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Eine in Dresden entwickelte Software hilft, frühzeitig den Hirntod zu erkennen

Nicht immer werden mögliche Organspender in der Klinik rechtzeitig erkannt. Die Dresden Uniklinik hat deshalb eine Lösung entwickelt, die sie nun deutschlandweit anbietet.

Von Kornelia Noack
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Stellt den Hirntod fest: Transplantationsbeauftragte Dr. Anne Trabitzsch auf der Intensivstationen der Uniklinik Dresden.
Stellt den Hirntod fest: Transplantationsbeauftragte Dr. Anne Trabitzsch auf der Intensivstationen der Uniklinik Dresden. © SZ/Veit Hengst

Die erste Information bekommt Dr. Anne Trabitzsch per E-Mail: Die Pupillen des Patienten reagieren nicht auf Licht, zudem ist er tief bewusstlos. „Dies sind beides wichtige Parameter dafür, dass ein irreversibler Hirnfunktionsausfall eintreten kann“, sagt die Intensivmedizinerin vom Universitätsklinikum Dresden. Umgangssprachlich bezeichnet man es als Hirntod, wenn die Funktion des gesamten Gehirns unwiederbringlich ausfällt.

Der Hirntod kommt sehr selten vor. Die häufigsten Ursachen sind Schlaganfälle, Hirnblutungen, ein schweres Schädelhirntrauma oder eine Hirnschwellung als Folge einer Unterversorgung mit Sauerstoff. Wird die Diagnose Hirntod laut Richtlinie der Bundesärztekammer von zwei besonders qualifizierten Fachärzten festgestellt, gilt das als Todeszeitpunkt des Patienten. Ärzte können dann das Herz-Kreislauf-System des Verstorbenen aufrechterhalten. Die Organe werden so weiter durchblutet – und können für eine Transplantation für andere Schwerkranke infrage kommen.

„In Deutschland ist eine Organentnahme ausschließlich bei Patienten mit einem diagnostizierten irreversiblen Hirnfunktionsausfall gestattet. Daher ist es umso wichtiger, diesen frühzeitig zu identifizieren“, sagt Anne Trabitzsch, die Transplantationsbeauftragte am Uniklinikum ist. Allerdings ist es für Mediziner im Klinikalltag auf den Intensivstationen oft schwierig, die wenigen relevanten Fälle zu erkennen. In kleineren Krankenhäusern fehlt teilweise auch die Routine beim Beurteilen der Fälle.

Eine Spende hilft drei Patienten

Anne Trabitzsch und ihr Team haben daher – gemeinsam mit dem Koordinator Konrad Pleul von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) – das Software-Tool Detect entwickelt. Es unterstützt die Intensivmediziner dabei, einen möglicherweise bevorstehenden Hirntod frühzeitig zu erkennen – und zwar anhand kontinuierlich erfasster und in der elektronischen Klinikpatientenakte dokumentierter Vitaldaten der Patienten. Die E-Mail mit der Erstinformation ist in diesem Prozess nur der erste Schritt. „Unser Ziel ist, keinen potenziellen Organspender mehr zu übersehen“, sagt Anne Trabitzsch. Allein im Jahr 2016, vor Einführung des Tools, sei das leider elf Mal der Fall gewesen.

Retrospektive Studien haben zudem gezeigt, dass in Deutschland deutlich höhere Organspendezahlen realisierbar wären, wenn alle relevanten Patienten in den Kliniken erkannt würden. Wie wichtig das ist, zeigen Zahlen der DSO. Im Jahr 2023 gab es in Deutschland 965 postmortale Organspender. 2.877 Organe wurden entnommen und transplantiert. Demgegenüber stehen etwa 8.500 schwerkranke Deutsche, die auf der Warteliste von Eurotransplant stehen. Am häufigsten benötigen sie eine Niere, Leber, Lunge, ein Herz oder Pankreas. Der Bedarf ist groß. In der Regel kann mit einem Organspender drei Menschen geholfen werden.

Neben Anne Trabitzsch gibt es am Uniklinikum Dresden weitere fünf ärztliche Transplantationsbeauftragte. Mit Detect können sie nicht nur relevante Patienten in den Fokus rücken. „Wichtig ist auch, dass wir strukturierte Abläufe aktivieren können“, sagt Trabitzsch. „Ärzte gewinnen Zeit, um die Frage des Organspendewunsches des Patienten, der möglicherweise nicht schriftlich festgehalten wurde, mit Angehörigen zu besprechen und sie bei der Entscheidungsfindung im Sinne des Patienten zu begleiten und zu unterstützen.“ Denn: Nur weil die Ärzte einen Hirntod-Patienten erkannt haben, bedeutet es nicht automatisch, dass sie einen Spender gefunden haben.

