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SZ + Görlitz

"Hunderte Flüchtlinge zogen zu Fuß an uns vorbei"

Zum zweiten Mal fuhr Enrico Deege von der Ca-Tee-Drale an die polnisch-ukrainische Grenze. Die Lage erinnert ihn an den jugoslawischen Exodus.

Von Susanne Sodan
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Hunderte Flüchtlinge sind auch zu Fuß unterwegs. Das Motto von Flixbus im Hintergrund, "lux & relax", wirkt verheißungsvoll und etwas zynisch zugleich.
Hunderte Flüchtlinge sind auch zu Fuß unterwegs. Das Motto von Flixbus im Hintergrund, "lux & relax", wirkt verheißungsvoll und etwas zynisch zugleich. ©  privat

Der Rückweg war das Schwerste. Ein paar Kilometer hinter der polnischen Grenze zur Ukraine hatten Enrico Deege und einige weitere Görlitzer Helfer rund zehn Kubikmeter Verbandsstoffe und Medikamente an Mitarbeiter der ukrainischen Stadt Tarnopol übergeben. Sie bringen die Hilfsmittel in das Krankenhaus Tarnopol. Geschafft, eigentlich ein Grund zur Erleichterung. Doch danach heißt es warten.

Viele Stunden lang. An der ukrainischen Grenzseite herrscht seit Tagen Stau von 40 bis 50 Kilometern. "Knapp acht Stunden haben wir gestanden." Tausende Autos, Tausende Flüchtlinge. "Viele sind auch gelaufen", vorbei an den wartenden Autos in Richtung Polen. "Es waren mehrere Hundert Menschen auf jeden Fall, die in der Zeit an uns vorbeizogen. Mich hat das ein bisschen erinnert an einen Exodus, wie wir ihn auch im Jugoslawien-Krieg gesehen haben."

Erinnerungen an jugoslawischen Exodus

Um 24 Uhr in der Nacht auf Sonntag waren die Görlitzer Helfer mit vier Kleintransportern und den medizinischen Hilfsmitteln, die das Görlitzer Klinikum, das Nieskyer Emmaus-Krankenhaus, drei Apotheken und Privatpersonen gespendet hatten, zum Grenzübergang Korczowa an der ukrainischen Grenze aufgebrochen.

Die Strecke kennt Deege. Bereits vor einer Woche hatte er die ersten Flüchtlinge, unter ihnen zwei Jugendliche, von dort nach Görlitz geholt. Enrico Deege leitet das Jugendhaus Ca-Tee-Drale in Görlitz, das seit 30 Jahren Verbindungen in die Ukraine hat, unter anderem zu einem Verein in Tarnopol.

Warnung vor Aktionismus

Am frühen Sonntagmorgen kamen die vier Görlitzer Kleinbusse in Korczowa an. Stau auch bei der Hinfahrt, also auf der polnischen Seite des Grenzüberganges. "Die polnische Polizei hat dort jetzt Straßensperren aufgebaut. Man muss nachweisen, dass man ein konkretes Anliegen hat." Dass man Verwandte oder Freunde abholen möchte, dass man zu einer Hilfsorganisation gehört und Hilfsmittel an eine andere Organisation übergibt.

Ein Großteil der Autos auf polnischer Seite musste umkehren, schildert Deege: Wie vor einer Woche warnt er auch heute davor, einfach so an die Grenze zu fahren ohne vorherige Absprachen mit Hilfsorganisationen vor Ort, ohne konkretes Ziel. "So gut das gemeint sein mag, Aktionismus hilft wirklich nicht weiter. Es verstopft die Straßen, die Arbeitsabläufe an der Grenze, und das nimmt auch viel Energie."

Deege hatte sogar ein Schreiben der sächsischen Staatskanzlei dabei, konnte passieren. Auch diesmal wollten er und die anderen Görlitzer auf der ukrainischen Seite Familien, die sie von dem Verein in Tarnopol kennen, einladen und mit nach Görlitz holen. Aber sie waren nicht da. "Sie hatten einen anderen, kleineren Grenzübergang genutzt, der in die Slowakei führt." Deege kann das verstehen. Korczowa ist einer der größten Grenzübergänge. Bei kleineren ist der Weg vielleicht noch unkomplizierter, "auch nicht so erdrückend." Die Menschenmassen, die Erschöpfung in vielen Gesichtern. In der Slowakei wollen die Familien aus Tarnopol auch erst mal bleiben. In der Hoffnung, doch bald zurückzukönnen.

Umladen der Hilfsgüter ein paar Kilometer hinter der polnisch-ukrainischen Grenze.
Umladen der Hilfsgüter ein paar Kilometer hinter der polnisch-ukrainischen Grenze. ©  privat

"Ich würde sicher auch nicht einfach so ins Auto steigen"

Eine Hoffnung, die bei anderen nicht mehr so groß ist. Am Grenzübergang Korczowa befindet sich in einer großen Halle ein Aufnahmelager. Während Deege und einige andere in die Ukraine hineinfuhren, um die Hilfsmittel umzuladen, blieb ein anderer Teil der Gruppe an der Grenze, um in dem Auffanglager Menschen zu suchen, die Richtung Deutschland wollen.

"Man sieht dort erstmal ein Chaos. Wenn man eine Weile zuschaut, sieht man aber, dass alles sehr strukturiert ist." Ukrainische und polnische Freiwillige klären, wer wann in welchen Bus welcher Hilfsorganisation wohin fährt. "Die haben das alles sehr gut im Griff." Auch dort: "Unsere Leute wurden erstmal registriert und überprüft. Das kann ich gut verstehen. Wenn da eine Horde unrasierter, unausgeschlafener Männer auftaucht - ich würde sicher auch nicht einfach so ins Auto steigen."

Als alles geklärt war, suchten die Helfer Flüchtende, die Richtung Görlitz wollten. 19 Menschen nahmen die vier Transporter auf. Einige von ihnen stiegen in Wrocław aus, einige in Katowice, andere in Zgorzelec. Und einige kamen mit nach Görlitz. Sie wurden von der Diakonissenanstalt in Niesky sowie der Reformierten Gemeinde Görlitz aufgenommen und versorgt.

Was, wenn die erste Erschöpfung kommt?

Enrico Deege blickt mit Sorgen in die Zukunft. Mit bis zu zehn Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine rechnen Migrationsforscher inzwischen. "Wir sind jetzt bei 1,6 Millionen." Noch können die polnischen Helfer die Lage handhaben, den Flüchtlingsstrom auffangen, ist sein Eindruck.

Auch ist die Hilfsbereitschaft hierzulande ungebrochen. Bei der Crowdfundingaktion "Görlitz hilft" von Ca-Tee-Drale und Görlitzer Stadtwerken sind inzwischen über 12.000 Euro eingegangen - 5.000 waren das Ziel, das längst überschritten ist.

Doch was, wenn die, die jetzt in der ersten Reihe stehen, erschöpft sind. Auch deshalb ist es Enrico Deege wichtig, seine Kraft nicht in unkoordinierte Aktionen zu stecken. Sondern sie im wahrsten Sinne aufzusparen - für die zweite, wahrscheinlich größere Flüchtlingswelle.