Krankenkassen in Geldnot - erhöht auch die AOK Plus erneut den Beitrag?
Der Chef von Sachsens größter Krankenkasse über Kostentreiber, ineffiziente Gesundheitsstrukturen und die Aufregung über Homöopathie und Bürgergeldempfänger.
Die gesetzlichen Krankenkassen schlagen Alarm: Die Ausgaben steigen schneller als die Einnahmen. Im ersten Quartal haben die Kassen mit einem Minus von 776 Millionen Euro abgeschlossen. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres lag das Defizit noch bei 162 Millionen Euro. Auf politischen Beschluss mussten sie bereits ihre Finanzreserven abschmelzen. Sie liegen laut Bundesgesundheitsministerium bei nur noch 0,3 Monatsausgaben. Das reicht gerade mal für etwa zehn Tage.
Das unabhängige Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) warnt jetzt vor drastischen Beitragserhöhungen. Bereits 2025 könne der Durchschnittsbeitrag der gesetzlichen Krankenkassen von derzeit 16,3 auf 16,9 Prozent steigen. Eine Prognose für 2035 geht von 19,3 Prozent aus – wenn sich nichts ändert.
Die SZ sprach über die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen mit Rainer Striebel, Vorstandsvorsitzen von Sachsens größter Krankenkasse, der AOK Plus.
Herr Striebel, die AOK Plus hat zum Jahresanfang ihren Zusatzbeitrag um 0,3 Prozentpunkte erhöht. Müssen sich auch Ihre Versicherten schon bald auf die nächste Erhöhung einstellen?
Unser Ziel ist es, bis Jahresende hinzukommen und in diesem Jahr Beitragserhöhungen zu vermeiden. Klar ist aber, dass sich auch die AOK Plus den allgemeinen Finanzproblemen im Gesundheitswesen nicht entziehen kann. Wir sehen gerade, dass mehrere Krankenkassen jetzt sogar unterjährig Beitragserhöhungen ankündigen. Und es werden noch einige weitere folgen.
Worin sehen Sie die Ursachen?
Im Wesentlichen sind es drei Ursachen. Zum einen haben dieses Jahr viele Krankenkassen ihre Beiträge nicht kostendeckend kalkuliert. Da der Gesetzgeber die Rücklagen abgeschöpft hat, bleibt ihnen jetzt nichts anderes übrig, als die Beiträge anzupassen. Zweitens trifft die Kassen ein nachgelagerter Effekt. Durch höhere Lohnabschlüsse in vielen Branchen sind im letzten Jahr auch die Beitragseinnahmen gestiegen und konnten die Finanzen stabilisieren – aber nur kurzfristig. Denn nun schlagen die Lohnsteigerungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen in Form von höheren Kosten zu Buche. Und drittens sind von Versicherten wieder mehr Leistungen in Anspruch genommen worden.
Was konkret sind die Kostentreiber?
Wir haben es zum Beispiel mit überraschend hohen Ausgabensteigerungen bei Arzneimitteln zu tun. Es werden nicht nur mehr Medikamente verordnet, sondern neue Arzneimittel kommen zu immer höheren Preisen auf den Markt. Gleichzeitig sind Ende 2023 bundesweit die Hersteller-Rabatte auf Arzneimittel ausgelaufen. Hohe Kostensteigerungen sehen wir insbesondere auch bei Krankengeld und Physiotherapie.
Physiotherapie? Die meisten Menschen klagen doch, dass ihr Arzt mit Verordnungen geizt.
Wir haben im Freistaat eine überdurchschnittlich hohe Dichte an Physiotherapeuten, aber auch mit die älteste Bevölkerung. Insofern wird überdurchschnittlich häufig Physiotherapie verordnet. Zudem sind die Preise dafür gestiegen.
Etwa ein Drittel ihrer Einnahmen gibt die AOK Plus für Krankenhäuser aus. Wie entwickeln sich hier die Kosten?
Auch da sind die Ausgaben deutlich gestiegen – von 2022 zu 2024 um etwa 14 Prozent. Für alle gesetzlichen Krankenkassen macht das über 800 Millionen Euro mehr für Sachsens Krankenhäuser aus. Und trotzdem reicht das aus Sicht der Kliniken für stabile Finanzergebnisse nicht aus.
Woran liegt das?
