älteste Mann in Görlitz. Nickgen und Friebel waren Waggonbauer. © Martin Schneider

Wie Joachim Teuscher so alt geworden ist? An den Genen kann es nicht liegen: Seine Geschwister sind alle längst tot und wurden nicht annähernd so alt wie er, auch die Eltern wurden nicht sehr alt. Vielleicht liegt es daran, dass er so viel Knoblauch gegessen hat, überlegt der Jubilar. Früher habe er sich regelmäßig Mixturen aus Knoblauch, Mohrrüben, Öl und Salz hergestellt. Oder es liegt am Waggonbau. Er ist binnen zehn Jahren mindestens der dritte Waggonbauer, der in Görlitz 100 Jahre geworden ist. Die anderen beiden waren in der Schmiede tätig. Herbert Nickgen (1915 bis 2019) war mit 104 Jahren am Ende seines Lebens der älteste Mann der Stadt und der 103-jährige Helmut Friebel (Jahrgang 1921) ist derzeit der älteste Mann von Görlitz.