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Ein Freund feinster Falter

Thomas Keil erforscht zarte Widderchen und erhielt den Oscar der Insektenkundler für ein ganz besonderes Werk.

Von Karin Großmann
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Mit rund 80.000 Exemplaren hat Thomas Keil weltweit eine der größten Sammlungen von Widderchen in seinem Haus am Dresdner Heiderand zusammengetragen.
Mit rund 80.000 Exemplaren hat Thomas Keil weltweit eine der größten Sammlungen von Widderchen in seinem Haus am Dresdner Heiderand zusammengetragen. © Matthias Rietschel

Auf den ersten Blick sieht eins aus wie’s andere. Die kleinen Falter stecken in Holzkästen unter Glas, sie haben zarte Flügel, schwarz mit roten Flecken, und es sind viele Kästen. Man kommt sich vor wie beim Rätselraten von Zeitschriften, die zwei Fotos nebeneinander drucken mit der Aufforderung: Finde die Unterschiede! Thomas Keil würde das Rätsel sofort lösen. Auf Unterschiede ist er spezialisiert. Allerdings fehlt ihm die Muße für Zeitschriften. Sein Tag ist mit Blutströpfchen ausgefüllt. Sie heißen auch Widderchen. Manche besitzen gedrehte Fühler, die den Hörnern von Schafböcken ähneln. Es gibt sie nicht nur rot gefleckt, sondern in Grün, Gelb, Grau oder Metallicblau. Falls es sie gibt. Weltweit sind rund tausend Arten unterwegs, in Sachsen zwölf, darunter drei grüne. Im November leider keine.

Das ist die Geschichte einer besonderen Besessenheit. Ohne Besessenheit würde es nicht gehen. „Das muss wachsen“, sagt Thomas Keil, 64, ein Graubart mit kräftiger Statur und dunklen Augen. Er beschreibt dieses Wachsen in drei Stufen: Kinder und Jugendliche begeistern sich zunächst für Zitronenfalter und Tagpfauenauge, lernen dann Spinner und andere Nachtfalter kennen und spezialisieren sich schließlich. „Denn das Leben ist endlich und reicht nicht aus, um alle Arten umfassend zu erkunden.“ Gerade die Welt der Insekten bietet etliche weiße Flecke. „Wer sich spezialisieren will, sucht sich eine Tierart, über die noch wenig bekannt ist.“ Manche Forscher befassen sich ausschließlich mit Ohrwürmern, Wanzen, Weberknechten oder der Gemeinen Eichenschrecke. Thomas Keil traf seine Wahl schon Anfang der Achtzigerjahre. „Ich habe mich reingelebt in diese Gruppe“, sagt er. „Und diese Schmetterlinge sind einem dann besonders ans Herz gewachsen.“ Jedenfalls sehen sie hübscher aus als Ohrwürmer.

Artenschutzprojekte, die nichts nützen

Als der Widderchen-Experte im Iran seine erste bis dahin unbekannte Art entdeckte, benannte er sie nach seiner Frau Christine. Sie reist mit ihm gern, fotografiert und erfreut sich wie er an den fliegenden Edelsteinen. Die Falter dieser Art glänzen fein kupferfarben. „Da hab’ ich bisschen Glück gehabt“, sagt sie lächelnd.

Keils Kompetenz ist weit über Sachsen hinaus bekannt. Wissenschaftler bitten ihn um Hilfe beim Bestimmen. Wenn er ein Blutströpfchen schweben sieht, erkennt er am Flugbild nicht nur die Art, sondern auch, ob es ein Männchen ist oder ein Weibchen. Auf Blättern entdeckt er Eier, die einen Viertelmillimeter groß sind. Solche Funde werden hierzulande immer seltener. Thomas Keil erzählt von einem Wiesenhang zwischen Meißen und Lommatzsch, wo er Widderchen seit dreißig Jahren beobachtet. „Heute existieren dort nur noch fünf Prozent des einstigen Vorkommens.“ Von Raps- und Maisfeldern sickern Gifte ein. In solchen Fällen nützen Artenschutzprojekte gar nicht. Mit dem Begriff hadert Keil sowieso: „Man muss zuerst und vor allem die Naturräume schützen, in denen die Arten leben.“ Wenn Vereine zum Zählen von Schmetterlingen aufrufen oder zur Pflege von Schmetterlingswiesen, hält er das für Augenwischerei: „Opium für das Volk“, sagt er. „Das Problem des Insektensterbens wird so nicht gelöst.“ Weniger Widderchen in Sachsen heißt: weniger Insektenarten insgesamt, und das hat Folgen für andere Organismen. Widderchen zeigen den Zustand der Natur an: „Katastrophal“, sagt Keil.

