Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
SZ + Feuilleton

Wurde Deutschland beim ESC von Europa wirklich "verarscht"?

Tatsächlich erhielt die Band Lord of the Lost von keinem Land eine Wertung, die ihren letzten Platz rechtfertigen würde. Der Fehler liegt auch im kruden Punktesystem.

Von Oliver Reinhard
 3 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Leider Loser: Chris Harms von der Band Lord Of The Lost beim Finale des ESC.
Leider Loser: Chris Harms von der Band Lord Of The Lost beim Finale des ESC. © dpa

Werden wir "vom Rest Europas ... verarscht, was die Bewertung beim ESC betrifft?" Das zumindest vermutete Show-Dino Thomas Gottschalk, nachdem zum zweiten Mal in Folge der deutsche Beitrag für den Eurovision Song Contest am Wochenende auf dem 26. und letzten Platz landete. Ob Gottschalks Vermutung "die (Europa, d. Red.) mögen uns (Deutschland, d. Red.) nicht" stimmt, sei einmal dahingestellt. Jedenfalls waren die Empörung über das tragische Abschneiden der Band Lord Of The Lost mit "Blood and Glitter" sowie der kollektive Katzenjammer wieder groß.

Ebenso groß ist nun der Ruf nach dringenden Reformen beim Prozedere der nationalen Kandidatenauswahl. Wie immer, wenn "wir" weit oder ganz hinten landen, was "wir" leider regelmäßig tun. Es liegt freilich nicht nur, aber auch am komplizierten und letztlich ungerechten Wertungssystem beim ESC, dass selbst immerhin mittelmäßige Acts aufs Härteste benachteiligt werden.

Wer mittelgut ankommt, erhält trotzdem null Punkte

Denn die Regularien sehen vor, dass jedes Land einem Teilnehmer bis zu 24 Punkte geben kann – zwölf durch die Jury, zwölf durch die Zuschauer. Allerdings werden nicht zwölfmal Punkte vergeben, sondern nur zehnmal: Die Punktezahlen 9 und 11 fallen weg. Mit einem bizarren potenziellen Ergebnis: Ein Land, das eigentlich auf den elften Platz käme, bekommt genauso wie der Letztplatzierte null Punkte. Theoretisch hätten Lord Of The Lost also von 20 Landern auf Platz 11 gewählt werden können; sie hätten trotzdem null Punkte bekommen.

Eben das ist zumindest ein Teilgrund dafür, dass die Glamrocker am Schluss landeten – obwohl kein einziges Land sie auch auf den letzten Platz gewählt hat: Am meisten erhielten LOL von Österreich (6 Punkte = Platz 5) und Finnland (5 Punkte = Platz 6). Viele wählten sie auf die Plätze 14 bis 18. Am tiefsten wurde die Band von Belgien eingestuft, auf Platz 23.

Pathos im Monster-Solarium: Schwedens ESC-Gewinnerin Loreen.
Pathos im Monster-Solarium: Schwedens ESC-Gewinnerin Loreen. © Vesa Moilanen/Lehtikuva/dpa

2023 war Mainstreampop-Pathos angesagter als Krach

Da meist einige wenige Länder – 2023 vor allem Schweden, Israel, Italien, Finnland – von den allermeisten Länderjurys besonders viele Punkte bekommen haben, war auch die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Rest der Finalisten mit sehr wenigen Punkten am Ende dasteht. Zusammengefasst im Klartext: "Wir" wurden letzte, obwohl viele Menschen aus vielen Ländern für "uns" gevotet haben. Und kein Auftritts-Video auf dem Eurovisionskanal häufiger geklickt wurde als das von Lord Of The Lost.

Es gibt also keinen Grund für das jammerlappige "Buhuuu, Europa mag uns Deutsche nicht". Vielmehr stand Europa in diesem Jahr nicht auf krachigere Songs wie den deutschen. Sondern – abgesehen vom finnischen Elektrovogel Käärijä – auf das rausgekrähte Mainstreampop-Pathos von Loreen, Nora Kirel und Marco Mengoni.

Bei Marco Mengonis Ausflug in höchste Stimmhöhen wurde Milch zu Butter und umgekehrt.
Bei Marco Mengonis Ausflug in höchste Stimmhöhen wurde Milch zu Butter und umgekehrt. © dpa

"Verarscht" haben "wir" uns vor allem selber

Loreen profitierte übrigens von der umgekehrten Wirkung des Punktevergabesystems: In keinem einzigen Land landete die Schwedin beim Publikumsvoting auf dem Spitzenplatz, und trotzdem sieht es nun so aus, als würde ganz Europa Loreen und Schweden lieben. Was natürlich trotzdem stimmen kann, aber eben nicht durch das ESC-Ergebnis bewiesen wird.

Kritik wird aber vor allem im Inland laut. "Wir hatten im Auswahlverfahren auf die Ausweitung der musikalischen Genres gesetzt", ließ unter schwerem Beschuss der verantwortliche NDR verlauten. "Der Diskussion und Überlegung, warum sich auch dieser Titel beim ESC nicht verfangen hat, müssen und werden wir uns jetzt stellen." Die Diskussion müssten indes vor allem "wir" mit uns selbst führen: Die NDR-Jurys hatten die Lords Of The Lost beim Vorentscheid nur auf Platz 5 gewählt. Es waren "wir" als Publikum, die sie dann auf Platz 1 setzten und zum ESC-Finale schickten. "Verarscht" haben wir uns also vor allem selber.