Vor allem an höheren Tarifabschlüssen und an neuen gesetzlichen Regeln zur Vergütung von Pflegeleistungen in Krankenhäusern sowie an inflationsbedingt steigenden Sachkosten. Mit höheren Fallzahlen haben wir es hier nicht zu tun. Im Gegenteil. Während die Bevölkerung in Städten wie Leipzig und Dresden wächst, nimmt sie in ländlichen Regionen wie im Erzgebirge oder Ostsachsen ab. Wenn Kliniken dort ihre Betten nicht auslasten können, wird das ein wirtschaftliches Problem.
Die Krankenhausreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach soll es richten. Die gesetzlichen Kassen wehren sich zurzeit allerdings heftig dagegen, Mehrkosten dafür zu übernehmen.
Die Krankenhausreform wird von uns grundsätzlich unterstützt. Allerdings ist aus unserer Sicht die vorgesehene Finanzierung durch die Beitragszahlenden der völlig falsche Ansatz. Gesetzlich Versicherte und Arbeitgeber sollen sich mit ihren Beiträgen zehn Jahre lang mit insgesamt 25 Milliarden Euro an einem Transformationsfonds für die Krankenhausreform beteiligen. Für die gesetzlichen Krankenkassen in Sachsen kämen da 1,25 Milliarden Euro zusammen. Zum einen blieben damit die besser verdienenden privat Versicherten außen vor. Und zum anderen ist es nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, Kosten für die Umstrukturierung oder den Zusammenschluss von Kliniken zu übernehmen. Diese Investitionen müssen durch die öffentliche Hand erfolgen. Sollte der Gesetzgeber jedoch daran festhalten, den nötigen Strukturwandel mit Beitragsgeldern zu finanzieren, erwarten wir aber auch ein entscheidendes Mitspracherecht dabei. Wir lassen uns nicht zum Zahlmeister degradieren.
Wobei würden Sie denn gern mitreden?
Wir werden uns konsequent dafür einsetzen, dass im Ergebnis der Krankenhausstrukturreform für die Bevölkerung in Sachsen eine qualitativ hochwertige Behandlung gesichert ist. Und dass die Krankenhäuser für den Großteil der Menschen gut erreichbar sind. Allein immer mehr Geld ins System zu pumpen, löst unser größtes Problem dabei nicht.
Das Demografie- und Fachkräfteproblem. Es ist absehbar, dass sich in Sachsen immer weniger Erwerbstätige um immer mehr ältere Menschen medizinisch und pflegerisch kümmern müssen. Insofern müssen alle Akteure gemeinsam schauen, wie wir die Strukturen sinnvoll anpassen und vernetzen können, damit vor allem in ländlichen Regionen die Versorgung gesichert ist – von den Krankenkassen über Landesärztekammer, Kassenärztliche Vereinigung, Krankenhausgesellschaft, Apotheker- und Pflegeverbänden bis hin zu den Kommunen. Als AOK Plus sind wir unter anderem am „Netzwerk sichere Geburt“ und am Projekt Kinder- und Jugendkopfschmerz in Zusammenarbeit mit der Uniklinik Dresden beteiligt, welche stationäre und ambulante Leistungen erfolgreich verbinden.
Zusammenarbeit scheitert in der Praxis ja leider oft an den unterschiedlichen Interessen.
In Sachsen haben viele Akteure verstanden, dass uns das Problem langfristig eint. Wir reden schon lange konstruktiv miteinander, haben beispielsweise ein gemeinsames Zielbild für die Gesundheitsversorgung 2030 erarbeitet. Die Lage ist so ernst, dass wir uns Ineffizienzen im Gesundheitssystem nicht mehr leisten können.
An welche Ineffizienzen denken Sie?
