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Schmerzpatient aus Bautzen: „Ich bekomme Cannabis auf Rezept“

Cannabis ist für die Behandlung von Schmerzen eigentlich nicht zugelassen. Doch es gibt Ausnahmen. Für Patienten wie Raimund Brade aus Bautzen ist das die Rettung.

Von Stephanie Wesely
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Eine Bandage verdeckt die Trachialkanüle, die Raimund Brade aus Bautzen das Sprechen ermöglicht. Gegen seine Schmerzen bekommt er medizinisches Cannabis.
Eine Bandage verdeckt die Trachialkanüle, die Raimund Brade aus Bautzen das Sprechen ermöglicht. Gegen seine Schmerzen bekommt er medizinisches Cannabis. © Montage: Vivian Ritter/dpa

Ein Tumor in der Lymphdrüse war für Raimund Brade aus Bautzen der Anfang eines langen Leidensweges. Vor fünf Jahren hatte der heute 65-Jährige eine Schwellung unterhalb des linken Ohres, die er anfangs gar nicht so wichtig nahm. Doch es war Krebs.

Eine Chemotherapie wurde notwendig, die ihn viel Kraft gekostet hat. Noch schlimmer sei die anschließende Bestrahlung gewesen, sagt er. Raimund Brade konnte danach nicht mehr schlucken. Er bekam eine Magensonde und wurde künstlich ernährt. Eine Trachialkanüle im Hals ermöglichte ihm das Sprechen, auch wenn es sehr anstrengend und schwer verständlich war. Doch die Strapaze habe sich gelohnt, wie er sagt, und den Krebs zum Verschwinden gebracht.

Allerdings nur vorübergehend. Zwei Jahre später kam der Rückfall. Eine erneute Chemo- und Strahlentherapie hatte wenig Aussicht auf Erfolg. „Noch einmal hätte ich das bestimmt auch nicht durchgestanden“, sagt Brade. Die operative Entfernung des Tumors war seine einzige Option. Doch die Geschwulst lag ungünstig. Die Chirurgen mussten von zwei Seiten – über die Halswirbelsäule und über die Kehle – dorthin vordringen. Mehr als zwölf Stunden habe der Eingriff gedauert. Auch dieser blieb nicht ohne Folgen. Die Halswirbel nahmen Schaden und mussten versteift werden. Auch die Nerven in diesem Bereich wurden verletzt. Seitdem hat Brade chronische Schmerzen. Er muss dauerhaft künstlich ernährt werden, weil er seit der OP nun gar nicht mehr schlucken kann.

Schmerzen sind ein komplexes Krankheitsbild

„Trotz spezieller Matratze konnte ich nicht liegen. An Schlaf war kaum zu denken“, erzählt er. Selbst die höchstmöglichen Opiatdosen wirkten nicht mehr. Die Möglichkeiten des Hausarztes waren erschöpft. Deshalb überwies er Raimund Brade zur Schmerztherapie. „Zum Glück kam ich zu Frau Doktor Boden aus Großröhrsdorf“, sagt er. Sie hatte zum Thema Bestrahlung nach HNO-Tumoren promoviert.

„Wenn Schmerzen chronisch sind, also mindestens drei Monate lang bestehen, sollten Patienten versuchen, eine Schmerztherapie zu bekommen“, sagt Dr. Anke Boden, Vorsitzende des Vereins der Schmerztherapeuten in Sachsen. Denn chronischer Schmerz sei ein komplexes, eigenständiges Krankheitsbild, das eine spezielle Behandlung erfordert. „Schmerz wird heute interdisziplinär behandelt, denn er wird von körperlichen, seelischen, aber auch sozialen Faktoren beeinflusst“, sagt sie.

Boden verordnete Raimund Brade THC-haltige Cannabistropfen, die auch über seine Magensonde verabreicht werden können. Dafür war ein umfangreicher Antrag an die Krankenkasse erforderlich. „Denn medizinisches Cannabis ist kein zugelassenes Schmerzmedikament“, sagt sie. „Doch die Krankenkassen stimmen zu, wenn Versicherte wie Brade bei schwerwiegenden Erkrankungen erfolglos schon viele Schmerzmittel genommen haben.“ Und wenn andere Behandlungsverfahren wie Physio- und Psychotherapien keine Erfolge zeigen. 30 bis 40 Prozent der Anträge würden aber abgelehnt. „Da wünsche ich mir mehr Vertrauen der Kassen in unsere ärztlichen Entscheidungen“, sagt Boden.

