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Letzte Zuckungen: Erdbebenforscher spüren den Dresdner Brückenkollaps

Das Seismologische Observatorium Berggießhübel hat den Einsturz der Carolabrücke registriert. Ein "Volksseismometer" war aber näher dran.

Von Jörg Stock
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Unglückswellen: Diese Zickzack-Kurve erzählt den Zusammenbruch der Carolabrücke. Aufgezeichnet hat sie das Seismometer am St. Benno-Gymnasium.
Unglückswellen: Diese Zickzack-Kurve erzählt den Zusammenbruch der Carolabrücke. Aufgezeichnet hat sie das Seismometer am St. Benno-Gymnasium. © Matthias Rietschel

In den meisten Fällen läuft es so: Erst bebt die Erde, dann stürzt die Brücke ein. Im Fall der Dresdner Carolabrücke war es umgekehrt. Als am frühen Morgen des 11. September ein hundert Meter langes Stück der Querung in die Elbe sackte, erzitterte die Erde, mit Magnitude 0,4. Die Stöße sind vergleichbar mit schwachen Erdbeben, wie man sie aus dem Vogtland kennt, sagt der Geophysiker Olaf Hellwig. "In der unmittelbaren Umgebung wird man das gespürt haben."

Selbst gespürt hat der Wissenschaftler der TU Bergakademie Freiberg das Unglück nicht. Sein Seismologisches Observatorium hingegen schon. Das hochsensible Seismometer steht in Berggießhübels Hildebrandt-Stolln, einer Eisenmine aus dem 19. Jahrhundert. Direkt an den Fels angebunden, ohne störendes Rauschen von Industrie, Verkehr und Meeresbrandung, gilt das Messgerät als eins der feinfühligsten in ganz Deutschland.

Geophysiker Olaf Hellwig am Eingang zum Seismologischen Observatorium in Berggießhübel. Selbst hier wurde der Brückeneinsturz in Dresden registriert.
Geophysiker Olaf Hellwig am Eingang zum Seismologischen Observatorium in Berggießhübel. Selbst hier wurde der Brückeneinsturz in Dresden registriert. © Egbert Kamprath

Das Observatorium registriert im Jahreslauf acht- bis zwölftausend seismologische Vorkommnisse, etwa dreißig pro Tag. Die bislang stärkste Erschütterung dieses Jahr war das Noto-Erdbeben in Japan am 1. Januar mit einer Magnitude von 7,5. Gegen diesen Wert ist der Carolabrückenkollaps praktisch unsichtbar. Nur mit Mühe hat Olaf Hellwig die Wellen erkannt, die etwa zehn Sekunden nach dem Rums an der Elbe im Hildebrandt-Stolln eintrafen.

Ein Fühler an vorderster Front

Die schwingenden Linien hätten ihm angezeigt, dass etwas passiert ist, Richtung Nordnordwest. Aber wo genau, hätte er nicht herausbekommen. Es wären zu wenige Wellen gewesen, um den Herd des Bebens auszumachen. Gefunden hätte ihn der Wissenschaftler trotzdem, auch ohne Blick in die Nachrichten, weil das Observatorium eine Außenstelle quasi an vorderster Front hat. Das Seismometer im Dresdner St. Benno-Gymnasium ist nur rund einen Kilometer von der Brücke entfernt. Um 2 Uhr 58 Minuten und 21 Sekunden begann das Gerät, die ganze Tragödie aufzuzeichnen.

Ein solches Raspberry-Shake-Seismometer für den Hobby-Gebrauch hat im St. Benno-Gymnasium den Brückeneinsturz am besten erfasst.
Ein solches Raspberry-Shake-Seismometer für den Hobby-Gebrauch hat im St. Benno-Gymnasium den Brückeneinsturz am besten erfasst. © Matthias Rietschel

Das ist, bei aller Tragik, ein Glücksumstand für die Erdbebenforscher der Bergakademie. "Es war Zufall, dass wir gerade dieses Schulprojekt laufen haben", sagt Olaf Hellwig. Glück auch, dass es gerade Nacht war und kein Rummel im Schulhaus. So fallen die Zickzack-Spuren auf der Zeitachse direkt ins Auge. "Tagsüber hätten wir die Signale gar nicht erkannt."

Seit etwa einem Jahr ist Hellwigs Institut für Geophysik und Geoinformatik damit beschäftigt, Mini-Seismometer an sächsischen Schulen aufzustellen. Das soll helfen, sagt Hellwig, die Schüler für Naturwissenschaften zu begeistern. Die Geräte mit einer Grundfläche, die kaum größer als eine Postkarte ist, stehen in Schulfluren, Klassenzimmern oder Kellerräumen. Via Monitor oder Handy-App werden die gemessenen Erschütterungen angezeigt. "Man sieht in Echtzeit: Da tut sich was."

