Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
SZ + Görlitz

Görlitzer Ukraine-Hilfe: Über 550 Betten in einer Woche

Im Grünen-Büro auf der Jakobstraße laufen die Fäden seit Tag eins des Krieges zusammen. Unter den Helfern sind auch Ukrainer, die schon länger in Görlitz sind.

Von Daniela Pfeiffer
 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Oksana Polikovska, Geflüchtete aus der Ukraine und freiwillige Übersetzerin, und Denys Seredenko, der aus der Ukraine stammt und seit September in Görlitz Informatik studiert, sind froh, in Sicherheit zu sein, aber in Gedanken bei Freunden und Familie.
Oksana Polikovska, Geflüchtete aus der Ukraine und freiwillige Übersetzerin, und Denys Seredenko, der aus der Ukraine stammt und seit September in Görlitz Informatik studiert, sind froh, in Sicherheit zu sein, aber in Gedanken bei Freunden und Familie. © Martin Schneider

Denys Seredenko ist froh, in Görlitz zu sein. Der junge Ukrainer studiert seit einem halben Jahr an der Hochschule Zittau/Görlitz Informatik. Während seine Freunde daheim in Charkiw nun mit Waffe in der Hand ihr Land verteidigen müssen, steht für den 25-Jährigen fest: Es gibt vorerst kein Zurück in die Heimat. Seine Stadt, die er als "megaschön" beschreibt, mit vielen Parks, wo er sich gern aufgehalten hatte, gibt es so nicht mehr. Seine Familie ist Richtung Westukraine geflohen, vielleicht kommen sie her, sagt Denys, der eigentlich am 24. Februar für einen Heimatbesuch in Charkiw sein wollte.

Stattdessen kommt er seit einigen Tagen ins Büro der Grünen auf der Görlitzer Jakobstraße, um zu helfen. Es ist eine der wichtigsten Adressen aktuell in Görlitz, wenn es um Flüchtlingshilfe geht - neben den vielen privaten Initiativen und der Plattform des Landkreises. Am Freitag ist das ZDF auf der Jakobstraße, nimmt Denys gleich mit zu einer Familie in der Altstadt. Binnen einer Woche sind bei den Grünen, wo von Tag eins des Ukraine-Krieges an, schnell und unbürokratisch ein Netzwerk für Hilfe aufgebaut wurde, Hunderte Angebote eingegangen. Von Privatpersonen, Einrichtungen, Unternehmen, die alle Unterkünfte zur Verfügung stellen. 550 Betten stehen inzwischen bereit, wie viele genau aktuell belegt sind, ändert sich von Stunde zu Stunde.

Viele junge Leute - oft Studenten - engagieren sich in diesen Tagen im Büro der Grünen auf der Jakobstraße in Görlitz.
Viele junge Leute - oft Studenten - engagieren sich in diesen Tagen im Büro der Grünen auf der Jakobstraße in Görlitz. © Martin Schneider

Friseurin kam ganz allein aus Kriegsgebiet

Ununterbrochen klingeln in dem durch Trennwände notdürftig in kleinere Bereiche eingeteilten Großraumbüro die Telefone. Die Akustik ist nicht die beste, man braucht hier wohl starke Nerven, denn permanent telefonieren die etwa 15 bis 20 Mitarbeiter, schreiben Dinge auf, empfangen Leute, gleichen Listen ab, beraten sich. Das Treiben erinnert an einen Bienenstock. Zwei, drei Wochen wird es wohl mindestens noch so weitergehen hier, bis auf Landes- und Bundesebene die wichtigsten Strukturen aufgebaut sind, sagt Anja Christina Carstensen - neben der Grünen Landtagsabgeordneten Franziska Schubert - eine der wichtigsten Personen hier. Obwohl sie hier wohl jeden einzelnen Helfer als wichtig einstufen würde, die Studenten, die sich gemeldet haben, die freiwilligen Helfer.

Eine Frau mit einem kleinen Jungen kommt hinein, erzählt, dass sie Ukrainerin sei und nächste Woche in die Ukraine fahren wird, um Verwandte abzuholen. Ob sie etwas mitnehmen soll - oder ob sie, falls sie außerhalb ihrer Familie noch andere Flüchtlinge ins Auto lädt, diese hierher bringen könnte. Dann kommt ein junger Mann, der Kontakt in eine westpolnische Gemeinde sucht, wo auch Hilfe koordiniert wird. Er möchte für einen Arzt aus dem Dresdner Uniklinikum einen Hilfseinsatz organisieren. Ein Fall für Anja Christina Carstensen, die fließend Polnisch spricht und sich sofort ans Telefon hängt.