Keine Spezialrezepte mehr erforderlich

Seit der Legalisierung im April würden zunehmend Patienten fragen, ob eine Therapie mit Cannabis gegen ihre Schmerzen möglich sei. Doch für die Schmerztherapie habe sich im Grunde nichts verändert – „nur, dass wir die THC-haltigen Medikamente jetzt auf einem normalen rosafarbenen Rezeptformular verordnen, nicht mehr auf einem Spezialrezept für Betäubungsmittel.“

Cannabis ist kein Allheilmittel bei chronischen Schmerzen. „Es gibt wirkungsvollere Optionen. Bei etwa jedem dritten meiner Patienten, die Cannabis verordnet bekamen, wurde es nach einiger Zeit gemeinsam wieder abgesetzt, weil es nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hatte oder Nebenwirkungen auftraten“, sagt sie. Die Zurückhaltung der Krankenkassen sei für sie deshalb zum Teil auch nachvollziehbar, zumal es in Deutschland kein einziges zugelassenes Cannabismedikament für die Schmerzbehandlung gibt. Normalerweise würden Medikamente aufwendig getestet und in Studien ihre Wirksamkeit überprüft, ehe sie zugelassen werden. Das war bei Cannabis gegen Schmerzen nicht der Fall. Für Anke Boden gehört die Behandlung mit THC-haltigem Cannabis nicht zuletzt wegen der Suchtgefahr in kritische ärztliche Hände.

Zugelassen ist Cannabis bei Schmerzen und Spastik infolge von Multipler Sklerose. Ebenso bei Erbrechen und Übelkeit infolge einer Chemotherapie. „Für diesen Einsatz muss es von der Krankenkasse auch nicht extra genehmigt werden“, sagt Anke Boden. „Gegen sonstige Schmerzen verordne ich Cannabis nach Schlaganfällen oder bei Nervenschmerzen, zum Beispiel nach Amputationen oder Krebs – wie bei Raimund Brade aus Bautzen.“ Genehmigt werde das aber nur, wenn andere Therapien bisher nicht ausreichend lindern konnten. Meist verschreibe sie das Cannabis in Tropfen-, in seltenen Fällen in Blütenform. Die Inhalation kann zum Beispiel über Verdampfen mittels Vaporisator erfolgen.

Die Cannabis-Tropfen können auch bei künstlicher Ernährung verwendet werden.
Die Cannabis-Tropfen können auch bei künstlicher Ernährung verwendet werden. © Vivian Ritter

Medizinisches Cannabis mit großer Reinheit

Die Behandlung mit Cannabis müsse in ein Gesamtkonzept integriert werden. „Der Arzt sollte seinen Patienten gut kennen, eine therapeutische Beziehung zu ihm haben und mit dem Hausarzt Rücksprache halten“, sagt Boden. Denn es müsse ausgeschlossen werden, dass der Patient vorher eine Sucht oder schwere psychiatrische Erkrankung hatte. Die Rückfallgefahr wäre sonst hoch. Auch das soziale Umfeld müsse bekannt sein, um Fehlgebrauch auszuschließen. „Bei chronischen unspezifischen Rückenschmerzen setze ich Cannabis nicht ein“, so Anke Boden. Oft sei hier eine zu schwache Muskulatur die Ursache. „Da helfen vor allem Training und Eigenverantwortung, nicht nur Medikamente.“

„Der Selbstanbau oder der Bezug übers Internet sind keine Alternativen. Es gibt verschiedene Cannabisarten, die auch unterschiedlich wirken“, sagt die Schmerztherapeutin. Das sei für Laien oft nicht zu erkennen. Auch der Wirkstoffgehalt sei im Gegensatz zu medizinischem Cannabis nicht garantiert.

Raimund Brade bekommt seit etwa einem Jahr THC-haltige Tropfen auf Rezept. „Seitdem kann ich mich wieder besser bewegen und am Leben teilnehmen. Mit den anderen Schmerzmitteln bin ich bis auf eine Minimaldosis runter. Selbst schlafen kann ich wieder – eine große Erleichterung.“ Er nahm auch wieder zu – eine Nebenwirkung von Cannabis. Für den Bautzener ist das jedoch ein Segen. Denn trotz hochkalorischer Nahrung wog er vorher gerade 60 Kilogramm – bei 1,82 Meter Körpergröße. „Trotz der schweren Krankheitsfolgen fühle ich mich besser und habe wieder Lebensmut“, sagt er.

Das steckt in Cannabis

  • Die Wirkstoffe: Zwei Stoffe sind beim Cannabis von Bedeutung: das Tetrahydrocannabinol – kurz THC – und das Cannabidiol – CBD. THC ist der psychoaktive Hauptstoff. Er kann euphorisieren und berauschen, CBD bewirkt eher eine tiefe Entspannung und innere Ruhe. Beide Wirkungen können auch in der Schmerztherapie genutzt werden. Es kommt auf das richtige Verhältnis dieser beiden Inhaltsstoffe an.
  • Die Zusatzstoffe: Des Weiteren gibt es für die meisten Sorten ein Terpenprofil. Terpene verleihen jeder Cannabis-Sorte ihr charakteristisches Cannabis-Aroma und ihren typischen Duft und Geschmack.
  • Die Sorten: Bei der Genetik der Cannabispflanze werden drei Arten unterschieden: Sativa, Indica und Hybrid. Sativa-Sorten weisen meistens einen hohen THC-Gehalt sowie einen niedrigeren CBD-Gehalt auf – daher ihre eher aktivierende, stimulierende und energetisierende Wirkung. Indica-Sorten werden mit Entspannung, Stressreduzierung und Gefühl von Ruhe und Gelassenheit in Verbindung gebracht. Als Hybrid-Sorten werden Kreuzungen aus Sativa und Indica bezeichnet. Sie kombinieren die Eigenschaften beider Arten.