Da lässt sich über vieles reden. Ich denke insbesondere an die fehlende Vernetzung im Gesundheitswesen. Wie werden künftig Krankenhäuser, niedergelassenen Ärzte, Pflegedienste und Apotheken zusammenarbeiten? Wie denken wir aus der Perspektive der Patienten Behandlungsprozesse neu? Und wie schaffen wir es, dass der Arzt wieder mehr am Menschen und nicht am Formular arbeitet? Wie verhindern wir eine Kannibalisierung der Krankenhäuser, die sich gegenseitig zu Höchstpreisen das Personal abwerben? Und wie können wir Patientenströme besser steuern? Fachärzte zum Beispiel bestellen Patienten oft immer wieder ein, ohne dass hierfür eine medizinische Notwendigkeit besteht. Überhaupt müssen wir uns fragen, wer unbedingt einen Arzt braucht. In skandinavischen Ländern bindet man andere Akteure ein, beispielsweise bei der Erstanamnese. Großes Potenzial bieten hier Digitalisierung und Telemedizin. Und wir müssen mehr Wert auf sinnvolle präventive Ansätze legen.
Über die Vorzüge der Digitalisierung wird viel geredet, sie kommt insgesamt aber nur langsam voran. Beispiel elektronische Patientenakte: Ich habe eine, aber kein Arzt wollte sie bisher nutzen.
Man muss solchen Dingen erst mal eine faire Chance geben. Beispiel E-Rezept: Da gab es zunächst auch viel Kritik, und jetzt heißt es, es läuft ganz gut. Alle sagen, Deutschland sei eine digitale Wüste. Wenn wir dann aber anfangen wollen, wird geschimpft. Hier wünsche ich mir mehr Mut und Vertrauen.
Zurück zu den Finanzen: Die gesetzlichen Krankenkassen fordern, dass der Bund die Zuschüsse für die Bürgergeldempfänger erhöht. Sie decken nur gut ein Drittel der tatsächlichen Gesundheitskosten. Sind also auch die vielen Ukrainer schuld an steigenden Kassenbeiträgen, wie es an Stammtischen diskutiert wird?
Ich möchte mich an so einer Debatte nicht beteiligen. Fakt ist doch, dass es seit Jahrzehnten immer wieder ein Ringen darum gibt, was aus Mitteln der Krankenkassen und was vom Bund übernommen werden muss. Bestimmte Lasten, dafür werben wir, dürfen nicht auf dem Rücken der Beitragszahlenden abgeladen werden. Und wir müssen auch darüber reden, wie die Beiträge innerhalb der Bundesrepublik gerecht verteilt und eingesetzt werden.
Inwiefern?
Derzeit fließt in die Ballungsräume mehr Geld, weil es dort mehr Ärzte und Kliniken als auf dem Land gibt. Dadurch fehlen uns als AOK Plus im Jahr etwa 200 Millionen Euro. Denn im Gegensatz zu westdeutschen Bundesländern hat Sachsen mehr ländliche Regionen, in denen viele pflegebedürftige Menschen leben und medizinisch gut versorgt werden sollen. Ich bin deshalb sehr froh, dass sich die Ministerpräsidenten-Konferenz Ost klar dazu bekannt hat, dass die Verteilungssystematik auf den Prüfstand gestellt werden muss.
Für viel Aufregung hat die Ankündigung von Karl Lauterbach gesorgt, dass die Kassen kein Geld mehr für Homöopathie ausgeben dürfen. Zahlen Sie noch dafür?
Bei der Ankündigung ist es bisher geblieben. Wir haben hier aber trotzdem unsere freiwilligen Angebote deutlich reduziert. Das hat uns viel Kritik eingebracht, obwohl die Finanzwirkung sehr gering ist. Homöopathie ist ein emotionales Glaubensthema. Wir wollen uns lieber darauf konzentrieren, in dieser schwierigen Zeit als Gesundheitslotse wahrgenommen zu werden – durch Service und fachliche Kompetenz.
Rainer Striebel ist gelernter Betriebswirt, kam 1991 aus Baden-Württemberg nach Sachsen.
Er wirkte am Aufbau der AOK Dresden mit und übernahm später mehrere Funktionen bei der AOK Sachsen.
Der 62-Jährige ist seit zehn Jahren Vorstandsvorsitzender der AOK Plus.
Bei der AOK Plus sind rund 3,5 Millionen Menschen in Sachsen und Thüringen versichert – davon allein in Sachsen über 2,25 Millionen (Stand Ende März 24). Das entspricht in Sachsen etwa 60 Prozent aller gesetzlich Versicherten.
Derzeit kümmern sich 6.900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Sachsen und Thüringen um die Anliegen der Kundinnen und Kunden.
Das Haushaltsvolumen 2024 beträgt insgesamt 20,33 Milliarden EUR.