Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Leben und Stil
Merken

Eine Woche Schweigen üben – ein Selbstversuch

Wir sprechen oder handeln oft, damit wir innere Unruhe nicht spüren: Sorgen, Ärger, Ängste. Das wertungsfreie Akzeptieren soll inneren Frieden bringen. Doch funktioniert das?

 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Mein Schweigekurs. Die Teilnehmer baten darum, nicht erkannt zu werden.
Mein Schweigekurs. Die Teilnehmer baten darum, nicht erkannt zu werden. © Fee Walber

Ich höre und fühle meinen Atem. Ein, aus, ein aus. Ich beobachte ihn an meiner Nase. Das geht doch ganz leicht, denke ich. Kaum gedacht frage ich mich gleichzeitig, wie lange wir schon still im Kreis sitzen – fünf Minuten oder zehn? Ich übe mich darin, nicht auf die Uhr zu sehen. Sondern mich ganz in den Moment sinken zu lassen. Es gibt tatsächlich im Augenblick nichts anderes zu tun, als das Wunder des Atems zu beobachten.

„Aus Stille schaffen“ heißt der einwöchige Kurs der Sommerakademie in Alfter in der Nähe von Bonn, den ich gemeinsam mit elf anderen Frauen und Männern der verschiedensten Berufe besuche. Wir sollen durch Stille zu neuen Einsichten, Ideen und Erfahrungen kommen und diese, wenn gewünscht, kreativ ausdrücken.

Mein Wunsch ist es, aus dem Alltag auszusteigen, innerlich zur Ruhe zu kommen und vielleicht sogar neue Perspektiven für mein nächstes Buchprojekt zu gewinnen. Während der täglich fünf Stunden Kurszeit sitzen wir in Stille auf Stühlen oder Kissen oder gestalten etwas. Kurze Reflexionen über die Wirkung der Stille helfen uns, diese zu vertiefen. Waldspaziergänge finden schweigend statt. Und wer möchte, kann das Schweigen auf die Freizeit und die Essenszeit ausdehnen. So habe ich das gemacht.

Dr. Ilona Bürgel ist Diplom-Psychologin.
Dr. Ilona Bürgel ist Diplom-Psychologin. © Matthias Rietschel

Das Knie schmerzt, die Nase krabbelt. Sofort will ich etwas ändern. So wie im richtigen Alltag. Wir meinen, ständig handeln zu müssen und das sofort. Das Husten meines Sitznachbarn, der Traktor vor dem Haus, die Temperatur im Raum, ein Teilnehmer, der zu spät kommt – alles bewerte ich als gut oder schlecht, richtig oder falsch. Erst diese Bewertung führt dazu, dass ich mich dementsprechend fühle. Das Schlechte will ich weghaben, das Gute festhalten. Beides ist eine Illusion und funktioniert, wenn überhaupt, nur kurzfristig. Denn unser Körper, die Natur, das Leben, nichts lässt sich zu 100 Prozent von uns beeinflussen.

Immer ruft irgendetwas oder irgendjemand nach unserer Aufmerksamkeit. Im Inneren hängen wir Sorgen, Ärger oder Ängsten nach, wiederholen, was wir hätten sagen können. Je voller wir das Leben packen, umso schneller läuft es uns davon. Je mehr Fotos wir machen, um Augenblicke festzuhalten, umso weniger haben wir vom Augenblick selbst. Leben wir ein Leben verpasster Augenblicke?

Ich möchte das ändern. Deshalb besuche ich diesen Kurs. Den größten Frieden fühle ich schon am ersten Tag, wenn ich all das Denken weniger werden lasse und einfach atme. Natürlich befinde ich mich in einer Ausnahmesituation. Denn im Alltag rufen Aufgaben und Pflichten nach mir. Doch daneben gäbe es immer Raum für Stille. Vielleicht nicht wie hier, über Stunden am Tag. Für einige Minuten aber schon.

Hilflos ohne Sprache

Mit Schweigen werden in unserem Kulturkreis oft schlechte Erfahrungen verbunden. Paare schweigen sich frustriert nach einem Streit an, Eltern strafen damit ihre Kinder. Ich merke in den Tagen des Schweigens, wie hilflos es mich macht, nicht zu sprechen. Allzu oft gebe ich ungebeten Rat und meine Meinung und wundere mich, dass die anderen sich nicht darüber freuen. Ich überbrücke unangenehme Situationen mit Sprechen und fühle mich oft dafür verantwortlich, dass andere sich in meiner Gegenwart wohlfühlen. Dafür spreche ich.

Natürlich sind gute Gespräche eine Bereicherung unseres Lebens. Wir teilen Freud und Leid und lernen dadurch viel. Allerdings ist das Sprechen meistens eine Form, im Außen zu sein.

Wir nehmen uns selbst kaum wahr und fragen uns auch zu selten, was uns langfristig guttut. Wir handeln oder sprechen so manches Mal, damit wir innere Unruhe nicht spüren. Im Kurs lerne ich, auch diese einfach wahrzunehmen. Zu denken „ich fühle Unruhe“ statt „ich bin unangenehm unruhig“. Das wertungsfreie Spüren und Akzeptieren führt meist schon in die innere Stille, den inneren Frieden, den wir uns doch alle wünschen. Und jeder Beitrag für den inneren Frieden ist einer, den wir nach außen geben.

Stille nach Hause einladen

Beim Frühstück ist es mir ganz unheimlich, zwischen den Teilnehmern anderer Kurse der Sommerakademie zu sitzen und zu schweigen. Mir fällt auf, wie laut es um mich ist. Keiner achtet auf das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Pappeln. Alle reden. Laut. Sehr laut. Ist das nur der Kontrasteffekt zu meiner Stille? Oder merken wir gar nicht mehr, wie laut wir sind? Lärm ist ein Stressfaktor. Ich weiß, dass meine Lärmempfindlichkeit ein Indikator dafür ist, wie gestresst ich bin. Zum Ausgleich sorge ich zu Hause oft für Stille.

Eine Teilnehmerin setzt sich vor dem Kursraum neben mich auf eine Bank. Ich fühle meinen Drang, irgendetwas zu sagen oder zu fragen. Doch ich wage es, ruhig zu bleiben. Ich würde einfach irgendetwas von mir geben, um meine eigene Unruhe in dieser Situation abzubauen. Es ist unheimlich, einfach so miteinander still zu sein. Ich fange an, bewusst zu atmen, und beruhige mich. Auf einmal kann ich die andere Person viel intensiver wahrnehmen. Auch meine Freude, mit ihr diesen Augenblick ganz still zu teilen.

Wir können den Lärm um uns nicht komplett beeinflussen. Über den in uns können wir selbst bestimmen. Auch wenn wir uns aufregen, ängstlich oder unter Druck sind, uns viele Gedanken zu schaffen machen, können wir parallel die Stille wahrnehmen. Genau das werde ich mit in den Alltag nehmen. Nein, ich habe keine überraschenden Bucheinsichten. Und ja, mir ist es manchmal schwergefallen, mich nicht zu rechtfertigen, warum ich nicht grüße oder nicht an Veranstaltungen teilgenommen habe, die mir zu laut waren. Doch ich habe mich so tief erholt wie selten und werde die Stille zu Hause in Dresden öfter einladen und auf sie hören.

Dr. Ilona Bürgel ist Diplom-Psychologin und in Dresden u. a. als Coach und Autorin tätig. Sie schreibt regelmäßig als Kolumnistin für die Sächsische Zeitung.