Ein wenig abseits sitzt Oksana Polikovska. Sie kam erst vor zwei Tagen aus der Ukraine. Sie habe keine Eltern mehr, und noch keine Kinder, erzählt die 36-jährige Friseurin. Als die ersten Explosionen in ihrem Heimatort nahe der weißrussischen Grenze zu hören waren, machte sie sich ganz allein auf den Weg Richtung Deutschland, drei Tage war sie unterwegs. In Görlitz angekommen las sie, dass das Abgeordnetenbüro Freiwillige suche und meldete sich. Ihr Deutsch ist nach über einem Jahr Deutschkurs am Goethe-Institut schon sehr gut.

Zurzeit kann sie sich eine Rückkehr nach Hause nicht vorstellen, die Geschehnisse überhaupt zu verstehen, gelingt kaum. Sie weiß aus Telefonaten, dass Bekannte und Freunde jede Nacht im Bunker verbringen.

Manche wollen nur kurz in Görlitz bleiben

Im Büro auf der Jakobstraße steht sie zur Verfügung und hilft, wann auch immer ihre Hilfe gebraucht wird. Immer wieder kommen Flüchtlinge auch direkt vom Bahnhof, wo es ein Hinweisschild zur Jakobstraße gibt, hierher gelaufen - dann sofort auf jemanden zu treffen, der Muttersprache spricht, erleichtert vieles. Oft sind die Ankünfte aber vorab besprochen, erklärt Franziska Schubert, auf deren Initiative die schnelle und unbürokratische Hilfe erst ins Rollen kam. Inzwischen sei man in ständigem Kontakt mit Mission Lifeline, die organisiert vor Ort fahren, um Flüchtlinge abzuholen.

Was nicht auf der Jakobstraße stattfindet: Es werden keine Spenden entgegengenommen. Aber Franziska Schubert und ihr Team arbeiten eng mit der Pfarrei Heiliger Wenzel zusammen. Hier auf der Struvestraße 19 werden Spenden angenommen. Zudem gibt es ein Lager bei Kommwohnen. "Kleidung wird erstmal nicht benötigt, das DRK hat seine Lager voll", sagt Franziska Schubert.

Stand Freitag waren um die 100 bis 150 Menschen bereits in Görlitz und der näheren Umgebung untergebracht. Manche wollen nur kurz bleiben und dann weiterreisen. Für andere endet ihre Flucht erst einmal hier. Diese Menschen nicht in die Asylbewerberheime zu stecken, sondern privat unterzubringen, das sei das große Anliegen gewesen, sagt Anja Christina Carstensen. Ab Tag eins hat das bestens geklappt. Franziska Schubert schwärmt von den Familien, die Unterkünfte anbieten: "Die Gastfamilien sind Goldschätze", sagt sie. Denn in den meisten Fällen gehe es weit über eine Unterkunft hinaus. Da handele es sich um eine Rundum-Betreuung, inklusive Einkaufen, Stadt zeigen. Das Schulrussisch von vor vielen Jahren helfe nur bedingt, man verständige sich auf Englisch, so mancher Ukrainer spricht auch Deutsch.

Typisch für die Flüchtlingshilfe in den ersten Kriegstagen: alles ändert sich rasend schnell, ständig gibt es einen neuen Stand. Wie schnell alles gehen kann, erfuhr auch Frank Seibel vom Sankt-Wenzeslaus-Stift in Jauernick. Wurde am Donnerstagmorgen beschlossen, sich an der Hilfe zu beteiligen und die 60 Betten im Haus anzubieten, kam noch am selben Tag schon die erste Familie an. Vielmehr in der Nacht. "Franziska Schubert rief mich am späten Abend an, wie schnell wir bereit wären. 2 Uhr nachts ging es dann bereits mit der Familie vom Görlitzer Bahnhof nach Jauernick", berichtet Frank Seibel. Gekommen waren sie nicht mit dem Zug, sondern wurden von zwei jungen Leuten aus Berlin gebracht, die für Mission Lifeline arbeiten.

Frank Seibel, der vorher in Jauernick noch schnell Tee gekocht und ein paar Kekse herausgestellt hatte, brachte die Familie mit dem dreijährigen Sohn Samuel im Gästehaus unter. Am Sonntag hieß es dann weitere Betten zu beziehen. Für die Nacht zum Montag waren 27 Menschen angekündigt, die auf der Durchreise ins Saarland sind, so Frank Seibel am Sonntag.