Finde die Unterschiede: Insektenkundler erkennen beim genaueren Hinsehen, dass kein Blutströpfchen dem anderen gleicht.
Finde die Unterschiede: Insektenkundler erkennen beim genaueren Hinsehen, dass kein Blutströpfchen dem anderen gleicht. © Matthias Rietschel

Diese Falter leben an einem begrenzten Ort. Für lange Flugstrecken sind sie zu zart. Wird der Ort unbewohnbar, gehen sie ein. Dann bezeugen zumindest die Kästen die unglaubliche Pracht. Mit rund 80.000 Exemplaren dürfte es weltweit eine der größten Sammlungen dieser Unterfamilie der Nachtfalter sein, die das Haus am Dresdner Heiderand beherbergt. Auf einem Bücherschrank liegt ein Löwenkopf. Thomas Keil erzählt, dass er ihn von seinem Biologielehrer geschenkt bekam, als das Naturalienkabinett der Schule in Dresden-Trachau aufgelöst wurde. Sein Interesse für Tiere hatte sich herumgesprochen. Er kümmerte sich um Aquarien und besuchte den Jugendklub Zoologie beim Dresdner Tierkundemuseum. Sie waren dort fünfzig Jungen und befassten sich vor allem mit Käfern. Insekten sind Männersache. Ausnahmefrauen wie Christine Keil bestätigen nur die Regel.

Dabei kann doch jeder beim genaueren Hinsehen erkennen, dass kein Blutströpfchen dem anderen gleicht. Auf den Oberseiten der Vorderflügel zeigen sich fünf oder sechs Flecke, rund oder länglich, deutlich abgegrenzt oder zerfließend. Auch der Abstand dazwischen variiert. Manche Exemplare, erklärt Thomas Keil, lassen sich nur anhand der Genitalapparate exakt bestimmen. Unterm Mikroskop präpariert er sie heraus. So öffnet sich eine Welt.

Thomas Keil und seine Frau Christine nehmen das wörtlich. In der DDR-Zeit bereisten sie die eine Hälfte der Welt, forschten nach Faltern im Kaukasus und in Kasachstan. Nach dem politischen Umbruch folgten Malaysia, Marokko, Madagaskar, Nordamerika – und immer wieder der Iran, an die vierzigmal. Sie sind damit noch nicht fertig. „Der Iran ist ein Hotspot für Widderchen“, sagt Thomas Keil mit hörbarer Begeisterung. „Dort nennt man sie Königstöchter.“ Sie leben in vornehmlich trockenen und warmen Gebieten.

Ein tödliches Gift

Fotos zeigen ihn mit Schmetterlingsnetz im Gebirge. Viel wächst da nicht, doch für Königstöchter genau das Richtige. Die Erforschung von Lebensräumen und Futterpflanzen gehört für Keil genauso dazu wie die Beobachtung von Ei, Raupe und Puppe. Selbst Experten können noch staunen über den sagenhaften Aufwand, den die Natur mit solcher Verwandlung betreibt – und das alles für ein kurzes Vergnügen. Manche Schmetterlinge leben nur wenige Tage, Widderchen etwa zwei Wochen lang. Effektivität sieht anders aus. Aber Effektivität ist kein Wert, wenn es um Schönheit und Vielfalt geht oder um den Einfallsreichtum bei der Verteidigung. Viele der zierlichen Falter signalisieren mit ihrer Farbe, ungenießbar zu sein. Außerdem können sie ein tödliches Gift produzieren: Blausäure. „Ein Vogel, der einmal ein Widderchen im Schnabel hatte, wird das nie wieder tun.“

Kürzlich hat Thomas Keil in einer Fachzeitung fünf für die Wissenschaft bisher unbekannte Widderchen-Arten aus dem Iran vorgestellt. Eine weitere Art, bisher nur aus Turkmenistan bekannt, galt seit 130 Jahren als verschollen. Wenn er die Fundorte beschreibt, denkt er nicht nur an Biologie. Er denkt die Politik mit. Das heutige Bild vom Iran, meint er, ist mit vielen Klischees behaftet. Die Ursache sieht er in einer unzureichenden und oft einseitigen Informationspolitik über das Land mit seinen reichen Naturräumen und Kulturschätzen. Auf den zahlreichen Reisen begegnete ihm vor allem eines: eine tief verwurzelte Herzlichkeit und Gastfreundschaft. „Die Begegnungen mit Menschen aus den unterschiedlichsten Völkergruppen waren stets geprägt von Höflichkeit, Freundlichkeit und Stolz auf die eigene Heimat, von einer oftmals unerwarteten Neugier gegenüber dem Fremden. Mit den Jahren entstanden Freundschaften, die unser Leben bereichern.“