15 Organspenden in einem Jahr

Organe und Gewebe dürfen in Deutschland nur entnommen werden, wenn eine Zustimmung zur Spende vorliegt. Digitalisierung hin oder her – die letzte Entscheidung obliegt dem Menschen. So wurden 2021 im Uniklinikum 36 Patienten identifiziert, bei denen die Hirntod-Diagnostik angezeigt war. Am Ende gab es aber nur 15 Organspenden, auch weil nur hier eine Einwilligung des Verstorbenen vorlag – schriftlich, mündlich oder durch Angehörige im mutmaßlichen Patientenwillen überbracht – und keine medizinischen Gründe dagegen sprachen. 58 Organe wurden für die Transplantation zur Verfügung gestellt.

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Nach Zahlen der DSO stehen vier von fünf Deutschen der Organspende offen gegenüber. Doch nur 15 Prozent der möglichen Spender haben ihren Willen schriftlich auf einem Organspendeausweis oder in ihrer Patientenverfügung festgehalten. In rund zwei Dritteln aller Fälle stünden die Angehörigen deshalb vor der Frage: Organspende ja oder nein? Laut Axel Rahmel von der DSO seien Angehörige bei dieser Abwägung dem mündlichen oder mutmaßlichen Willen des Verstorbenen verpflichtet, ansonsten müssten sie nach ihren Wertvorstellungen entscheiden.

„Das Thema muss enttabuisiert werden“, sagt Anne Trabitzsch. „Wir brauchen eine umfassende Aufklärung, gezielte Bildungskampagnen und eine offene gesellschaftliche Diskussion.“ Für die Ärztin sei das Wichtigste, dass sich jeder einmal mit der Frage auseinandersetzt, ob er nach seinem Ableben Organe spenden möchte und dass er diesen Willen auch schriftlich hinterlässt. „Viele Angehörige sind nicht aufgeschlossen und unsicher. Wurde in der Familie nie über das Thema gesprochen, wird eine Spende häufig abgelehnt.“

Online-Register als Chance

Hoffnung macht der Intensivmedizinerin das neue Online-Register. Seit Mitte März kann jeder online eintragen, ob er nach dem Tod Organe spenden will oder nicht. Ab 1. Juli sind Krankenhäuser in Deutschland verpflichtet, im Fall der Fälle in dem Online-Register nachzuschauen, ob Patienten ihren Willen dort hinterlegt haben. „Wichtig zu wissen ist, dass der Eintrag in das Register gleichwertig zu betrachten ist wie ein Organspendeausweis, eine Dokumentation des Willens zur Organspende in einer Patientenverfügung oder auch der mündlich mitgeteilte Willen an Angehörige oder Vertrauenspersonen“, erklärt Anne Trabitzsch.

Sie sieht das Portal auch als wichtige Grundlage für die Widerspruchslösung, die es in vielen Ländern längst gibt, sich hierzulande aber bislang noch nicht durchsetzen konnte. Der letzte Versuch war 2020 im Bundestag gescheitert. In dieser Woche erst gab es einen neuen Anlauf im Ringen um mehr lebensrettende Organspenden. Am Montag stellte eine Abgeordnetengruppe eine Initiative im Bundestag vor, die auf die Einführung der Widerspruchsregelung zielt. Das würde bedeuten, dass zunächst alle als Organspender gelten – außer jenen, die aktiv widersprechen.

Bis es soweit ist, setzt Trabitzsch auf Detect. Inzwischen haben knapp 100 Kliniken Interesse an dem Tool bekundet, sind dabei es zu installieren oder nutzen es bereits.

Drei Möglichkeiten, Ihr Ja oder Nein zu dokumentieren

  • Wer Klarheit für sich oder seine Angehörigen möchte, sollte seine Entscheidung zur Spende von Organen und Gewebe schriftlich festhalten.
  • Einen Organspendeausweis kann man online ausfüllen und herunterladen. Oder man lässt sich die Plastikkarte zuschicken und füllt sie dann aus.
  • Das Organspende-Register ist ein zentrales elektronisches Verzeichnis. Der Eintrag ist kostenfrei. Ab dem 1. Juli sind Krankenhäuser verpflichtet, im Fall der Fälle abzurufen, ob ein Patient seinen Willen hinterlegt hat und welchen. Möglich ist auch, sich für „Nein“ zu entscheiden.
  • In der Patientenverfügung kann man ebenfalls seine Entscheidung zur Organ- und Gewebespende festhalten. Wichtig ist, den Willen eindeutig zu formulieren und eigenhändig zu unterschreiben.