Das Raspberry-Shake-Netzwerk auf dem Computerschirm. Die Stationen liefern Daten über Erschütterungen in Echtzeit, die jeder einsehen kann.
Das Raspberry-Shake-Netzwerk auf dem Computerschirm. Die Stationen liefern Daten über Erschütterungen in Echtzeit, die jeder einsehen kann. © Matthias Rietschel

Die Messgeräte gehören zu einem weltweiten Netzwerk, das "Raspberry Shake" heißt. Es wird von einem Unternehmen aus Panama betrieben. Die Firma hat sich die Demokratisierung der Erdbebenbeobachtung vorgenommen und dafür ein einfaches Messgerät entwickelt, gewissermaßen ein Volksseismometer, das jeder benutzen kann. Die günstigsten Varianten kosten weniger als zweihundert US-Dollar.

Mittlerweile besitzt das Netzwerk mehr als zweieinhalb Tausend Stationen. Gut zwanzig stehen in Sachsen. Die allermeisten hat die Bergakademie installiert. Und es werden mehr. Die Schulen haben großes Interesse an einem eigenen Seismometer, sagt Olaf Hellwig. Das Thema lasse sich wunderbar in Physik und Geografie einbauen. "Und wenn es ruhig ist, gibt es gute Chancen, weltweit Erdbeben aufzuzeichnen."

Am frühen 13. September werden zwei Segmente der Carolabrücke kontrolliert zu Fall gebracht. Die Schulseismometer haben auch diese Erschütterungen erfasst.
Am frühen 13. September werden zwei Segmente der Carolabrücke kontrolliert zu Fall gebracht. Die Schulseismometer haben auch diese Erschütterungen erfasst. © René Meinig

Oder eben den Brückeneinsturz vor der Haustür. Das Mini-Seismometer am St. Benno-Gymnasium stand so nahe am Ereignis, dass es verschiedene Typen von Wellen auffangen konnte, Wellen, die am Profi-Gerät in Berggießhübel schon gar nicht mehr ankamen, weil es zu weit weg ist. Die Daten des Benno-Geräts belegen nicht nur den genauen Zeitpunkt des Unglücks und die Stärke der Erschütterung. Auch der Ursprungsort des Ereignisses lässt sich damit berechnen.

Abriss schlägt noch stärkere Wellen

Es waren nicht die letzten Zuckungen der Carolabrücke, die das Hobby-Seismometer-Netz von Raspberry Shake mitgeschnitten hat. Am frühen 13. September, fast auf die Minute genau zwei Tage nach dem Teilzusammenbruch, langten erneut Stöße vom Unglücksort ein. Abrissbagger hatten beschädigte Brückensegmente kontrolliert zu Fall gebracht.

Wieder war St. Benno lagebedingt am hellhörigsten. Um 2 Uhr 47 Minuten und 16 Sekunden sackte das Brückensegment am Neustädter Ufer zusammen, das nächste folgte um 2 Uhr 52 Minuten und 41 Sekunden. Die Magnitude im zweiten Fall lag bei 0,8. Damit war der Aufschlag noch deutlich heftiger, als der eigentliche Kollaps. Er wurde auch von anderen Raspberry-Shake-Stationen erfasst, unter anderem am Humboldt-Gymnasium in Radeberg und am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Nossen.

Der weiße Styroporwürfel enthält das Profi-Seismometer des Observatoriums. Leiter Olaf Hellwig befürchtet, dass Windräder den Apparat künftig blind machen.
Der weiße Styroporwürfel enthält das Profi-Seismometer des Observatoriums. Leiter Olaf Hellwig befürchtet, dass Windräder den Apparat künftig blind machen. © Matthias Rietschel

Bei Geophysiker Olaf Hellwig stehen schon weitere Einweihungen schulischer Erdbebenwarten im Kalender. So wird er im Oktober ein Messgerät in Altenberg installieren und im Dezember eins in Dippoldiswalde. Um sein eigenes Observatorium macht er sich hingegen Sorgen. Die Ruhe im Hildebrandt-Stolln ist in Gefahr.

Die Gefahr geht von sieben Windenergieanlagen aus, die im nahen "Windfeld Börnersdorf" östlich der A17 in den Osterzgebirgshimmel wachsen sollen. Der Bebauungsplan ist bereits beschlossen. Olaf Hellwig erwartet, dass Wind und Rotorenbewegungen die Türme schwingen lassen, und dass diese Schwingungen über die Fundamente in den Boden gelangen, wo sie das Grundrauschen deutlich verstärken. Das Observatorium, so schätzt er, würde praktisch blind.

Freilich: Die großen Beben würde der Sensor im Berg immer noch gut erkennen. Aber eben nicht die kleinen. Die sind aber wichtig fürs Gesamtbild, sagt Olaf Hellwig, für die Risiko-Abschätzung. Nur wer die Erdbeben möglichst vollständig erfasse, könne Vorhersagen darüber treffen, was an stärkeren Beben zu erwarten sei. "Wenn da ein Teil wegfällt, wäre das schlimm."