Den Oscar der deutschen Insektenforscher erhalten

Das bezeugen die Publikationen, die nach diesen Reisen entstanden. Keils Lebenswerk heißt „Die Widderchen des Iran“. Der Dresdner Käferexperte Bernhard Klausnitzer nennt es in einem Atemzug mit der 36-zeiligen Gutenberg-Bibel und dem Kompendium über surinamische Insekten aus der Feder der Naturforscherin Maria Sibylla Merian. Auf knapp 500 Seiten werden 67 Widderchen-Arten ausführlich vorgestellt, im Foto und dreifach vergrößert in Aquarellmalerei. Kunst und Wissenschaft verbinden sich wunderbar. Neben dem deutschen Text steht die persische Übersetzung. So etwas finanziert kein Verlag der Welt. Nur ein besessener Dresdner. Man kann es Enthusiasmus nennen, Leidenschaft, Perfektionismus. Auch Dankbarkeit für die Gastfreundschaft. Keil schenkte einige Exemplare an iranische Universitäten und Bibliotheken.

Vor fünf Jahren erhielt Thomas Keil für dieses Buch den Oscar der deutschen Insektenforscher, die Fabricius-Medaille. Das Buch sei eine „Einmaligkeit der entomologischen Literatur“, heißt es in der Begründung. Hervorgehoben wird das „völkerverbindende Engagement“. Mit der Medaille werden gestandene Wissenschaftler geehrt. Laien höchst selten. Das Wort wäre eine Beleidigung für Thomas Keil, wenngleich er aus einem anderen Beruf kommt. Er arbeitete in der medizinischen Verwaltung, beendete 1990 knapp vor Toresschluss das Studium der Ökonomie des Gesundheitswesens und gründete mit seiner Frau eine eigene Firma. Sie vertrieben „beratungsintensive Medizinprodukte“. Das Unternehmen entwickelte sich und beschäftigte bis zu 150 Mitarbeiter.

Thomas Keil sagt, dass ihm gleichberechtigte Mitsprache immer wichtig war – wie er es in den Arbeitsgemeinschaften der Insektenforscher gelernt hat. „Dort ist es möglich, als 18-Jähriger mit einem Professor auf Augenhöhe zu reden, denn gleiche Interessen verbinden. Entomologische Forschung wird seit 200 Jahren betrieben, 90 Prozent der Erkenntnisse stammen von Freizeitforschern.“ Er selbst leitet die Fachgruppe Entomologie in Dresden.

Ein Käfer namens Thomas Keil

Für mehr Freizeit wurde die Medizin-Firma verkauft. Thomas Keil arbeitet an einem Ergänzungsband zu seinem Lebenswerk. Er entdeckt immer noch neue Blutströpfchen und Grünwidderchen. Vollständigkeit ist das Ziel jedes Sammlers. Die Schränke für die Sammlung baute ein Tischler nach Maß. Die Holzkästen lassen sich leicht herausziehen. Unterwegs auf Schmetterlingspirsch trägt Keil ein Lederband um den Hals mit einer kleinen Ampulle. In die Nikotinlösung taucht er die Insektennadeln. Nun stecken die Widderchen dicht beieinander, ein faszinierendes exotisches Muster. Einige Hundert hat er an ein Münchner Genetik-Labor geschickt, um mehr über Verwandtschaft und Abstammung zu erfahren. Nur was man genau kennt, kann man gut schützen.

Neben dem Schrank hängt die Urkunde zur Fabricius-Medaille. Eine zweite Urkunde bestätigt, dass ein Käfer nach Thomas Keil benannt wurde. Auch eine Fliegenart, zwei Schmetterlingsarten und eine Schmetterlingsgattung tragen seinen Namen – eine Verbeugung von Kollegen. Einer baut auf Kenntnissen des anderen auf. In den Bücherschränken stehen nicht nur eigene Publikationen, sondern auch die von Mitstreitern und Vorgängern. Jeder Reisende braucht ein solches Basislager. Der Name erübrigt sich im Eingang des Hauses. Das Fußbodenmosaik zeigt ein Widderchen. Es fliegt hinein.

Lesen Sie am Freitag in unserer Serie „Natur-Versteher“ über einen Baumprofessor aus Tharandt.